Sonntag, 21. Juli 2013

Kettcar, Karlsruhe, 19.07.2013


Konzert:Kettcar
Ort:Günther-Klotz-Anlage, Karlsruhe (Das Fest)
Datum:19.07.2013
Dauer:73 Minuten
Zuschauer: tausende




Mit Kettcar wurde ich lange nicht richtig warm, ich hielt die Texte für Befindlichkeitskitsch, ohne mich eingehend damit auseinanderzusetzen. Mochte die Ausstrahlung Marcus Wiebuschs nicht und überhaupt erschien mir die ganze Band zu farblos. Bis ich feststellte, dass ich falsch liege, dauerte es Jahre. Umso offener, gebe ich meinen Irrtum heute zu und sage gleich zu Beginn, dass mir Kettcar in der angekündigten Bandpause sehr fehlen werden. 
An Gelegenheiten, die Hamburger Band um die Grand Hotel van Cleef – Gründer Marcus Wiebusch (Gitarre und Gesang) und Reimer Bustorff (Bass) zu sehen, mangelte es in der Vergangenheit freilich nicht, dennoch verpasste ich Kettcar immer wieder, sodass ich mir den Auftritt beim Fest in Karlsruhe fest im Kalender markierte. 


Nach dem Auftritt Triggerfingers stehen Bustorff, Wiebusch, sein Bruder Lars (Keyboards), Erik Langer (Gitarre) und Christian Hake (Schlagzeug) dem dicht besetzten Hügel in der Günther-Klotz-Anlage gegenüber, „Die Deiche brechen richtig oder eben nicht, Kettcar, Hamburg!“, als Charismatiker ist Marcus Wiebusch sicherlich nicht bekannt, dennoch ist „Deiche“ zu Beginn die perfekte Wahl. 

Cool wollten Kettcar nie sein, der Schwerpunkt soll auf der Musik und den Texten liegen, nicht auf einer Haltung, chicen Frisuren oder Posen. Die Songs sprechen für sich, da ist es ganz egal, dass die Setlist selten variiert wird, Marcus Wiebuschs Ansagen fast immer die gleichen sind. Wer mit dem Triumvirat aus „Deiche“, „Kein Außen mehr“ und „Graceland“ ein Konzert eröffnen kann, weiß, wie man das Publikum auch auf einem Festival für sich gewinnt. „Lieber peinlich als authentisch / Authentisch war schon Hitler / Jetzt wollt ihr wieder Klarheit / So was wie ne Wahrheit / Eine Coca-Cola Wahrheit“, „Kein Außen mehr“ vom 2008er Album „Sylt“ wird um mich herum tatsächlich textsicher mitgesungen. Die Fangemeinde folgt auch auf die Festivals, weiß, was sie an der Band hat. Ohnehin sei das Verhältnis zu Karlsruhe ein besonderes, merkt Marcus Wiebusch mit sonorer Stimme an; „Es ist unser neuntes Konzert hier. Nirgends haben wir häufiger gespielt, außer in Hamburg“.

Kurze Schilderungen zur Entstehung und dem Inhalt einzelner Lieder gehören bei der Formation aus dem Umfeld der Hamburger Schule, zu der sie keinesfalls gezählt werden möchte,  zu den Konzerten genauso dazu, wie der begrenzte Bewegungsradius Marcus Wiebuschs. Immer ein wenig tapsig hinter dem Mikrophon stehend, leicht gebückt, scheinbar riesengroß wirkte er in Videos immer wie der der unsichere Bruder Carsten Friedrichs ohne Ausstrahlung. In Karlsruhe erkenne ich, dass ich auch hier falsch liege. Wiebusch hat ein eigenes Charisma, eine sanftmütige Ausstrahlung, die seine außerordentlich guten Texte nur zusätzlich betonen. Die Haare sind grauer geworden, wie Dirk von Lowtzow stehen sie ihm gut, die hellen Strähnen.
 Manchmal entstünden Songs aus Kleinigkeiten wie dem Bild leerer Flaschen auf dem Balkon, kündigt er „Balkon gegenüber“. Die subtile Alltagsbeobachtung des Hamburgs ist ergreifend, während seine Mitmusiker das Phänomen Kettcar mit ihrem Spiel entschlüsseln: Lars Wiebusch und Reimer Bustorff singen immer wieder mit, Burstorff hat den größten Bewegungsdrang in der Gruppe, pendelt vor und zurück. 
Festival bedingt gemischt ist das Publikum, im Vorfeld machte ich mir Gedanken, wie Kettcar wohl bei den Leuten ankommen werden, die nur wegen den Sportfreunden Stiller hier sind und diese für die lyrische Perfektion deutscher Popmusik halten. 


Neben zahlreichen Kettcar-Fans ist die Menschenmenge durchsetzt von gelangweilten und genervten Gesichtern. Als Wiebusch nach dem wundervollen „48 Stunden“ als nächsten Song „Der apokalyptische Reiter und das besorgte Pferd“ vom aktuellen Album „Zwischen den Runden“ ankündigt, wir das neben mir höhnisch lachend kommentiert: „Ich kenn' eine geile Band die apokalyptischen Reiter. Dagegen ist das hier der größte Scheiß!“ Genau deswegen nerven mich große Festivals immer wieder.  
Doch auch Leute, die man auf den ersten Blick nicht für Sympathisanten der Band oder gar Fans halten würde, tanzen zu den Songs der Hamburger. Als erster Höhepunkt des Sets angekündigt, folgt mein liebster Kettcar Song „Balu“, der in seiner ruhigen Feinfühligkeit, prägnanten Wortwahl und der grandiosen Schlussstrophe „Vergiss Romeo und Julia / Wann gibt's Abendbrot? / Willst du wirklich tauschen / Am Ende waren sie tot / Ich werd immer für dich da sein, / Bist du dabei? / In dem Gefühl wir wären zwei“ meines Erachtens zu den schönsten Liebesliedern deutscher Sprache zählt und der glänzende Moment des großartigen „Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen“, auf dem auch Ben Schadow Bass spielt, ist – und das obwohl es Perlen wie „Deiche“ oder „Bill Gates, Stockhausen und ich“ enthält, das mir auch heute in der geradlinigen Liveversion sehr zusagt. 

Wahre Liebe zeichne sich durch das, was man tue, nicht allein durch das, was man fühle aus, erklärt Wiebusch fast lehrerhaft als Ankündigung von „Rettung“, einem ungeschönten Liebeslied mit angedeuteten Erbrechen und physischen Abgründen, die letztlich egal sind.
Je näher das Ende des Konzerts rückt, desto deutlicher spürt man, wie sehr, wir Kettcar als eine der besten deutschen Indie-Pop-Bands des vergangenen Jahrzehnts schätzen müssen und vermissen werden. Seit der Veröffentlichung des wichtigen Debütalbums mit dem grammatikalisch fragwürdigen Titel „Du und wieviel von deinen Freunden“ ist Kettcar ein fester Platz in der Szene sicher. Songs wie „Ausgetrunken“, „Im Taxi weinen“ oder das ziemlich hart gespielte „Ich danke der Academy“ funktionieren heute noch genauso gut wie 2001, sodass große Teile der Karlsruher Zuschauerschaft mit hochgerissenen Armen tanzen und mitsingen: „Ich danke der Academy für das Erkennen von Talent!“ und „Solange die dicke Frau noch singt, ist die Oper nicht zu Ende.“ Zum Abschluss folgen zwei Hamburg Songs; „Schrilles, buntes Hamburg“ mit dem mahnenden Mantra „Es muss immer alles komplett verwertet werden, / was komplett verwertet werden kann.“ bevor „Landungsbrücken raus“, der Song mit dem die Geschichte der Band Kettcar in der allgemeinen Wahrnehmung begann, den beeindruckenden Schlusspunkt eines tollen Konzerts setzt. 


Man wünscht Marcus Wiebusch Glück für seine angekündigte Solokarriere, während er die vertrauten Zeilen singt: „An den Landungsbrücken raus / Dieses Bild verdient Applaus“. Der Mann hat ja doch Ausstrahlung. Wirklich. "Der Name dieser Band ist Kettcar.", wir werden es nicht vergessen. 
Apropos Applaus, kurz darauf stehen Sportfreunde Stiller auf der Bühne, die ihre Single „Applaus, Applaus“ spielen, nachdem sie ihr Konzert mit der Zeile „Hey, hey, my, my, Selbstkritik will never die“ eröffneten. 
Morgen sehe ich Neil Young mit Crazy Horse in Stuttgart. Möge die Macht ohrenbetäubender Feedbackorgien, diesen bayrischen, den stümperhaftesten Versuch einer Hommage an ihn, den großen, alten Mann aus den kanadischen Bergen, aus meinen Gedächtnis tilgen. Am Besten für immer.



Setlist Kettcar, Karlsruhe:

01: Deiche
02: Kein Außen mehr
03: Graceland
04: Balkon gegenüber
05: 48 Stunden
06: Der apokalyptische Reiter und das besorgte Pferd
07: Balu
08: Money left to burn
09: Stockhausen, Bill Gates und ich
10: Rettung
11: R.I.P.
12: Ausgetrunken
13: Im Taxi weinen
14: Im Club
15: Ich danke der Academy
16: Schrilles, buntes Hamburg
17: Landungsbrücken raus


Links:
- aus unserem Archiv:
- Kettcar, Köln, 17.08.2012  
- Kettcar, Scheeßel, 24.06.2012
- Kettcar, Neu-Isenburg, 25.02.2012
- Kettcar, Bielefeld, 12.12.2010
- Kettcar, Hohenfelden, 16.08.2008
- Kettcar, Köln, 09.05.2008
- Sportfreunde Stiller, Köln, 12.12.2009
- Sportfreunde Stiller, Köln, 19.09.2007


Tourdaten Kettcar:

22.07.2013 A - Dornbirn, Conrad Sohm
03.08.2013 Stade, Müssen alle mit Festival
08.08.2013 Nürnberg, Serenadenhof
09.08.2013 CH - Basel, Open Air Basel
10.08.2013 Haldern, Haldern Pop Festival
27.09.2013 Hamburg, Reeperbahnfestival
28.09.2013 Berlin, Berlin Independent Night

 

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