Donnerstag, 4. Juli 2013

Dinosaur Jr., Schorndorf, 03.07.2013

Konzert: Dinosaur Jr.
Vorband: Wild Style Lion
Ort: Club Manufaktur, Schorndorf
Zuschauer: mehrere hundert; fast ausverkauft
Datum: 03.07.2013
Dauer: Dinosaur Jr. 81 Minuten / Wild Style Lion 31 Minuten


„Is it loud enough?“, wird bei Motörhead-Konzerten, so die bekannte Überlieferung, gefragt, bevor nochmals aufgedreht wird und die raumhohen Boxentürme Mehrzweckhallen weltweit im Lärm versinken lassen. 
Musikalisch weit von Lemmy Kilmisters harter Interpretation klassischen Rock n' Rolls entfernt, sind auch Dinosaur Jr., die amerikanischen Alternative-Heroen und Geburtshelfer des Grunge, berüchtigt für ohrenbetäubende Live-Shows. 
Ohrenschutz wird auf Konzertkarten grundsätzlich empfohlen, hier berechtigterweise: Schon beim Eintritt in die Manufaktur in Schorndorf, einem idyllischen Provinzstädtchen keine 30 Kilometer von Stuttgart entfernt, lassen die aufgetürmten Verstärker zu beiden Bühnenseiten keinen Zweifel daran aufkommen. Unscheinbar, ja fast unsichtbar, mutet der aufgebaute Gitarren-Amplifier der Vorband an, der vor J Mascis Boxenbollwerk regelrecht untergeht. 
Pünktlich um 21 Uhr stehen drei allem Anschein nach erfahrene Musiker mittleren Alters auf der Bühne, die unter dem Bandnamen Wild Style Lion ihre ersten Konzerte bei der kurzen Deutschlandtour der vor 29 Jahren in Massachusetts gegründeten Gruppe spielen. 


Das Trio bestehend aus einem Gitarristen, Sänger und Keyboarder weckt mit einem knapp halbstündigen Set Erinnerungen an The National und ausgetüftelte Klanggewebe, wie sie The Notwist und Naked Lunch erfolgreich kultivierten, aber auch an den gradlinigen Wüstenrock eines Josh Homme. Sonderlich viele Informationen zur Band, die allen englischen Ansagen zum Trotz aller Wahrscheinlichkeit aus Deutschland – vermutlich aus Hamburg oder Berlin – kommt, lassen sich noch nicht finden. Auch die Facebook Präsenz besteht erst seit wenigen Wochen, der Sänger mit Schnurbart in zugeknöpfter Levis-Jeans-Jacke muss die Texte ablesen, während neben ihm ein Meer aus Soundeffekten fließt. 
Ein Stück, das vermutlich einmal als „Year of the snake“ veröffentlich wird, lässt dann gar Assoziationen zu Velvet Underground in den späten 60ern zu. „Thank you very much. Have fun with Dinosaur Jr.“ Wild Style Lion hinterlassen mit einer vielversprechenden Kostprobe und einer Reihe klaustrophobischer Popsongs einen bleibenden Eindruck. 

Während des Umbaus hoffe ich auf einen baldigen Beginn des Hauptacts, um nicht in Zeitnot zu geraten, um nicht Gefahr zu laufen, die letzte S-Bahn nach Stuttgart zu verpassen. 
Das Trio von der US-Ostküste meint es gut mit mir: Bassist Lou Barlow lässt sich als erster auf der Bühne blicken, nimmt wortlos auf der rechten Seite seinen Platz ein, hängt sich sein Instrument um, während J Mascis, Gitarrist, Sänger und Hauptsongwriter, gemächlich langsam auf die andere Seite schlurft. 

Auf vier Din-A-4-Zettel ausgedruckt liegt die Setlist in riesiger Schriftgröße vor ihm. Mascis muss fast blind sein, die Brille mit Lupen dicken Gläsern legt er noch vor Konzertbeginn ab. Der Mann mit den langen, dünnen weißgrauen Haaren und dem Vollbart, der ein klein wenig wie die etwas fülliger Variante von Christopher Lee als Saruman in Herr der Ringe aussieht, obwohl er erst 47 ist, gilt bekanntlich als einer der profiliertesten Gitarristen seiner Generation, wird immer wieder in allen möglichen entsprechenden Rankings genannt und benötigt offensichtlich jede Menge Effekte, um sein Spiel so zu gestalten, wie er es gerne hätte. Nie zuvor habe ich derartig viele Pedale, Verzerrer und andere Effektgeräte für einen einzelnen Gitarristen gesehen. Sicher, J Mascis ist als perfektionistischer Kontrollfreak berüchtigt, was gerne als Grund für die Trennung Dinosaur Jr.s 1998 genannt wurde. Damals war er bereits das einzig verbliebene Gründungsmitglied der Band, Bassist Lou Barlow verließ die Gruppe bereits Ende der 80er, Schlagzeuger Murph folgte in der ersten Hälfte der 90er. 


 Besonders das Verhältnis zwischen Mascis und Bassist Barlow wurde immer wieder suggeriert, sei zutiefst zerrüttet gewesen, umso überraschender kam die Reunion in Originalbesetzung 2005. Umso überraschender ist es, dass Mascis, Barlow und Murph noch immer zusammen touren und tolle Alben aufnehmen. Dass Murph derzeit nicht am Schlagzeug sitzt und von einem jüngeren Kollegen vertreten wird, kann schwerlich als Indiz für eine neuerliche Entfremdung herhalten, schließlich kehrte er bereits bei vergangenen Touren früher als seine Kollegen in die Staaten zurück. Dröhnend eröffnet „Bulbs of Passion“, der letzte Track des legendären Debütalbums „Dinosaur“ das Set, die Oropax zeigen ihre Wirkung, während der Schlagzeug-Beat in der Magengegend wummernd einschlägt. 1985 veröffentlicht, veränderte die Band ihren Sound seit dem Erstlingswerk nur geringfügig. Mal wurden folkigere Elemente zurückgefahren, mal einstige Hardcore-Tugenden stärker heraufbeschworen oder Noiserock-Momente gepflegt. Der musikalische Nachlass, den Dinosaur Jr. irgendwann einmal hinterlassen werden, das was von dieser Band übrig bleibt, ist die unnachahmliche Art Collegerock und Hardcore-Elemente zu vereinen; Sanftmut und brutalen Krach gleichzeitig zu verkörpern. 


Zurecht wird die Band heutzutage als Vorreiter des Grunge gefeiert, die künstlerische Stringenz, mit der ein fast lieblicher, über den Dingen schwebender Gesang mit Lärm kombinierte, die angemessene Brachialität legte zuvor nur Neil Young mit Crazy Horse an den Tag. Nirvana übernahmen später eine ganze Menge von Dinosaur Jr.. Bevor Dave Grohl als Schlagzeuger engagiert wurde, fragte Kurt Cobain übrigens J Mascis, ob er bei Nirvana an den Drums einsteigen möchte. Er lehnte bekanntlich ab, doch anders als Chris Spedding, jener Gitarrist, der Mick Taylor bei den Stones folgen sollte, dürfte sich Mascis heute nicht über diese Entscheidung ärgern. 
Zu hochklassig sind die Alben und Singles, die Dinosaur Jr. Seitdem veröffentlichten, „The Wagon“, eine 1990 erschienene Single, wird heute Abend von der bärtigen Fanschar mit violetten Bandshirts gefeiert wie ein Welthit – und das obwohl von Mascis Gesang kaum etwas zu hören ist. Quasi als Instrumentalversionen mit unterschwelligen Gesangsfetzen rauscht das atemberaubende, laute Set an einem vorbei; „No Bones“, „Almost Fare“, „Raisans“, etwas später „Watch The Corners“, das herausragende Stück des aktuellen Albums „I Bet On Sky“, das letztes Jahr erschien. 


„Feel The Pain“, eine der erfolgreichsten Single-Auskopplungen der Bandhistorie wird erwartungsgemäß lautstark gefeiert. Hinter mir singt ein Fan Mitte 30, der damals sicherlich durch das Video von Spike Jonze Mitte der 90er auf MTV oder Viva zum ersten Mal auf die Gruppe aufmerksam wurde, so begeistert mit, dass ich mehr von seiner Einlage mitbekomme als von Mascis Intonation. 
Barlow mit dunklem Lockenschopf und Brille bewegt sich artistisch über die Bühne, mit tief hängendem Bass verkörpert er heute Abend die Punkattitüde, singt „Training Ground“, einen Song von Deep Wound, jener Hardcore-Band, in der er schon früher mit Mascis zusammen spielte, der im Gegensatz zu ihm häufig mit stoischer Ruhe und geschlossenen Augen vor seinem Mikrophon steht. Das polternde Schlagzeug des Aushilfsdrummers passt hier genau, der junge Mann verzerrt das Gesicht wie Keith Moon und muss danach die Verbände an seinen Fingern austauschen. 
Nach „Forget The Swan“ und 15 Songs verlässt das Trio die Bühne, Barlows Hemd ist Schweiß durchträngt. Für zwei Zugaben kommen die Drei zurück. Mit seinen klobigen Turnschuhen holt Mascis noch einmal alle Effekte aus seinem Instrument heraus, diesmal klingt es überhaupt nicht nach Neil Young, mit dem sein Spiel so oft verglichen wird, sondern eher nach einer harten Version Peter Framptons. Kein Witz! 

Aus guten Gründen nennt Robert Smith die Dinosaur Jr. Version von „Just Like Heaven“ als bestes The Cure Cover. Es ist der formidable Schluss eines guten Konzerts, das man entgegen aller Befürchtungen auch genießen kann, ohne ein Fan der Band zu sein. Zu guter Letzt hört man etwas vom Gesang, es klingt live tatsächlich nach Neil Young – und das liegt nicht am Tinitus, der ist uns nämlich tatsächlich erspart geblieben. Earplugs still recommended! Draußen geht gerade ein endzeitlicher Regen herab, die letzte S-Bahn erreichen wir pünktlich in triefend nasser Kleidung.



Setlist, Dinosaur Jr., Schorndorf:

01: Bulbs Of Passion
02: The Wagon
03: No Bones
04: Almost Fare
05: Raisans
06: Don't pretend you didn't know
07: Watch The Corners
08: Rude
09: Out There
10: Feel The Pain
11: Budge
12: Start Choppin
13: Training Ground (Deep Wound - Song)
14: Freak Scene
15: Forget The Swan

16: ? (Z)
17: Just Like Heaven (The Cure - Cover) (Z) 


Links

- aus unserem Archiv:
- Dinosaur Jr. in Frankfurt, 12.02.2013  
- Dinosaur Jr. in Paris, 23.05.2010
- Dinosaur Jr. in München, 23.05.2008
- Dinosaur Jr. in Paris, 24.08.2007
- Dinosaur Jr. in Hohenfelden, 18.08.2007





4 Kommentare :

Anonym hat gesagt…

Schönes, sehr umfangreiches Review! Aber 2 Dinge möchte ich anmerken: 1. J Mascis wurde damals von Kurt Cobain gefragt ob er als 2ter Gitarrist bei Nirvana mitmachen möchte (und nicht als Schlagzeuger). 2. Murph ist aus privaten Gründen bei der aktuellen Tour nicht dabei, wird aber im Laufe des Jahres zur Band zurückkehren, wie mir Mr. Barlow versichert hat.

Jens hat gesagt…

Danke für die Rückmeldung! Werde ich mir merken. Vielleicht kannst Du mir sagen, welcher Song die erste Zugabe war? Bin echt am rätseln!

E. hat gesagt…

i'v been waiting for you, vielleicht?

Anonym hat gesagt…

Die 1. Zugabe war "In a Jar".

 

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