Konzert: Die Höchste Eisenbahn
Vorband: Desiree Klaeukens
Ort: Kulturzentrum Merlin, Stuttgart
Datum: 11.01.2014
Dauer: Die Höchste Eisenbahn 99 Minuten / Desiree Klaeukens 30 Minuten
Zuschauer: über 270 (ausverkauft)
Moritz Krämer ist erkältet, sitzt zusammengekauert wie ein Häufchen Elend auf der Bühne, während Francesco Wilking einen Solosong spielt. Dennoch überzeugen die beiden Badener, die es vor Jahren nach Berlin zog, gemeinsam mit Felix Weigt und Max Schröder. Es ist Ende September 2012, die Höchste Eisenbahn ist ein junges Projekt. Am Tag darauf sehe ich mit Radiohead eine der wichtigsten Bands meines Lebens in Berlin, doch bleibt jener Abend mit der Höchsten Eisenbahn vor vielleicht fünfzig Zuschauern im bestuhlten Merlin mit einem trotz erkältungsgeschwächten Krämer perfekten Konzert in positiverer Erinnerung. Gerade veröffentlichte man die Debüt-EP und eine handvoll wundervolle Songs. Ein knappes Jahr später folgt das erste Album „Schau in den Lauf Hase“ und wie nebenbei die großartigste deutschsprachige Platte seit über einer Dekade.
Bedingt durch den Tod des BootBooHook-Festivals muss ich mich bis zu einem Wiedersehen mit der Band lange gedulden. Es ist der gleiche Ort, die Zeiten jedoch haben sich geändert. Ein kleiner Feuilleton-Hype um das formidable Debüt und tolle Youtube-Videos sorgen für ausverkaufte Clubs deutschlandweit. Das Merlin ist keine Ausnahme und vermeldet bereits zwei Tage vor dem Konzert „restlos ausverkauft“. Am Vortag verkündete Chefin Bärbel Bruns zwar auch schon beim Auftritt Dagoberts, dass dieser ausverkauft sei. Heute wird beim Betreten des Kulturzentrums deutlich, dass noch einmal eine Schippe draufgelegt wurde und man sich offenkundig bemüht so viele Zuschauer wie irgend möglich hereinzulassen. Der üblicherweise im Konzertsaal aufgebaute Merchandise-Bereich wird in das Café am Eingang verlegt, der Einlass ebenso in den vorderen Raum verlagert. Vor der Tür werden nichtsdestotrotz viele Besucher abgewiesen, die Höchste Eisenbahn ist die Band der Stunde und gewinnt zunehmend an Popularität.
Am zweiten Tag des Pop Freaks Festivals drängt es sich dicht, die Luft ist stickig, es riecht nach Schweiß, Bier und Rotwein. Dezentes, ungewohntes Rockkonzertfeeling in einem chicen Kulturzentrum.
Ein kurzer Moment andächtiger Stille, Support-Act Desiree Klaeukens beginnt ihren halbstündigen Auftritt. Wie bei ihrem wunderbaren Wohnzimmer-Konzert bei uns Mitte November wird sie vom Gitarristen Florian Glässing unterstützt. Das Zusammenspiel der beiden Berliner funktioniert ausgesprochen gut. An der E-Gitarre eröffnet Klaeukens mit „Verliebt in Dich“, singt mit zarter Stimme ihre brüchigen, ungewöhnlichen Liebeslieder, während Glässing sie mit leidenschaftlichen Harmonien und ausgezeichnetem Gitarrenspiel unterstützt.
Ihre Lyrik ist auf angenehme Weise schlicht, die Performance unaufgeregt und einnehmend, wäre da nicht der hohe Geräuschpegel, das nicht enden wollende Gemurmel aus den hinteren Reihen und von der Theke. Die Schattenseiten eines ausverkauften Konzerts machen sich bemerkbar. Klaeukens geht mit der Situation souverän, wenn auch nicht routiniert um. Letztlich entscheidet sie sich für den subtilen Weg, kritisiert die Situation unterschwellig ohne diejenigen zu verprellen, die aufmerksam zuhören.
Wer den Klängen des Duos lauscht, der entdeckt hinter all den melancholischen Versen zart getuschte Bilder wie sie das Cover der „Warm in meinem Herz“-EP zieren. Das Titel gebende Stück ihrer Erstveröffentlichung ist erwartungsgemäß ein Höhepunkt des Sets. Dass diese und auch einige andere Songstrukturen bei Klaeukens an die Flowerpornoes erinnern, ist wenig überraschend, betrachtet man ihre offene Bewunderung Tom Liwas, die sich beim Wohnzimmerkonzert in einer gelungenen Coverversion äußerte. Darüber hinaus ist Florian Glässing seit Jahren Mitmusiker Liwas, der ihn einmal als einen der besten Songwriter bezeichnete, die es in Deutschland gebe.
Während der Lärmpegel weiter steigt, gibt sich Klaeukens einen Ruck, schaut vorsichtig unter ihrer dunklen Mütze vor, erzählt Anekdoten und glänzt in der zweiten Hälfte ihres Auftritts mit schönen Liedern ihres noch diesen Monat bei Tapete Records erscheinenden ersten Langspielers. „Will dich zu sehr“, „Zwei Tage“ und „Kompliziert“ sind auf eigentümliche Weise frei von überflüssigem Pathos und so zu verstehen, wie sie geschrieben sind. Ohne den Hauch von Ironie und künstlicher Bedeutungsschwere sind es befindlichkeitsfixierte Oden auf Alltägliches. Trotz schwierigen Rahmenbedingungen bedankt sich Klaeukens höflich. Im Deutschland-Radio Kultur stellte man das kommende „Wenn die Nacht den Tag verdeckt“, auf dem auch Moritz Krämer zu hören sein wird, ausführlich vor. In voller Bandbesetzung live darbieten wird der neuste Stern am Tapete-Himmel das Gesamtwerk auf ausgedehnter Tour im Frühling, dann hoffentlich vor aufmerksamerem Publikum.
Setlist Desiree Klaeukens, Stuttgart:
01: Verliebt in Dich
02: Züge
03: Warm in meinem Herz
04: Will Dich zu sehr
05: Zwei Tage
06: Kompliziert
In seinem Klang stringent, musikalisch herausragend, lyrisch preziös, ohne einen einzigen wirklichen Schwachpunkt avancierte „Schau in den Lauf Hase“ im Rückblick für mich unangefochten zum besten Album des Jahres. Trotz der Güte meiner ersten Konzert-Begegnung mit der Höchsten Eisenbahn bin ich im Vorfeld skeptisch, ob es gelingen kann den komplexen, harmonischen Klang der Platte auf die Live-Bühnen zu übertragen. Es genügen wenige Minuten, um meine zweifelnden Überlegungen als Hirngespinste zu entlarven.
Moritz Krämers unnachahmliches Timbre zwischen sehnsüchtiger Gebrochenheit und künstlerischer Berechnung und sein Händchen für skurrile Geschichten, die bereits sein Soloalbum als Meisterwerk deutschem Singer-Songwritertums auszeichneten, erblühen schon bei „Aliens“ in voller Pracht. Von einer Erkältung ist heute nichts zu spüren, Krämer ist fit und strotzt vor Energie, spielt Akustikgitarre, singt leidenschaftlich und überhaupt nicht – wie Kritiker ihm unterstellen – manieriert. Francesco Wilking tobt sich derweil an den Keyboards aus, wippt mit Oberkörper und Kopf vor und zurück, dann setzt der Tele-Frontmann im mit Füchsen besticktem Hemd ein, garniert den Song mit eigenen Zeilen und entschlüsselt an früher Stelle das Geheimnis dieser Band: In der Harmonie der beiden Protagonisten Krämer und Wilking untereinander und mit Max Schröder (Schlagzeug) und Felix Weigt (Bass, Gitarre und Keyboards), die viel mehr als Begleitmusiker sind, verbirgt sich enorme Energie, die sich im Zusammenspiel auf der Bühne in aller Deutlichkeit entlädt. Instrumente werden immer wieder wild getauscht, Zeilen improvisiert, Scherze gemacht und musikalische Höchstleistungen vollbracht.
„Body & Soul“, eine mitreißende Mid-Tempo-Nummer, ist Wilking'sches Songwriting vom Feinsten, setzt an der Stelle an, an der Tele einst die klassische Disco in den deutschen Indie-Pop brachte und geht diesen Weg konsequent voran. Ein treibender Bassbeat, tanzende Beine und Begeisterung sind die logische Konsquenz. Wurde das Konzert 2012 noch von Songs aus den Solo-Katalogen der Band – auch Max Schröder alias Der Hund Marie, Ehemann von Heike Makatsch und Drummer von Tomte, und Felix Weigt, unter anderem Bassist bei Kid Kopphausen, gaben Eigenes zum Besten – zusammengehalten, werden heute ausschließlich Lieder der Höchsten Eisenbahn gespielt.
Zum Maß der Dinge im deutschsprachigen Bereich herangewachsen steht die Aufführung dem Hörvergnügen des Studiowerks in nichts nach. Höhepunkte der „Unzufrieden“-EP haben nichts an ihrem Reiz verloren und so freut man sich über die Aufzählung in „Jan ist unzufrieden“, den Frust dieses jungen Mannes, den es aus Süddeutschland nach Berlin verschlug, und Ausnahmeverse wie „Jan hat vor das Land zu verlassen, er redet Englisch an den Supermarktkassen“. Die subversive Eleganz des Songtexters Francesco Wilking ist in seinen Kompositionen immer offenbar und stets meisterlich. Dass er sich mit dem überaus talentierten Moritz Krämer zusammentat, ist der größte Glücksfall der jüngeren deutschen Popgeschichte. „Vergangenheit“, das seinerzeit die EP eröffnete, ist ein starker Beleg. Wirkten in der Studio-Version noch Judith Holofernes und Gisbert zu Knyphausen als Co-Texter und Gastsänger mit, macht die Live-Performance ohne die Zeilen der beiden diese obsolet. Keine Frage, die Höchste Eisenbahn spielt längst in einer ganz anderen Liga.
Wie gut diese Band ist, zeigt sich an kaum einer Stelle deutlicher als bei „Raus aufs Land“. Ein „Miami 2017 (Seen the Lights Go Out on Broadway)“-eskes Piano-Intro lässt es kalkuliert epigonenhaft wie ikonisch beginnen. Dass sich der Song problemlos von allen Assoziationen emanzipieren kann und mit seiner erschütternden Beziehungsgeschichte ehrlich berührt, liegt an einem großartigen Text und der überwältigenden musikalischen Umsetzung.
So gut wie nie kommt deutsche Sprache im Pop ohne Plattitüden aus. Die Höchste Eisenbahn ist eine beeindruckende Ausnahme. Die Tapete-Vorzeigeformation spielt mit lockerer Attitüde mit Worten und pathetischen Bildern wie in Wilkings in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Liebesgeschichte von Isi und Robert. Das ist selbstironisch und beispiellos zugleich: „Und die Leute schrien 'Los Robert, tu was du tun musst.' / Und er sprang die fahrende Bahn an, schlug die Scheibe ein und gab Isi einen Kuss / 'Oh Isi, ich war die ganze Zeit bei dir, du wirst nie erraten als was.' / 'Als Pfau?' / 'Genau.'“. „Isi“ ist ein scharfzüngiger Geniestreich und der Beweis, dass auch Popmusik literarische Qualitäten haben kann. „Isi komm, ich weiß noch einen Witz / Welches Tier hat zwei Beine mehr, wenn es sitzt?“
Der tanzbare Opener des Albums, „Egal wohin“, kommt überraschend spät und verdeutlicht das erstaunliche Konglomerat der Band. Electro-Sounds treffen auf einen Disco-Beat und Stadion-Chöre. Wilking vergisst seinen Text. Die darauffolgenden Improvisationen seiner Bandkollegen retten die Situation spielend und der Song wird mit grandioser Spontanität würdig zum Abschluss gebracht.
Wo Wilking mit Komik brillieren kann, setzt Kollege Krämer auf zwischenmenschliches Storytelling. Ob lyrische Dekonstruktionen sozialer Geflechte oder die nüchterne Schilderung einer Beziehung am Scheideweg in „Mira“, die an der durch die Wohnungssuche versinnbildlichten Bindungsangst des Freundes zu zerbrechen droht. Es ist der beste Song des Albums, der die Klasse dieses Konzerts endgültig manifestiert. Die hohen „Unser Haus am See“-Chöre kommen vielstimmig, während Krämer im dunklen Wollpullover beklagt: „Mira wir ham' uns auf dem Weg verlor'n“. Das ist tieftraurig und in seiner Darbietung schonungslos. „Du stehst im Garten und weinst / Aber du lächelst dabei / Du sagst 'Dann bleib' ich allein / Weil du dich niemals entscheidest'“. Trotz aller Melancholie ist die Höchste Eisenbahn nie eine traurige Band. Anders als viele – vor allem Hamburger – Singer-Songwriter-Kollegen lebt die Höchste Eisenbahn nicht vom Schwermut, sondern von pulsierender Energie. Immer treibt irgendwo ein Beat, Rhythmenwechsel überraschen. Hier und da nimmt das Ganze World-Music-Wege in bester „Graceland“-Tradition, nur um dann mit 80s Synthies entgegengesetzte Pfade einzuschlagen. Bei „Was machst du dann“ übernimmt das Publikum gegen Ende des regulären Sets den Kinderchor. Das ausverkaufte Merlin ist im ekstatischen Zustand puren Glücks. Auch die einstigen Störer sind im harmonischen Ganzen integriert, Teil der umarmenden Kraft der Berliner Band.
Italienisch singend steigert sich Wilking in „Die Uhren am Hauptbahnhof“ in ein fantastisches Crescendo, das zeigt, dass auch der schwächste Song des durchweg genuinen Albums, live keinesfalls im Vergleich zu anderen Stücken abfällt.
Drei Zugaben gibt es abschließend. Das ernüchterte Auseinanderlebungslied „Die Nacht übertreibt“ wird zur großen Solo-Show Krämers, der allein auf die Bühne zurückkehrt und sich auf der Akustikgitarre begleitet. Nach und nach setzt die Band ein, Wilking singt mit, Zwischenapplaus als natürliches Resultat. Der Titeltrack des Albums mit seiner Paul-Simon-Rhythmik und „Der Himmel ist blau (wie noch nie)“ mit der wohl schönsten Verwendung des Konjuktivs im deutschen Pop folgen, bevor das Konzert endgültig vorbei ist.
Mit Ausnahme von „Tschernobyl“ spielt Die Höchste Eisenbahn all ihre bisher veröffentlichten Songs und beweist ein für alle mal, dass sie derzeit das Maß der Dinge ist, die Speerspitze des deutschen Indiepops. Auch live. Meine Erwartungen wurden weit übertroffen. Nie zuvor sah ich ein besseres deutschsprachiges Konzert. Ausnahmslos. Eine Band größer als die Summe ihrer herausragenden Bestandteile.
Setlist Die Höchste Eisenbahn, Stuttgart:
01: Aliens
02: Body & Soul
03: Jan ist unzufrieden
04: Vergangenheit
05: Pullover
06: Raus aufs Land
07: Isi
08: Alle gehen
09: Egal wohin
10: Allen gefallen
11: Blaue Augen
12: Mira
13: Was machst du dann
14: Die Uhren am Hauptbahnhof
15: Die Nacht übertreibt (Z)
16: Schau in den Lauf Hase (Z)
17: Der Himmel ist blau (wie noch nie) (Z)
Links:
- aus unserem Archiv:
- 19.11.2013, Desiree Klaeukens, Stuttgart
- 18.11.2013, Desiree Klaeukens, Karlsruhe
- 21.07.2007, Tele, Rüsselsheim
Tourdaten Die Höchste Eisenbahn:
16.02.2014, Berlin, Lido (Ausverkauft)
19.03.2014, Jena, Rosenkeller
20.03.2014, Lörrach, Between the Beats Festival
21.03.2014, Fulda, Kulturkeller
12.04.2014 Husum, Husum Harbour
01.06.2014 Berlin, Lido (Zusatzshow)
06.-08.06.2014, Beverungen, Orange Blossom Special
25.-26.07.2014, Reutlingen, Burning Eagle-Festival
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