Dienstag, 21. Januar 2014

Die Nerven, Stuttgart, 17.01.2014


Konzert: Die Nerven
Ort: Kulturniederlassung Südwest, Stuttgart
Datum: 17.01.2014
Dauer: um die 50 Minuten
Zuschauer: einige hundert


Alle Fotos: © David Oechsle
 Vor wenigen Wochen veröffentlichten Tocotronic auf ihrer Facebook-Seite ein Bild, das sie auf einem Sofa gemeinsam mit der Stuttgarter Noise-Punk-Band Die Nerven zeigt. Der Schulterschluss der Granden des Diskursrock mit einer der vielversprechendsten Nachwuchsbands ist ein klares Signal: „Musik-Freaks dieses Landes, schaut nach Schwaben!“ Die kryptische Ankündigung einer möglichen Kollaboration sorgt für gehörige Aufmerksamkeit. 

Bald erscheint mit „FUN“ das dritte Album des Trios um Max Rieger (Gitarre und Gesang), Julian Knoth (Bass und Gesang) und Kevin Kuhn (Schlagzeug). Vorgezogener Tourauftakt ist ein kostenloser Auftritt zu später Stunde beim 27. Stuttgarter Filmwinter in der Kulturniederlassung Südwest unweit des Hauptbahnhofs. Zuvor schauten sich Die Nerven noch das Konzert der Hamburger Band Trümmer im Merlin an. Nun stehen sie selbst auf der Bühne und zeigen sich als großes Popkunstwerk. Paul Pötsch, Maximilian Fenski und Tammo Kasper von Trümmer suchen sich ein Platz nah vor der Bühne zwischen bekannten Gesichtern der Stuttgarter Musikszene und werden Zeugen einer atemberaubenden Manifestation des vertonten Nihilismus. Aus der Distanz schaut Erobique, der am folgenden Tag zusammen mit Sophia Kennedy beim Pop Freaks Festival auftritt, zu. 
Als ich den großen Saal betrete, spielen Die Neven bereits und ziehen offensichtlich auch diejenigen in ihren Bann, die zuvor nicht wussten, was sie erwartet. Die Szenerie, die sich vorfindet, weckt Assoziationen zu Michelangelo Antonionis zeitlosem Meisterwerk „Blow Up“. Wie den Yardbirds, die an bekannter Stelle im Film The Who imitieren und Gustav Metzgers autodestruktive Kunst zelebrieren, gelingt es den Nerven ein Kulturpublikum mit Krach und Feedbacks zu faszinieren. Instrumente müssen gar nicht zertrümmert werden, Rieger, Knoth und Kuhn gelingt das verstörende Element ihrer Show auch so. 

Derzeit gibt es wohl keine andere Band, der es gelingt mit misanthropischer Grundhaltung Popmusik derart zu dekonstruieren. Der großgewachsene Max Rieger mit akkurat gescheiteltem, kurzem, blondem Haar spielt unter kreischenden Feedbacks, harte Riffs, die um wenige Töne kreisen, während Knoth im Shirt der Stuttgarter Punk-Kollegen Human Abfall, jene schnellen, genretypische Bassläufe spielt, die die elementaren Soundindikatoren sind. 
Das langsam schleppende Intro von „Morgen breche ich aus“ schlägt mir beim Eintreffen entgegen. Emotionslos schreit Rieger parolenhafte Verse: „Der Reiz verliert den Reiz“. Wahnsinnig grinsend hält Kuhn am Schlagzeug einen beängstigend pulsierenden Beat. „Du suchst ein neues Hobby, drück' Heroin“, skandiert Rieger, „Morgen breche ich aus, ganz bestimmt, ganz bestimmt“. Die Riffs werden härter und Die Nerven setzen dem Weltschmerz des Deutschpops kalten Nihilismus entgegen. „Du und ich sind in Wirklichkeit die Bösen“, brüllen sich Knoth und Rieger wenig später im wütend malträtierenden Stück Noise-Punk „Die Bösen“ an. Ohne Zweifel sind Die Nerven spannender als irgendeine andere Band im Neckarkosmos und fraglos eine der spannendsten Bands des Landes. Wo andere Acts im gleichen Alter und Genre langweilige bis belanglose Poser sind, verkörpern die Schwaben den Mythos vom „angry young man“ mit erstaunlicher Konsequenz. 

Zwischen langsam treibenden Noise-Flächen und tosenden Feedback-Salven überraschen dann allerdings doch immer wieder eingängige Melodien. So ist „Irgendwann geht’s zurück“ gefälliger Post-Punk mit Wave-Einschlag. Ihre beiden bekanntesten Songs („Der letzte Tanzende“ und ihr deutsches Lana Del Rey-Cover „Sommerzeit Traurigkeit“) werden – selbstredend unkommentiert – ausgelassen, während neue Stücke wie „Blaue Flecken“, „Hörst du mir zu?“ und „Angst“ ihre subversive Gewalt entfalten können und die Spannung auf das kommende Album steigern. Das auf einer unter anderem von Trümmer-Bassist Kasper produzierten Split-Single mit Candelilla erschienene „Dienstag Nachmittag 16:30“ höre ich erstmals live, ohne dass es abgebrochen wird. 
„Unersättlich“ aus dem Frühwerk der Gruppe ist das zehnte und letzte Stück. Rieger lächelt, die Nerven haben gute Laune. „Der Stuttgarter Filmwinter, eine gute Sache. Ein schönes Gebäude hier, aber keine Angst, es wird auch noch abgerissen.“ Der subtile Seitenhieb Richtung Stuttgart 21 ist deutlich, der politische Charakter der Band hinter Nihilismus und Misanthropie nur oberflächlich verborgen. Als Julian Knoth während eines Feedback-Gewitters Riegers den Zuschauerraum umkreist, um zum Ende des Songs wieder auf der Bühne zu stehen, erreicht das Konzert nach klimaktischen Momenten seinen Höhepunkt. 

„Wollt ihr noch etwas hören?“ Kevin Kuhn steht im "Ich Chef, Du nix"-Shirt vor den Zuschauern, die verschiedene Songs hereinrufen. Spontan gibt man ein rasendes „Stuttgart Kaputtgart“. Das Ätzer 81-Cover mobilisiert ein letztes Mal alle Energien der Künstler wie des Publikums. Tumultartige Pogoszenen, Trümmer mittendrin. Am Ende eines rauschartigen Konzerts steht der unkaputtbare Geist des Punks der frühen Jahre. Die Nerven vereinen kompromisslos Einstürzende Neubauten und Tocotronic, sind die personifizierte Antithese jeglichen Hipster-Kults und sie werden immer besser. Sollten Die Nerven diese Entwicklung fortsetzen können, sind sie auf dem besten Weg zur alternativen Referenzband dieser Dekade zu werden, wie es einst drei Hamburger vormachten. Wiederholung als Prinzip.


Setlist Die Nerven, Stuttgart:

01: Morgen breche ich aus
02: Eine Minute schweben
03: Für Jahre 
04: Die Bösen
05: Irgendwann geht's zurück
06: Blaue Flecken
07: Hörst du mir zu? 
08: Dienstag Nachmittag 16:30
09: Angst
10: Unersättlich

11: Stuttgart Kaputtgart (Ätzer 81-Cover) (Z)


Links:
- aus unserem Archiv:
- 07.12.2013, Die Nerven, Karlsruhe
- 06.09.2013, Die Nerven, Stuttgart
- 01.08.2013, Die Nerven, Stuttgart


Tourdaten:
13.02. Dornbirn (A), Spielboden 

14.02. München, Unter Deck 
15.02. Graz, Forum Stadtpark 
16.02. Wien (A), Rhiz 
17.02. Nürnberg, K4 
18.02. Leipzig, Conne Island 
19.02. Berlin, Monarch 
20.02. Hamburg, Uebel & Gefährlich 
21.02. Köln, King Georg 
22.02. Wiesbaden, Schlachthof


 

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