Mittwoch, 22. Januar 2014

Trümmer, Stuttgart, 17.01.2014


Konzert: Trümmer
Vorband: Tokyo Tower
Ort: Kulturzentrum, Merlin
Datum: 17.01.2014
Dauer: Trümmer 67 Minuten; Tokyo Tower 33 Minuten
Zuschauer: 60-70


Alle Fotos: © David Oechsle

„Entschuldigt, ich bin erkältet und klinge heute wie eine Mischung aus Tom Waits und Hildegard Knef.“ Paul Pötsch räuspert sich. „Du klingst wie Westernhagen“, schallt es irgendwo aus dem Publikum. „Westernhagen? Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz... Das geht schon in Ordnung, schätze ich.“ Trümmer aus Hamburg stehen am vierten Abend des Pop Freaks Festivals vor knapp 70 Zuschauern im Merlin und spielen mit Babyshambles-Gitarren zur Blumfeld-Attitüde ein mehr als solides Konzert. 
Nachdem ich Sänger und Gitarrist Pötsch und seine Mitstreiter Tammo Kasper (Bass) und Maximilian Fenski (Schlagzeug) auf einem ekstatischen Silvesterkonzert in einer Künstler-WG in ihrer hanseatischen Heimatstadt erleben durfte, ist klar, dass es schwer wird, heute, zweieinhalb Wochen später an diesen Auftritt heranzukommen. Es ist der Abschluss des zweiten Teils der „Saboteur“-Tour, ihrer ersten eigenen Konzertreise. Zwei Tage zuvor spielte man in Kassel und begeisterte, ein Lokaljournalist fühlte sich gar an die Entstehungsphase der Sex Pistols erinnert. So weit gehe ich nicht, doch gehören Trümmer zweifelsohne zur Speerspitze einer Reihe aufregend wie vielversprechender Bands mit differenzierter politischer Haltung und starken Songs. Wie Messer aus Münster und die schwäbischen Lokalmatadoren Die Nerven stechen Trümmer aus dem Einheitsbrei heraus. Schon beim Winterfest im KOMMA, dem Heimatclub der Nerven in Esslingen, glänzten Trümmer vergangenen Februar zwischen Messer, Zucker und den Gastgebern mit dem besten Auftritt des Abends. Selbstredend sind die Herren Kuhn, Rieger und Knoth auch heute im Publikum, obwohl sie selbst später ein eigenes Konzert beim Stuttgarter Filmwinter spielen. Man kennt und schätzt sich in der Szene. „Heute Abend spielen ausnahmslos die besten Bands Deutschland hier. Wir nehmen uns da nicht aus“, postulierte Nerven-Gitarrist Max Rieger letztes Jahr in Esslingen und bringt seine Wahrnehmung des Musik-Betriebs auf den Punkt. Heute revangiert sich Bassist Kasper: "Nachher spielt beim Filmwinter die beste Punkband Deutschlands, Die Nerven. Lasst uns da alle zusammen hingehen."
Hinter den Musikern prangt der Bandname in beleuchteten Lettern. Die Show kann beginnen. Als Trümmer nun nach dem Support-Set des Electro-Künstlers Michael Fiedler alias Tokyo Tower, den man lokal für seine Arbeit mit Hüttenzound oder Anna Gemina kennt, mit „Schutt & Asche“ eröffnen, zeigen sie, warum Rieger mit seiner These zumindest im Genrerahmen zwischen Noise-Punk, Punk und Diskursrock recht haben könnte. 


Das Hamburger Trio spielt vor den Augen Pötschs Eltern, Carsten Erobique Meyer und der Sängerin Sophia Kennedy mit großem Elan. Maximilian Fenski bewegt sich mit ausladenden Bewegungen stets an der Grenze der Verausgabung, muss gegen Ende sein Hemd öffnen. Derweil pendelt Tammo Kasper im dunklen Sakko vor und zurück, singt immer wieder mit und spielt einen sehr punkigen Bass. 
Nach langer Verweigerung von Facebook und der Infrastruktur des Internets, findet man seit Jahresbeginn ebendort auch statt. Songs entdeckt man hier freilich auch heute nur sehr wenige. Mit Ausnahme der Vinyl-Single mit Doppel-A-Seite „In all diesen Nächten“/“Der Saboteur“ finden sich nur einige verwackelte Live-Mitschnitte auf Youtube. Dass hohe Erwartungen in das Album gerechtfertigt sind, beweisen beispielsweise „Revolte“ und „Straßen voller Schmutz“, die das politisch denkende Kollektiv „straight aus dem Gefahrengebiet“ mitgebracht hat. „Ihr kennt diese Probleme ja aus eurer Stadt. Ihr wisst, was bei Demonstrationen passieren kann.“ Man ist geneigt, die Gruppe einseitig für ihr politisches Songwriting zu schätzen, doch übersieht man dabei dann die durchaus gekonnt gefertigten Liebeslieder. „Papillon“ zum Beispiel ist wohldosiert romantisch und mit seiner klaren Bildsprache fest integriert in die Gesamtästhetik der jungen Band. Manchmal wirkt die Textschwere ein wenig erschlagend wie in „Nostalgie“, vielleicht eine Spur altklug, aber das machen andere wunderbare Verse und das grandiose Zusammenspiel locker wett. 


Tatsächlich habe ich in Deutschland in letzter Zeit selten derart versierte Indie-Gitarren gehört. Es tut gut, die Kinder meiner Generation, die mit den Libertines und Strokes popmusikalisch sozialisiert wurden, auf der Bühne zu sehen. Musikalisch ist das erfrischend und könnte ein Wegweiser für die nächsten Jahre sein. „Wo ist die Euphorie?“ Pötschs Stimme überschlägt sich erkältungsbedingt immer wieder, aber er ist noch „nicht drüber“, wie er befürchtet. Vielmehr betont das ungewohnt Raue einige Momente seiner Lyrik überraschend deutlich, während der Auftritt immer intensiver wird. Besonders spürbar wird die Energie während „Macht“, als Pötsch in die Knie geht und das Mantra des Songs wiederholt. Vor uns steht eine äußerst ambitionierte Gruppe, der es gelingt eine wichtige Tradition des deutschen Indie-Rocks in der Gegenwart zu erhalten: Das kritische Hinterfragen akzeptierter Normen, die Auseinandersetzung mit tatsächlichen Problemen kam in den letzten Jahren weitgehend zu kurz. Trümmer wagen es in einer plakativ unpolitischen Epoche der deutschen Popkultur Haltung einzunehmen. Das verdient größte Anerkennung. 
Dass außerdem mit „Der Saboteur“, „Scheinbar“ und „In all diesen Nächten“ das Set dann großartig enden kann, belegt die Reife der Hamburger, die den geschickten Spannungsaufbau eines Konzerts locker beherrschen. Zur Zugabe kehrt Pötsch alleine zurück und überrascht mit einer formvollendeten Coverversion des Libertines-Standards „Music When the Lights Go Out“. Nebenbei offenbart er allen Skeptikern, welch formidabler Songschreiber in diesem Peter Doherty steckt. Die Referenzen zu all den Projekten des letzten großen Barden aus Albion gipfeln im bestechenden Tribut. Zu „Morgensonne“ kehren die Mitstreiter des rothaarigen Sängers und Doherty-Verehrers in Jeansjacke zurück und setzen an der richtigen Stelle mit den passenden Klängen nach. Mein ehemaliger Mitbewohner meinte vor dem Konzert zu mir, Trümmer würden wie die Babyshambles klingen. Er hat ja so verdammt recht. 
Dann zieht der Tross weiter. "Wir verlassen die gemäßigten Zonen." Die Nerven rufen.



Setlist Trümmer, Stuttgart:

01: Schutt & Asche
02: Die 1000. Kippe
03: Straßen voller Schmutz
04: Revolte
05: Papillon
06: Nostalgie
07: Wo ist die Euphorie?
08: 05:30
09: Zurück zum nichts
10: Macht
11: Der Saboteur
12: Scheinbar
13: In all diesen Nächten

14: Music When The Lights Go Out (The Libertines-Cover) (Z)
15: Morgensonne (Z)


Links:
- aus unserem Archiv:
- Trümmer, Hamburg, 01.01.2014
- Trümmer, Frankfurt, 12.02.2013
- Trümmer, Feldkirch, 15.08.2013
- Anna Gemina, Stuttgart, 13.09.2013
 


 

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