Konzert: Tocotronic
Vorband: It's a
musical
Ort: E-Werk, Erlangen
Zuschauer: voll,
ca. 800
Datum: 11.04.2013
Dauer: Tocotronic 110
Minuten, It's a musical 35 Minuten
Tocotronic mögen
es üppig. Das zeigt nicht nur das neue Album Wie
wir leben wollen, das
Ende Januar erschien und wegen seiner Aufmachung und seinem Klang
zurecht für erneutes Staunen sorgte, sondern auch wegen der langen
Tour durch viele Konzertsäle in Deutschland, Österreich und der
Schweiz. Ich kann mich kaum über mangelnde Termine in Süddeutschland
beschweren, erstreckt man diesen Begriff über ein weites Feld. So
waren für mich Besuche in Heidelberg, Stuttgart, Erlangen,
Offenbach, Freiburg, München und Würzburg möglich – mangels
Zeit- und finanziellen Gründen schaffte ich es ‘nur’ nach
Stuttgart
und Erlangen.
Nachdem ich schon in Stuttgart die Ehre hatte, diese
großartige Band unter neuem Motto „Wie wir leben wollen“
zu erleben, trat ich den Weg nach Erlangen an. Das Stuttgarter
Konzert musste sich erstmal setzen, Tocotronic im “neuen” Gewand
zu erleben ist immer eine interessante Erfahrung. Das, was man
schätzt, also vor allem Dirk von Lowtzows Bühnenauftritt, den
Pathos und das Überschwängliche, war nie fort. Das verzaubert jeden
Auftritt, das will man auch, das kickt. Doch Tocotronic meinen es
ernst mit der Tour und mit ihrem neuen Werk. Die neue Platte ist
nicht einfach nur ‘die neue Platte’, es fühlt sich wie ein neuer
Abschnitt an, ein neuer Meilenstein, den Tocotronic dementsprechend
gestalten und auf Tour präzise umsetzen. Sie zeigen damit, wie
wichtig ihnen das jetzige Werk ist – das erneut beweist, dass
Tocotronic keine schlechten Alben schreiben können. Das, was ich an
der „Schall & Wahn“-Tour schätzte, nämlich eben
genau das: Die vielen in sich verschmolzenen Songs, die Wut und der
Lärm, wird bei der jetzigen „Wie wir leben wollen“-Tour
deutlich wärmer und biegsamer. Mit dem ersten Konzert nach der
Festivaltour im letzten Sommer, die vom Set eher ein Potpourri an
Hits aus 20 Jahren war, musste ich mich bei Vorfreude, Krankheit und
schwierigem Publikum erst einer neuen, fordernden Tocotronic-Platte
und ein eben solches Konzert noch “gewöhnen” und erstmal finden.
Die Entscheidung, nach Erlangen für ein zweites Konzert der Tour zu
fahren, entschied sich als goldrichtig. Es war ein großer Genuss zu
wissen was passiert und das schon ein Monat verstrichen war.
Die Distanz zwischen München und Erlangen habe ich
maßlos unterschätzt, so wunderte ich mich stark, als ich bemerkte,
dass dies über 200km sind. Dennoch lohnte sich die Reise, beschwingt
mit einem tollen Element of Crime-Konzert im Kopf empfängt mich die
Studentenstadt Erlangen mit Regen. Das E-Werk, in dem das Konzert
stattfindet, ist ein super Laden. Tolles Programm, guter Sound,
schöner Raum, nicht zu groß und nicht zu klein – und einen Balkon
gibt’s auch. Ich bin gerne dort, weil diese Stadt nicht erschlägt
und vollgestopft ist und mit vielen interessanten Ecken einlädt. Das
E-Werk ist das Highlight und eine Anlaufstelle vieler toller Bands.
Auch freute ich mich tatsächlich über ein
Wiedersehen der Vorband It’s a musical, die auf
der gesamten Tocotronic-Tour Support sind. Das Elektropop-Duo aus
Berlin machte es mir in Stuttgart noch ein wenig schwer, in Erlangen
wirken sie frisch und nehmen mich offen in den Arm, spielen insgesamt
vom Gefühl her befreiter. Ich spüre, wie sie sich über den
Auftritt freuen. Das Publikum ist wohl wie jeden Abend: Zwischen
Ultras, die nur Tocotronic sehen wollen und interessiertnickenden
Indie-Menschen ist alles dabei. Hinten viel Gerede, vorne wird mehr
zugehört. Als dann mitten im Song Rick McPhail auf die Bühne
schlurft, um Gitarrensoli zu spielen, gibt es natürlich großen
Jubel. (Ja, ich war logischerweise auch begeistert) Auch Ella Blixt
und Richard Kretzschmar können sich nur fasziniert kopfschüttelnd
angucken. Dieser Mann ist der helle Wahnsinn. Als wäre nichts
gewesen, schlurft er wieder zurück. Legende da, Legende weg. It’s
a musical kicken heute einfach. Das macht Laune, dieser 80′s-Sound.
Schlagzeuger Robert grüßt zudem einen David im Publikum, dessen
Band Wyoming man auf seinen Rat auschecken sollte. Gesagt, getan und
Recht gegeben: Die sind wirklich gut! (Hier
klicken) Das ist eine Sache, die ich weiterhin an Tocotronic
schätze: Sie laden grundsätzlich Bands ins Vorprogramm ein, die sie
selbst auch mögen. Mit Dillon auf der letzten Tour bekam das
Publikum einen Popdiamanten zu hören, mit It’s a musical nun eine
Band, die definitiv Qualität hat und Freude macht. Der Abend fängt
gut an!
Doch es wird noch besser, oder: Noch krasser und
abstruser. Bereits mit der heutigen Bühnenorganisation erlebe ich
eine gewisse Unordnung, da sich die Crew bei Showbeginn immer noch
beratend auf der Bühne befindet, während der Pro Asyl-Imagefilm
beginnt und vom Publikum überhaupt nicht wahrgenommen wird. So wird
auch nicht nach Ende dieses wichtigen Films wie in Stuttgart
geklatscht, sondern nur gewartet, bis das Licht ausgeht. Schade. Mit
dem Konzertintro „Gesang der Jünglinge“ von Stockhausen
sorgen Tocotronic auch heute wieder für große Verwirrung im Saal.
Während ich mich darüber amüsiere, ärgere ich mich im nächsten
Moment abermals über Proleten. Diesmal schreit jemand “Haltet die
Fresse und spielt Gitarre” durch den Raum. So sehr ich auch
abgöttischer Fan dieser Band bin, werde ich solches Verhalten nie
verstehen können. Dafür gibt’s keine Anerkennung, das ist auch
keine Frage der Ungeduld oder des Geschmacks, sondern des Anstands.
Zwei Minuten später stehen die vier Männer “aus Hamburg und
Berlin” lächelnd einem vollen E-Werk gegenüber, das sie mit
großem Jubel empfängt. Kapellmeister Lowtzow begrüßt Erlangen,
Fürth und Nürnberg (!) gewohnt schwungvoll und enthustiastisch. Mit
Opener „Im Keller“ beginnt ein furioses Konzert wie eine
Fahrradtour: Fährt man gerade noch die Faulenzerroute mit schönem
Landschaftsblick, wird der Boden plötzlich ruppiger. Mountainbike.
Rock ‘n’ Roll will never die.
Denn Tocotronic stellen ihr Set im Gegensatz zu
Stuttgart vor einem Monat an einigen Stellen um: Mit „Macht es
nicht selbst“ findet nun doch ein Song des sehr guten „Schall
& Wahn“ einen Platz im Set und auch zu Beginn gibt es eine
entscheidende Veränderung: Mit den drei ersten Stücken entzünden
sie die Ekstase: Die neue Single „Ich will für dich nüchtern
bleiben“ haut nicht nur auf Platte gut rein, sondern ist auch
Wegbereiter für einen ersten Klassiker-Befreiungsschlag im Publikum
– die Freude schwappt mit dem ersten Akkord förmlich über,
nachdem Dirk von Lowtzow “Rock ‘n’ Roll will never die” ins
Mikrophon säuselt und die Fotografen aus dem Graben verscheucht. Er
guckt zornig aber bestimmt und will jetzt nur noch sein Publikum
sehen. Es strahlt ihn an und singt „Drüben auf dem Hügel
möcht’ ich sein im letzten Abendsonnenschein.“ Es ist ein
Moment, in dem man die Welt umarmen könnte. Es gibt nur diesen
Moment und die Musik, das vollkommene Glück, die Faust in der Luft
und die Stimme überschlägt sich. Tocotronic haben alles richtig
gemacht. Nachdem es den ‘Hügel’ in Zürich nur als Bonbon nach
dem Outro (!) gab, bauen sie es nun direkt zu Beginn ein. Weil’s im
Freudentaumel der alten Zeit so schön ist, bleiben sie mit „Meine
Freundin und ihr Freund“ gleich dort. Das Publikum nimmt
dankend an. Danach ist erstmal Ruhe und Zeit für großes Drama und
das “tuntigste Lied” „Vulgäre Verse“.
Schließlich soll das Publikum ja auch nicht
verwöhnt werden – obwohl sich der Besuch jetzt schon für die
meisten gelohnt hat. Doch Tocotronic präsentieren natürlich ihr
neues Werk: Da ist „Vulgäre Verse“ ein Lied, das
aneckender nicht sein könnte. Kaum ein Song auf dem neuen Album
sticht so heraus wie dieses. Lotzows feminine Stimme besingt eine
Diva auf großer Bühne – „Ich geistere zurückgezogen / In
möbliertem Revier / Keinem Fuß mehr auf deutschem Boden / Nur
nächtliches Telefonieren“ – die Worte könnten es nicht
besser beschreiben, der Hall strotzt, die Stimme schwebt, der
Schatten schwindet. Mit dem Wegfall von „Exil“, das in
vorigen Sets noch enthalten war, bei dem It’s a musical nochmals
für die Background-Chöre auf die Bühne durfte, erschlägt das Set
nicht allzu sehr mit Songs des neuen Albums. Das Set ist ausgeglichen
und hat dennoch eine erkennbare Note. Mit „Abschaffen“,
zu dem die Müncher Elektropunkband Frittenbude einen Remix baute,
„Die Revolte ist in mir“ und „Warm und Grau“
formt das Konzert den Rahmen der „Wie wir leben wollen“-Tour.
Neben mir boxt sich ein jüngerer Kerl mit konstant
grimmigen Gesicht durch die Masse, in dem die Revolte scheinbar
tatsächlich steckt. Ich kenne das und fühle mit, lächle aber
lieber. Dirk von Lowtzow schreit heute lieber, was mich kurz aus der
Fassung bringt. Wer schon auf einem Tocotronickonzert war, kennt die
große Sympathie und Wertschätzung von Dirk von Lowtzow gegenüber
dem Publikum, der ständig dankt und ausschweifend erzählt. Heute
ist tatsächlich irgendwas in der Luft, dass diesen Abend eine sehr
raue, aber interessante Note gibt. Denn Lowtzow bricht während
„Warte auf mich auf dem Grund des Swimmingpools“ kurz
vor dem ersten Refrain ab und schimpft laut auf den Tonmann. Bevor
alle sich kurz ungläubig ansehen, entschuldigt er sich beim Publikum
und spielt den Song nochmals. Generell spürt man heute mit dem
Verscheuchen der Fotografen, eben genannter Aktion und einem “Halt’s
Maul, Deutschland!”-Ruf passenderweise nach „Aber hier leben,
nein Danke“ eine besonders ausgeprägte Wut bei Lowtzow. Diese
gibt dem Konzert aber den gewissen Arschtritt. Tocotronickonzerte
bringen auch immer wieder neue Erfahrungen mit sich.
Danach gibt es nur noch einmal einen finsteren Blick
Richtung Tonmann, als dieser die Monitorboxen nach Punkexzess wieder
korrekt platziert. Jan Müller bedankt sich mit einem Lächeln um den
Frieden wiederherzustellen. Das ‘Vampir-Lied’ „Auf dem Pfad
der Dämmerung“ muss ebenfalls wiederholt werden – Musikgott
McPhail sitzt nicht an der Orgel und schlägt nach Beginn die Hände
über dem Kopf zusammen. “Er wird halt überall gebraucht” –
wie wahr, was Arne Zank da anmerkt.
Kurz vor Ende des Hauptteils sorgen Tocotronic dann
nochmals für große Gänsehaut. Dirk von Lowtzow, wieder strahlend,
grüßt mit Übersong „Hi Freaks“ alle Fans bis Bamberg.
Sechs Minuten weitere Ekstase. Hi. Freaks. Look. at. me.
Die Fortsetzung offener Münder, glücklicher Gesichter, gereckter
Fäuste und einem lauten “Jaaaa!”-Schrei folgt mit der ersten
Zugabe: Aus einer herrlich großen Lärmwolke formt sich „Freiburg“
– Erlangen kollabiert und ist alleine, weiß es und findet es sogar
cool. Es ist das Dankeschön einer Band, die es seit zwanzig Jahren
verdient hochgelobt zu werden. Der Titelsong des neuen Werks schließt
die Zugabe ab, bevor Dirk von Lowtzow seine Zigarette mit der ersten
Reihe teilt, wieder lächeln kann und Frieden mit Erlangen schließt,
einatmet und nein, nicht den Tod besingt, sondern “einen Engel”.
„17“. Das melancholische Finale eines großen Konzerts,
„17“ entlässt mit einem doch sehr abschließenden
Gefühl, das mich immer wieder mitnimmt. Keine Ekstase, nur für ein
paar Sekunden still stehende Herzen und innere Leere.
Setlist, Tocotronic, Erlangen:
01: Im Keller
02: Ich will für Dich nüchtern bleiben
03: Drüben auf dem Hügel
04: Meine Freundin und Ihr Freund
05: Vulgäre Verse
06: This Boy is Tocotronic
07: Sag alles ab
08: Aber hier leben, nein Danke
09: Warte auf mich auf dem Grund des Swimmingpools
10: Abschaffen
11: Alles wird in Flammen stehen
12: Auf dem Pfad der Dämmerung
13: Die Revolte ist in mir
14: Macht es nicht selbst
15: Jackpot
16: Hi Freaks
17:Warm und grau
18: Freiburg (Z)
19: Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen (Z)
20: Wie wir leben wollen (Z)
21: 17 (Z)
Links:
- aus unserem Archiv:
- Tocotronic, Stuttgart, 12.03.2013
- Tocotronic, Wien, 29.03.2010
- Tocotronic, Köln, 04.03.2010
- Tocotronic & Klee, Köln, 07.06.2008
- Tocotronic, Highfield Festival, 17.08.2007