Konzert: Sophie Hunger
Ort: Theaterhaus, Stuttgart
Datum:20.04.2013
Zuschauer: um die 1000 (vermutlich ausverkauft)
Dauer: 100 Minuten
Es ist ein unangenehmer Apriltag, die
sommerlichen Temperaturen sind einstelligen Graden und Regenwetter
gewichen. Läuft man durch den Stuttgarter Nieselregen fallen neben
unzähligen Trachtenträgern überproportional viele Plastiktüten
der einschlägigen Stuttgarter Plattenläden auf. Das Canstatter
Frühlingsfest beginnt, Grünen-Oberbürgermeister Fritz Kuhn darf
das Bierfass anstechen, während vorm Neuen Schloss über hundert
Bürger wegen früherer Aussagen bezüglich kindlicher Sexualität
gegen die Verleihung des Theodor-Heuss-Preises an Kuhns
Parteikollegen Daniel Cohn-Bendit protestieren. In den Plattenläden
ist von Protestkultur heute nichts zu spüren, vielmehr feiert man
sich selbst mit exklusiven Veröffentlichungen am internationalen
„Record Store Day“. Bei einer Tasse Kaffee in netter Gesellschaft
im „Ratzer Plattencafé“ wird mir bewusst, dass man sich kaum
besser auf ein Konzert vorbereiten kann.
Sophie Hunger habe ich in der
Vergangenheit wiederholt verpasst – ob Tübingen, Karlsruhe oder
Frankfurt, es kam immer etwas dazwischen. Trotz des zeitgleich stattfindenden Gastpiels von Sarah Blasko im BIX Jazzclub, fiel die Entscheidung also leicht. Ohne Vorband beginnt die talentierte schweizerische Künstlerin das Konzert mit „Rererevolution“,
dem eröffnenden Stück ihres aktuellen Albums „The
Danger of Light“. Es ist der
glänzende Gegenpol zu den volkstümlichen Schlager grölenden
Volksfestgängern, die einem kurz vorher noch am Hauptbahnhof über
den Weg liefen. Sophie Hunger im dezenten schwarzen Kleid sitzt
hinter ihrem Flügel, ein einziger Scheinwerfer fokussiert in diesem
Moment die Bühne und lässt die große Chansonette der
schweizerischen Gegenwart in hellem Licht erstrahlen. „Where
is my revolution, revolution?“, singt
sie in ihrer ganz eigenen weltentrückten Art.
Im Vorfeld hielt ich
sie bereits für eine charismatische Sängerin, mit einer fraglos
außergewöhnlichen, wenn auch nicht besonders guten Stimme im
klassischen Sinne. Wie bei Bob Dylan, dachte ich damals, wären ihre
Texte wichtiger, ihre schüchterne Selbstinszenierung von so viel
größerer Bedeutung als ihr bloßer Gesang. Im Theaterhaus dauert es
nicht lange bis ich mich eines Besseren belehren lasse. Spätestens
beim Refrain von „Can you see me?“ muss
ich offen
zugeben, mich verkalkuliert zu haben. Mir stehen die Nackenhaare zu
Berge, während ihre fantastische Band Meisterleistungen vollbringt.
Wie Björk oder
Tori Amos hat
sich die 29-jährige Diplomatentochter zu einer der großen „chicks
with attitude“ entwickelt,
wie es ein Freund bezeichnen würde. Dass sie als erste Künstlerin
aus der Schweiz 2010 beim Glastonbury Festival spielen durfte, dürfte
niemanden überraschen. Die Bühne ist in rotem Dämmerlicht
gehalten, Alexis Anerilles steuert am Mini-Moog wirkungsvolle Effekte
ein, während Sara Oswald am Cello Maßarbeit leistet.
Hunger reißt
den Mund weit auf, singt laut ohne unangenehm zu schreien.
Szeneapplaus. Meine Freundin ist seit vielen Jahren glühender Fan,
wollte mich seit wir zusammen sind, mit auf ein Konzert ihres großen
Idols, das sie das erste Mal im Berliner Lido sah, nehmen. Endlich
sind wir hier und ich bin ihr sehr dankbar, mich auf Hungers Musik
aufmerksam gemacht zu haben. „Shape“,
Katjas Lieblingssong, gibt es schon an dritter Stelle im Theaterhaus
zu hören, Trockennebel steigt auf, Hunger spielt akustische Gitarre.
Ohnehin ist „Monday's
Ghost“ von
2009 ein klassisches Meisterwerk moderner Popmusik zwischen Jazz und
Folk.
Erst
jetzt richtet die gebürtige Bernerin das Wort an das begeisterte
Stuttgarter Kulturpublikum. „Guten
Abend, es ist schön in einer Stadt zu spielen, die so weit weg
liegt.“ Gelächter
begleitet von Applaus erfüllt das Theaterhaus. Kunstpause. „Vom
Mars entfernt, wo wir herkommen.“ Es
soll nicht die einzige merkwürdige Aussage heute Abend bleiben, aber
so unberechenbar die Kommunikation mit dem Publikum ausfällt, so
wunderschön ist die Musik. „Weil
wir so einen weiten Weg hinter uns haben, spielen wir heute fünf
Stunden. Schön, dass ihr eure Zeit dafür opfert, zwei Stunden
Lebenszeit. Wir sind alle dabei zu sterben. Es ist Samstag, es ist
Frühling, auch wenn es nicht so aussieht.“
Die
Referenz auf Leonard Cohen, die Hunger in „First
We Leave Manhattan“ erweist,
fällt keinesfalls übertrieben aus. Langeweile kommt in den 100
Konzertminuten sowieso nie auf. Auf dem Cover ihres jüngsten Album
zeigt sich Hunger mit kritischer Miene mit umgehängter Lichterkette,
die Aura dieses Fotos trifft die Atmosphäre des Konzerts ziemlich
gut. Alles ist ungewöhnlich, vor allem ungewöhnlich gut. In seiner
Dynamik ist „Holy
Hells“
ein weiterer Beleg ihrer im deutschsprachigen Raum einmaligen Klasse.
Überhaupt ist Sophie Hunger die einzige Künstlerin, die mir
einfällt, der es mühelos gelingt Songs in vier Sprachen
aufzunehmen, ohne auch nur ansatzweise Gefahr zu laufen, sich
übernehmen zu können. Diesmal schreit sie markerschütternd ins
Mikrophon, ihre Mitmusiker toben sich an verschiedenen Instrumenten
aus. Flügelhorn und Bass tun ihr Übriges. Musikalisch ist das schon
hochklassiger zeitgenössischer Jazz, hohe Aufmerksamkeit erfordernd,
das Risiko, dass diese abnehmen könnte, besteht allerdings zu keiner
Zeit. Auf schweizerdeutsch folgt „Spiegelbild“,
ein hauchzarter Folksong, der mich in seiner Fragilität gefangen
nimmt. Konsequent ist es einen Song in ihrer Muttersprache deutlich
vor einem Lied auf deutsch zu spielen. Das Album „1983“
gefiel
mir in seiner gesamten Klangästhetik wohl am Besten, „Le
Vent Nous Portera“ ist
ein vortrefflich arrangiertes Chanson und das erste französische
Lied heute Abend. Die Kosmopolität der Schweiz an sich und die
kosmopolitische Kindheit in verschiedenen Ländern im Besonderen
formten aus der geborenen Emilie Jeanne-Sophie Welti eines der
imposantesten musikalischen Gesamtkunstwerke der alternativen
Musikwelt. Zu leugnen, dass Hunger der Traum eines jeden
Feuilletonisten sein dürfte, fällt mehr als schwer. Ist nahezu
unmöglich. Die kongeniale Melange verschiedenster Musikrichtungen,
die ihr gelingt, sichert der Schweizerin eine Ausnahmestellung. Was
ist sie nun? Jazzerin, Popsängerin, Chansonette? All das vereinigt
sie in sich und kreiert mit Sara Oswald (Cello, Gesang, Klavier,
Piano, Minimoog, Glockenspiel) aus Fribourg, Alexis Anerilles
(Rhodes, Minimoog, Gesang, Trompete, Flügelhorn, Bass) aus Paris,
dem spanisch stämmigen Schweizer Alberto Mallo (Schlagzeug, Gesang,
Beats, Glockenspiel) aus Lausanne und Simon Gerber (Bass, Gitarre,
Klarinette, Gesang) einen perfekten Sound.
Einige Minuten nimmt die
ausführliche, sympathische Bandvorstellung ein und jedes Wort ist
verdient. Ich wurde mal gefragt, ob man Sophie Hunger als riot girl
bezeichnen könnte, die Antwort fiel nicht leicht, aber Songs wie
„Das
Neue“ lassen
das Ganze nahe liegend erscheinen. Die Auseinandersetzung mit
Rechtspopulismus und Zeitgeist fällt subtil aus, Gerber spielt
verträumt auf der Klarinette. „Zuckerberg
ist der neue Columbus“, haucht
Hunger unvergleichlich.
Ihr schweizerischer Akzent ist immer
gegenwärtig, aber herrlich unterschwellig. „Wenn
du bald nachhause kommst, dann bin ich nicht mehr hier / Ich kann
nicht bleiben, wie ich bin, trotz dir hier“.
„Guten
Morgen 1983, wo sind deine Kinder?“ Der
Titeltrack des vorletzten Albums schlägt ein. Zuckersüß und
bitterböse raunt sie gekonnt verstörende Zeilen. „Meine Augen
sind aus Glas und ich sehe immer schärfer / Aus meinem Mund strömt
Gas und ich werde immer wärmer.“ Es läuft einem kalt den Rücken
herunter, die Kraft der Performance fasziniert, die Band harmoniert
besser den je. „Dann
singe ich dir ein Volkslied / Dann singe ich dir ein Volkslied / Weil
das alles ist, was ich hab'“, die
unnahbare Sängerin steigert sich in den packenden Refrain, großer
Beifall quittiert die Klasse. „Your
Personal Religion“ ist
fast ein klassischer Folkrocksong, der auch aus der Glanzzeit der New Yorker Singer-Songwriterin Suzanne Vega stammen könnte, „Citylights
Forever“ folgt
mit betörenden Klängen. Die drei aufeinanderfolgenden Songs von
„1983“
sind
einer von vielen Glanzpunkten eines erstklassigen Konzerts.
„Z'Lied
vor Freiheitsstatue“
von 2012 stellt schon den Schlusspunkt des regulären Sets dar. Auf
schweizerdeutsch gesungen, verstehe ich kein Wort, trotzdem steigen
mir Tränen in die Augen. Wenn Musik derartige Emotionen freisetzt,
ist sie über jeden Zweifel erhaben.
Dass
die Zugaben ausgerechnet mit meinem Lieblingssong der Schweizerin,
„Walzer
für Niemand“
beginnen, beglückt mich restlos. Es kann nichts mehr schief laufen;
ich erlebe ein perfektes Konzert, eines der besten des Jahres, das
steht bereits jetzt fest. Letzten Oktober fühlte ich mich bei Wilco
an gleicher Stelle ähnlich, es wurde mein Konzert des Jahres. Als
Song besitzt „Walzer
für Niemand“ mindestens
die gleiche Klasse wie „Via
Chicago“. So
charismatisch wie Jeff Tweedy ist Sophie Hunger allemal. „Niemand,
siehst du's, ich wachse nicht mehr / Meine Hände sind Füße,
Niemand schau her / Bald bin ich nichts und, was dann bleibt / Ist
deine Wenigkeit“.
Mit
„Souldier“
und
„Like
Like Like“ ist
der erste Zugabenblock der großen Musikerin, die auch auf dem
aktuellen Album des Stuttgarter Rappers Max Herre zu hören ist,
hochkarätig besetzt.
Der
Applaus wird immer frenetischer. Bei „Like
Like Like“ hüllt
gleißendes gelbes Licht das Publikum ein, während Hunger passende
Zeilen singt („I
like to see you“).
„Wir
haben einfach ohne zu fragen ein Foto von euch gemacht. Natürlich ist das ohne
Charakter, aber so ist das heute. Man fragt nicht mehr. Ihr könnt das Bild dann im
Internet sehen und euch beschweren, dass ihr nicht gut ausseht.
Überhaupt ist es besser nicht gut auszusehen als gut auszusehen. Gut
aussehende Menschen sind so langweilig.“ Der
ein oder andere scheint irritiert ob der Direktheit der Ansage, doch
keimt rasch Beifall auf, als das Quintett zum zweiten Mal auf die
Bühne zurückkehrt. „Leave
Me With The Monkeys“, das mich stellenweise an ein schönes Gospel erinnert, steigert sich
zu einem formidablen Crescendo. „The
Fallen“ und
„Train
People“ folgen,
ein Zuschauer überreicht Hunger ein selbst gebasteltes riesiges
Papierflugzeug.
Für
„Speech“
kehrt
die Band ein letztes Mal auf die Bühne zurück. Hunger fordert die
Zuschauer auf aufzustehen, sich bis an den Bühnenrand zu bewegen.
„Speech“
wird
hart kredenzt. Hunger spielt E-Gitarre, Begeisterung macht sich
breit. „Ihr
seid wunderschön“,
ruft eine sichtlich glückliche Sophie Hunger ins Auditorium und
entlässt tausend Stuttgarter nach einem traumhaften Abend in die
kühle Nacht und U-Bahnen voller betrunkener Wasen-Heimkehrer. Ich
bin ja ein großer Freund überschwänglichen Lobs, sofern es denn
berechtigt ist. Heute ist es mehr als das. Eine charismatische
Schweizerin spielt nicht nur „Walzer
für Niemand“,
sondern auch ein perfektes Konzert.
Setlist, Sophie Hunger, Stuttgart:
01: Rererevolution02: Can You See Me?
03: Shape
04: First We Leave Manhattan
05: Holy Hells
06: Heharun
07: Spiegelbild
08: Le Vent Nous Portera
09: Das Neue
10: 1983
11: Your Personal Religion
12: Citylights Forever
13: Z'Lied vor Freiheitsstatue
14: Walzer für Niemand (Z)
15: Souldier (Z)
16: Like Like Like (Z)
17: Leave Me With
The Monkeys (Z)
18: The Fallen (Z)19: Train People (Z)
20: Speech (Z)
Links:
- aus unserem Archiv:
- Sophie Hunger, Karlsruhe, 01.03.2013
- Sophie Hunger, Berlin, 19.02.2013
- Sophie Hunger, Paris, 29.01.2013
- Sophie Hunger, Berlin, 19.11.2012
- Sophie Hunger, Paris, 10.11.2012 (französisch)
- Sophie Hunger, Paris, 10.11.2012 (deutsch)
- Sophie Hunger, Paris, 09.03.2012
- Sophie Hunger, Paris, 06.12.2010
- Sophie Hunger, Haldern Festival, 14.08.2010
- Sophie Hunger, Paris, 02.06.2010
- Sophie Hunger, Köln, 29.09.2009
- Sophie Hunger, Köln, 09.05.2009
- Sophie Hunger, Paris, 23.03.2009
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