Freitag, 19. April 2013

Bernadette La Hengst, Stuttgart, 17.04.2013

Konzert: Bernadette La Hengst
Ort: Kulturzentrum Merlin, Stuttgart
Datum: 17.04.2013
Zuschauer: etwa 50
Dauer: 95 Minuten
















Die dünne Linie zwischen Punk und Schlager, die Toten Hosen haben sie unter einem platten Pseudonym in den Achtzigern einmal ziemlich deutlich offenbart. „Never Mind The Hosen – Here's Die Roten Rosen“ nannten die Düsseldorfer ihr 1987er Coveralbum mit allerlei Schlagerklassikern. Es wurde der erste Charterfolg der heutigen Stadionrocker. Ausgerechnet in Ostwestfalen, genauer im provinziellen Kurstädtchen Bad Salzuflen, spielte sich damals weit interessanteres ab. Die kreative Explosion um große Köpfe wie Bernd Begemann, Frank Spilker – der später Die Sterne ins Leben rief – oder Jochen Distelmeyer, der mit Blumfeld ein Star wurde, rettete die deutsche Popmusik vor der Tristesse der Bedeutungslosigkeit. Das Label „Fast weltweit“ entstand, an vorderster Front war damals auch Bernadette Hengst, die mit etwa 20 im Jahr des Hosen-Schlager-Punk-Albums zur illustren Musikerrunde stieß. Aus der Bad Salzufler Szene wurde später das, was man nach einem Tocotronic – Song „Hamburger Schule“ nannte und Bernadette Hengst war mit ihrer Frauen-Band Die Braut haut ins Auge das feministische Gesicht der Jugendbewegung, die eigentlich gar keine sein wollte – höchstens ein Teil davon.

Als Bernadette
La Hengst veröffentlichte die charismatische Musiker vier grandiose Alben, die mir beweisen, dass die dünne Linie zwischen Schlager und Punk tatsächlich übertreten werden kann, ohne dass man als Musiker in Fettnäpfchen treten muss. Als „Queen des Diskurschlager“ bezeichnete die ZEIT die Künstlerin mit dem ungewöhnlichen Namen. Diskurs betreibt Hengst, sicher; letztlich kreiert die 46-jährige bis heute stilsicher höchst politischen Electro-Pop-Punk, der die großen gesellschaftlichen Themen anpackt und daran nicht in pathetisch-leeren Phrasen erstickt.

Wie eindrucksvoll La Hengst den Bogen von schlageresken Melodien und Chören zur bissigen Gesellschaftskritik spannt, zeigt sie im leider nicht sonderlich gut besuchten Kulturzentrum Merlin, bereits mit „Integrier mich, Baby“, dem pulsierenden Titeltrack ihres aktuellen Albums, veröffentlicht beim vermutlich traditionellsten Independent-Label der Welt, Trikont. Die rote 90s Adidas-Trainingsjacke, dem Inbegriff des Outfits, das Hamburger Schüler und Tocotronic – Jünger damals trugen, legt Bernadette La Hengst bereits beim Betreten der Bühne ab. Mit Cowboyhut, entsprechenden hohen Stiefeln und gepunkteten Kleid lässt die charismatische Sängerin elektronische Musik vom Band laufen, während sie zum Mikrophon greift und sie von ihrer energischen Mitmusikerin perkussiv begleitet wird. 
Wie Christiane Rösinger, deren „Berlin - Baku. Meine Reise zum Eurovision Song Contest“ sie gerade liest und den Zuschauern ans Herz legt, ist La Hengst eine großartige emanzipatorische Figur, wie es sie in der deutschen Musikwelt nur ganz selten gibt. Nostalgie ist auch nicht ihre Tasse Tee, auf Songs ihrer alten Band wartet man vergeblich. Stattdessen gibt es das aktuelle Album fast in seiner Gesamtheit zu hören; ihre Texte liefern ein Panoptikum des verbleichenden kapitalistischen Traums neoliberaler Allmachtphantasien; die Musik klingt nur auf dem ersten Blick wie ein elektronischer Hybrid aus Rosenstolz und Marianne Rosenberg. „Aber du meine Liebste / Bist die schönste Rose / Die jemals erblühte, / In dieser Stadt ohne Stolz / In diesem Land ohne Würde“ hieß es einst im Debütalbum der viel zu schnell in Vergessenheit geratenen Hamburger Band Die Antwort, es sind Zeilen die auf die Musik der Hengst übertragen werden könnten. Ihr Verhältnis zum Antwort-Sänger, das sie im WDR Dokumentar-Hörspiel „Bad Salzuflen weltweit – Ein Feature über die Geburt des Diskurspops aus dem Geiste der Kurztaxe“ darstellt, ist dabei vollkommen nebensächlich.

Das träge Glück“ ist ein groovende Nummer, die mit bissigster Zeitgeistkritik aufwartet und mit ihrem Northern Soul Appeal beglückt. „Ich würd' gern mal nach Indien / Das kann man Google-Streetviewen“.

An der E-Gitarre macht die Vollblutmusikerin und Teilzeit-Theater-Regisseurin ein glänzende Figur, „Rolling Role Models“ wirkt wie eine leidenschaftliche Vorlesung in Gender Studies: „We're the queer generation / And I feel fine“. Die R.E.M. - Anleihe macht Spaß, der Aufruf „Körpergrenzen aufzulösen“ ist ehrlich. Das furchtbare Wort Authentizität, auf Bernadette La Hengst angewendet hat es wenigstens einen Zweck.


Auf „Liebe im öffentlichen Raum“ bezogen, versteht jeder sofort, was der Begriff Diskursschlager soll. Die Musik ist höchst schlageresk, das Klavier hüpft vor sich hin, Synthie-Streicher und Bläser wetteifern, während La Hengst fast kabarettistisch urkomische Sozialkritik betreibt. „Im Bundestag da debattiert man sich um Kopf und Kragen / wollen wir es wagen auch dort? / An diesem transparenten Ort wird man uns entdecken / und gleich ins Gefängnis stecken / Doch schon steigt der Puls / Es glüht die Kuppel / Das Glasdach schmilzt / Der alte Reichstag brennt / Wir beide nur im Hemd / Wir huschen schnell hinüber ins Kanzleramt.“ Die Kombination aus seichter Musik und bitterböser Lyrik, niemandem in Deutschland gelingt sie so formschön wie Bernadette La Hengst; man muss ihre Musik nicht mögen, vor ihrem Werk muss man den Hut ziehen. Von ihrem Cowboyhut trennt sich die Künstlerin hingegen erst relativ spät („Ich muss den Hut endlich ausziehen, sonst sieht es aus, als wäre ich seit Tagen mit einem Kochtopf auf dem Kopf herumgelaufen“), nur um ihn auf Publikumszuruf wenig später wieder aufzusetzen.

Erster nicht aktuelle Song heute Abend ist „Liebe ist ein Tauschgeschäft“ vom 2008er Album „Machinette“, bevor es mit „Deine eigene Art“ den herausragenden Opener von „Intergrier mich, Baby“ gibt. „Haus im Ozean“ eine interessante Auseinandersetzung mit dem Nahost-Konflikt mit einem treibenden Techno-Schlager-Beat im Hintergrund begeistert mich sehr. „Der beste Augenblick“ ist der vermutlich älteste eigene Song des Abends. Bernadette La Hengst und ihre Mitmusikerin spielen sich in Rage, die treuen Fans singen jede Zeile mit – und das nicht nur wegen der Erwähnung ihrer Mutterstadt im Liedtext. Die Sängerin malträtiert ihre Gitarre, schwitzt und beteuert erschöpft, dass sie soeben die beste Version des Songs in ihrer Laufbahn gespielt habe.

Als Theatermacherin überzeugt das Multitalent in Berlin und auch am bekannten Hamburger Thalia Theater; „Transformacion“, eine deutsch-spanische Nummer, die eigentlich ein Duett mit einer kolumbianischen Sängerin sei, ist so ein Beispiel für einen Theatersong. Der treibende Song mit einem Text über einen deutschen Juden, der vor dem Holocaust nach Kolumbien floh, lebt von Rhythmik und Inhalt, bevor von der Transformation als stärkste Integration auf eine tatsächliche physische Veränderung übergegangen wird; „Katharina hat für ihre neuen Brüste lang gespart / Adriana ist mit ihrer neuen Nase sehr apart“.


Duette finden sich auf „Integrier mich, Baby“ mehrere; „Grundeinkommen Liebe“ ist ein wunderbares Stück, das zusammen mit dem unnachahmlichen Rocko Schamoni entstand – es fällt schwer sich eine gelungenere Kollaboration vorzustellen. „Bedingungsloses Grundeinsingen“ heißt das aktuelle Theaterprodukt der Hengst, politisch klar einzuordnen, gelingt es ihr dennoch kreativ und ohne Plattitüden mit schwierigen Themen umzugehen. Bei „Niemals dorthin“ spielt sie im Publikum Gitarre, während um sie herum extravertiert getanzt wird und der Refrain mitgegrölt wird, teils mit erhobenen Fäusten; toll.

Der Schweiß läuft, auch der Schlagzeugerin und Bassistin, die vor allem als zweite Vokalistin mehr leistet, als man vom klassischen Sideman, Pardon Sidewoman, gewohnt ist, sieht man die Intensität der Performance deutlich an. „Happy End“ zum Beispiel ist quasi ein Duett der beiden, sogar ein sehr schönes. Dass danach ausgerechnet Michael Jacksons „Beat it“ knochenbrechend dekonstruiert wird, ist in seiner hemmungslosen Direktheit konsequent. Eine Studioversion entstand letztes Jahr für die „Thriller“-Tribute-Beilagen-CD des deutschen Rolling Stone. Bernadette La Hengst geht in die Knie, strapaziert ihre Gitarre, streut daraufhin ein paar Zeilen ihres Songs „La Beat“ ein. Ihre schonungslosen Coverversionen sind berüchtigt, unvergessen die deutsche Fassung des Johnny-Cash-Klassiker „A Boy Named Sue“ („Ein Mädchen namens Gerd“), doch derartiges habe ich live noch nicht erlebt. Musikalisch gut ist es natürlich nicht, aber schockierend auseinandergenommen, was gefallen muss.

Das sanfte „Liebe teilen“, mit dem die aktuelle Platte gelassen endet, stellt den Schlusspunkt des regulären Sets dar.

Jetzt beginnt das Wunschkonzert“, ruft die Sängerin, die ihren Hut wieder aufgezogen hat, ins Publikum. Einige Titel werden daraufhin abgelehnt („Das können wir nicht mehr“), gespielt werden „Hunger“ und „Nie mehr vor Mittag“, zwei der größten Klassikers ihrer Solokarriere. Ganz ohne an Schlager zu erinnern, hier ist der Punk. Die 50 bis 60 im Stuttgarter Westen sind glücklich, ich auch. Denn - Achtung Plattitüde - die Braut haut eben ins Auge.


Setlist, Bernadette La Hengst, Stuttgart:

01: Integrier mich, Baby
02: Das träge Glück
03: Rolling Role Models
04: Liebe im öffentlichen Raum
05: Liebe ist ein Tauschgeschäft
06: Deine eigene Art
07: Haus im Ozean
08: Schafft die Leidenschaft ab
09: Der beste Augenblick
10: Transformacion
11: Grundeinkommen Liebe
12: Ich bin drüber weg
13: Niemals dorthin
14: Süße Gefangenschaft
15: Happy End
16: Beat it (Michael Jackson – Cover)
17: Liebe teilen

18: Hunger (Z)
19: Nie mehr vor Mittag (Z)

 

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