Donnerstag, 12. Juni 2014

The National, Köln, 11.06.14


Konzert: The National
Ort: Tanzbrunnen, Köln
Datum: 11.06.2014
Dauer: The National 105 min, St. Vincent gut 35 min
Zuschauer: leider viel zu wenige



"Oh my god, it's still daytime!" Daß seine Band am späteren Nachmittag spielte, fiel Matt Berninger erst gegen Ende des Konzerts auf. Ab dieser Woche werden wieder Nacht für Nacht Hupkonzerte stattfinden, die gesellschaftlich vollkommen akzeptiert sind, Konzerte im Freien sind das offenbar nicht. Denn obwohl das Gelände des Tanzbrunnens von Messe- und Fernsehsender-Gebäuden umgeben ist, scheint 22 Uhr das fixe Veranstaltungs-Limit zu sein, weil vermutlich eine Minute später die ersten Anrufe bei der Polizei eingehen.


Daß großartige Künstler wie The National nicht gegen die in Deutschland unschlagbare Kombination Fußball/Autofahren anstinken können, ist nicht überraschend. Daß aber offenbar auch am Vorabend der WM andere Konkurrenz so stark war, daß sich viel zu wenige für dieses Open Air Konzert interessierten, ist ein Trauerspiel. Vermutlich tat das Verkehrschaos der Veranstaltung nicht gut. Auch die Anfangszeit (St. Vincent 18:45, The National 20:00) war sicher nicht hilfreich. Aber die großen Lücken überall auf dem Platz hatten die Bands nicht verdient.

Als St. Vincent auftrat, war noch kaum etwas los. Annie Clark, die Frau hinter St. Vincent, hatte ich 2006 als Vorgruppe von Sufjan Stevens zum ersten Mal erlebt. Dieser kurze Auftritt und ein zweiter als Hauptgruppe im Gebäude 9 2007 waren ruhige Konzerte mit vielen Klavier- und Geigentönen. Seitdem hat sich die Amerikanerin in vielerlei Hinsicht radikal verändert. Aus der schüchtern wirkenden Pianistin mit Strickmütze ist eine extrovertierte Gitarristin mit Robert-Smith-Frisur und blutverschmierten Kleid geworden. Im vergangenen Sommer hatte ich Annie als Teil der großen David Byrne & St. Vincent Revue erlebt, einem Konzert mit Marching-Band und voll durchchoreographierten Bewegungen, daß aber nicht nur wegen der eingestreuten Talking Heads Stücke hervorragend war. Wenn sich das Konzept der Indie-Kreuzfahrten bewährt, sollte der Veranstalter diese Show fest buchen.

Beim aktuellen National-Support tritt (trat, es war die letzte gemeinsame Show) St. Vincent als vierköpfige Band auf, mit zwei Keyboardern und einem Schlagzeuger neben Annie Clark. Die meisten Stücke stammten vom neuen Album St. Vincent, das ausgezeichnete Kritiken bekommen hat, das ich aber natürlich noch nicht gehört hatte.

Nichts an dem Auftritt wirkte wie ein normales Konzert, viele Elemente erinnerten mich an ein Musical. Jede Kopfbewegung der Sängerin und ihrer Keyboarderin war einstudiert, Annie Clark bewegte sich wie ein Roboter, wenn sie darauf wartete, eine neue Gitarre umgehängt zu bekommen. 


Ich habe das Konzept dahinter nicht verstanden. Ein blutiges Kleid und Roboterbewegungen? Hätte es dann nicht ein ölverschmiertes Kleid sein müssen? Oder stellte die Künstlerin keinen Roboter dar sondern eine Verletzte, die sich wie einer bewegt? Es sah jedenfalls gut aus, auch wenn ich es nicht kapiert habe. Auch Annies Ausflüge auf den kleinen Steg im Fotograben und die rosa Pyramide mitten auf der Bühne, auf der sie Prince Johnny und Cheerleader spielte, waren toll. Meine St. Vincent Platte werde ich vermutlich auch weiterhin ungeöffnet im Schrank stehen lassen, ich bin zu selten in Lebenssituationen, in denen ihre "sperrige" (Musikjournalistensprache) neuere Musik passt - mir fallen gerade gar keine ein. Aber das Konzert war trotzdem sehr gut!

Setlist St. Vincent, Tanzbrunnen, Köln:

01: Rattlesnake
02: Dgital witness
03: Cruel
04: Every tear disappears
05: Prince Johnny
06: Cheerleader
07: Marrow
08: Regret
09: Birth in reverse 


Daß The National sehr gute Konzerte spielen, habe ich oft erlebt. Im Herbst hatte ich das Gefühl, dies langsam zu oft erlebt zu haben. Neunmal hatte ich Matt Berninger und die zwei Zwillinge gesehen. Die letzte Platte, die arg ruhig ist, und die immer gleichen Überraschungsmomente bei den Konzerten (der Ausflug bei Mr. November, die Ausbrüche vor allem bei Squalor Victoria und das akustische Ende mit Vanderlyle crybaby geeks), das fing langsam an, mich zu langweilen. Gerade die neueren Stücke, die das Tempo aus den Konzerten rausnahmen, passten mir nicht. Bei Lieblingsbands redet man sich aber oft alles schön. Die Platte wurde auch immer besser, vermutlich auch objektiv. Aber sie wird kein Liebling werden.


Einige Freunde, die viel mehr Ahnung davon haben, schrieben mir, daß die letzte Konzerte ausgezeichnet gewesen seien, daß die neueren Lieder mittlerweile anders arrangiert seien und passten viel besser zum Rest. Ich wäre auch ohne hingefahren, die Informationen beruhigten mich aber schon. Und als die ersten Töne vom grandiosen Start a war losgingen, war mir eigentlich egal, wie viele Stücke aus dem Schmusesongs-Regal gespielt würden. Start a war gehört wie Racing like a pro, Apartment story, Ada, Slow show und Green gloves zu den Lieblingen, die zu selten gespielt werden.


Die nächsten fünf Lieder, die ich unterschiedlich gerne mag, waren allesamt umwerfend! Dreimal neue Platte, dreimal fantastisch! Wir waren uns schnell einig, daß nichts mehr schiefgehen könne. Band und Sänger waren brillant, trotz des hellen Lichts und der vielen Lücken. Von Routine oder gar Lustlosigkeit war nichts zu spüren. Und auch wenn The National jetzt im Kino zu sehen sind, hielt ich dies nicht für Schauspielerei.

Sea of love lieferte den ersten Ausbruch des Frontmanns. Auch diese Schreiereien und Randalierereien sind natürlich Standard bei National-Shows. Heute kam mir Matt Berninger aber besonders krawallig vor (und das ist gut!). Afraid of everyone hatte ein wildes, chaotisches Ende, Squalor Victoria eh. Matt teste sein Material sehr viel intensiver als sonst. Er schlug sein Mikro nicht nur gegen den Ständer (wie üblich), er schmiß es auf den Boden, schlug die Weinflasche dagegen - oder seinen Kopf. Es war ein Genuß! Der Soundmann der Band führt Statistik, wie viele Mikros, Mikroständer und Funkempfänger kaputtgehen. Ich habe noch nicht nachgezählt*, nach meinem letzten Konzert im Herbst sind aber eine ganze Menge neue Markierungen auf die Liste gekommen. Matt scheint auch wieder von einer Bühne gefallen zu sein, auch das wird dort erfasst.


Die meisten der neueren Stücke hatten ordentlich Schwung. Humiliation war ein schönes Beispiel, wie man aus einem echten Langweiler mit einem ordentlichen Ausbruch einen Hit macht. Ich brauchte also gar nicht meine alten Boxer-Favoriten für ein großartiges Konzert! Trotzdem war Green gloves eine schöne Überraschung! Am Ende wirkte dann die Wein-Sonne-Kombination, kurz nachdem Matt bemerkt hatte, daß es noch taghell war. Bei Graceless steigerte er noch einmal die Materialtests seiner Spielzeuge (der TÜV Rheinland, der Luftlinie 500 m entfernt sitzt, hätte einen Beobachter schicken sollen). Fake empire danach, das letzte Stück vor den Zugaben, war musikalisch dann großer Mist, weil der Sänger rhythmisch komplett neben der Band lag und trotz deren Bemühungen - einer der Dessners (der linke) sang übertrieben laut mit, als spiele er Metronom - nicht mehr in die Spur fand. Das Lied war trotzdem riesengroß!


Bei den Zugaben kam eine weitere Neuerung, ein Cover. "Wir spielen ein Lied von Perfume Genius, das zehnmal düsterer und depressiver als jeder unserer Songs ist", kündigte Matt Berninger an. Weil das Lied aber so romantisch-schmusig klang, hielten sich die Pärchen in meiner Umgebung plötzlich alle viel fester im Arm als vorher, den düsteren Part hatten sie offenbar überhört ("No one will hear all your crying until you take your last breath..."). 

Der Rest war Standard-Programm. Mr. November mit dem Ausflug ins Publikum und der sehr schönen Szene, daß Matt an dessen Ende einen Mann, der neben seiner Freundin ganz am Rand stand, umarmte, wie es Betrunkene mit Hauswänden machen! Zu Terrible love kam Annie Clark zurück auf die Bühne. Und Vanderlyle... war weit weniger platt als nach nur recht guten Konzerten. 


Ich dachte, ich wäre drüber hinweg. Aber seit diesem Auftritt will ich die Band schon bald wiedersehen. Verdammt!

Setlist The National, Tanzbrunnen, Köln:

01: Start a war
02: Don't swallow the cap
03: I should live in salt
04: Anyone's ghost
05: Bloodbuzz Ohio
06: Sea of love
07: Hard to find
08: Afraid of everyone
09: Squalor Victoria
10: I need my girl
11: This is the last time
12: Green gloves
13: Abel
14: Apartment story
15: Humiliation
16: Pink rabbits
17: England
18: Graceless
19: Fake empire

20: Learning (Perfume Genius Cover) (Z)
21: Mr. November (Z)

22: Terrible love (Z)
23: Vanderlyle crybaby geeks (Z)

Links:

- aus unserem Archiv:
- The National, Mannheim, 01.06.14
- The National, Paris, 18.11.13
- The National, Brüssel, 17.11.13
- The National, Esch-sur-Alzette, 06.11.13
- The National, Düsseldorf, 05.11.13
- The National, Zagreb, 02.07.13
- The National, Paris, 25.06.13
- The National, Camber Sands, 09.12.12
- The National, Barcelona, 27.05.11
- The National, Eindhoven, 18.02.11
- The National, Paris, 23.11.10
- The National, Neu-Isenburg, 18.11.10
- The National, Wien, 18.08.10
- The National, Haldern, 14.08.10
- The National, Latitude-Festival, 16.07.10
- The National, Paris, 07.05.10
- The National, Haldern, 09.08.08
- The National, Montreux, 16.07.08
- The National, Köln, 27.11.07
- The National, Paris, 14.11.07

- St. Vincent, Mannheim, 01.06.14
- St. Vincent, Paris, 18.02.14
- St. Vincent & David Byrne, Larmer Tree Gardens, 30.08.13 
- St. Vincent, Paris, 09.07.12
- St. Vincent, Paris, 26.02.12
- St. Vincent, Paris, 30.11.11
- St. Vincent, Köln, 19.11.11
- St. Vincent, Paris, 26.04.09
- St. Vincent, Köln, 02.12.07
- St. Vincent, Köln, 10.11.06

- mehr Fotos hier

* jetzt schon: seit 17. November 9 Mikros, 16 Mikroständer und ein Sturz von der Bühne



1 Kommentare :

Catweazle hat gesagt…

Auch ich habe St. V. zum ersten Mal im Gloria mit Sufjan gesehen, und danach dann im Gebäude 9, genau wie Du, und fand sie damals ganz toll. Ihre Platten, auch die neue, gefallen mir ebenfalls sehr. Aber was sollte das komische Gehabe im Tanzbrunnen? Die einstudierten Bewgungen, kein Wort ans Publikum - das wirkte ja fast schon autistisch. Mich hat das jedenfalls ziemlich abgetörnt.
Der Drummer war übrigens Matt Johnson (Jeff Buckley, Rufus Wainwright etc.)

Tja, und the National? Sorry, but I just don't get it. Schon lange versuche ich, die Band zu mögen - dabei fand ich die Band am Mittwoch durchaus nicht unsympathisch, obwohl zunächst fast eine Stunde lang weder zwischen den Bandmitgliedern noch mit dem Publikum irgendein Kontakt stattfand. Irgendwie war's merkwürdig (aber dann auch wieder passend zu Annie Clarks Auftritt). Ich fand das Konzert insgesamt interessant, aber die Musik läßt mich leider immer noch ziemlich kalt...

 

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