Mittwoch, 24. November 2010

The National, Paris, 23.11.10


Konzert: The National

Ort: 'L'Olympia, Paris
Datum: 23.11.2010

Zuschauer: ausverkauft
Konzertdauer: fast 100 Minuten



Un concert somptueux, magistral et renversant! Dans vingt ans on va se dire: The National 2010 à l'Olympia: "J'y étais!"


Boah, ey! Alter! Der Hammer!

Aber formulieren wir doch etwas gewählter: Das Konzert von The National im legendären Pariser Olympia war einfach atemberaubend gut! Eine epische, absolut denkwürdige, ja lebensverändernde Show, von der man 20 oder 30 Jahre später sagt: "ich war dabei".

So etwas sieht und hört selbst ein Konzertjunkie wie ich sehr selten. Brillanter Sound, ein stimmlich bestens aufgelegter Matt Berninger, Bläser die mich in den siebten Himmel tröten, postpunkige Gitarren, die melodisch schrammelig klirren, das es eine helle Freude ist, ein stakkatisches Schlagzeug, das fast 100 Minuten lang fehlerlos hämmert und Hits über Hits! Wer da noch ein Haar in der Suppe findet, dem ist wirklich nicht zu helfen. Und Matt war nicht nur stimmlich sensationell, sondern auch in den Pausen zwischen den Liedern erstaunlich gesprächig, heiter, fast selbstsicher. Wenn er sich aber das Mikro griff, agierte er urplötzlich wieder wie ein Besessener. So wie heute ist er noch nie ausgerastet! Zum Standarprogramm gehörte bisher, daß er bei Squalor Victoria und Mr. November seine elegante Zurückhaltung aufgibt und rumbrüllt wie ein Gestörter. Heute aber tat er das aber bei sehr vielen Songs und es wirkte noch nicht einmal aufgesetzt oder einstudiert. Matt Berninger also der legitime Thronfolger von Ian Curtis. Gänsehaut pur!

Musikalisches Highlight? Ganz klar der postpunkige Killersong Available (Album Sad Songs For Dirty Lovers), der mich förmlich wegfegte. Schönster Moment? Die akustische Zugabe Vanderlyle Crybaby Geeks, bei der mir die Trompete emotional so sehr zusetzte, daß ich Sternchen sah.

Morgen mehr. Stay tuned!

So. Wer will mehr? Diejenigen, denen die Zusammenfassung reicht, lesen bitte nicht weiter, für die anderen gibt es zusätzliche Details:

Dienstag, der 23. November in Paris. Ein grauer Tag, wie so oft in den letzten Wochen. Zu Hause lasse ich High Violet laufen, das aktuelle Album von The National. Ich komme erneut zu der ernüchternden Erkenntnis, daß dieses Werk nur gehobener Durchschnitt ist. Vier Songs, Runaway, Anyone's Ghost, Conversation 16 und Afraid Of Everyone ragen heraus, der Rest ist eher fad. Mir fehlen ganz einfach die Gitarren und alles ist zu glatt und harmonisch durcharrangiert. Ich fühle mich müde und niedergeschlagen, wie so oft in den letzten Jahren. Zum Glück gibt es Konzerte. Wenn sie gut sind, verfliegt meine Schwermut, bin ich mich endlich wieder unbeschwert und frei. Ob mir der Gig von The National heute abend angenehme Gefühle bereiten , mich aufbauen wird? Ein wenig skeptisch bin ich schon, zumal Christoph kürzlich nicht gerade schwärmerisch vom Konzert in Neu-Isenburg berichtet hat. Aber das Olympia ist nun einmal nicht die Hugenottenhalle. Ohne die Neu-Isenburger beleidigen zu wollen: das Olympia ist eine ganz andere Hausnummer. In diesem legendären Saal traten schon Piaf und Brel auf und von Jeff Buckley und vielen anderen Größen gibt es Live-CDs, die dort entstanden sind. Ob es wohl auch eine CD/DVD The National live à L'Olympia geben wird? Vieles spricht dafür, denn heute sah man überall aufgebaute Kameras am Bühnenrand. Sie werden dokumentieren, was ich und etwa 2500 andere Fans gehört und gesehen haben. Eine fantastische Show, die in die Geschichte eingehen wird...

Es beginnt bereits sehr vielversprechend. Um 20 Uhr 50 gehen die Lichter aus und die Band tritt auf die Bühne. Schon beim ersten Lied, der Ballade The Runaway, wird klar, daß nichts schief gehen kann. Der Sound ist brillant, glasklar und perfekt ausgesteuert. Die Stimme von Matt, manchmal live ein Problembär, kommt fast genauso weich und rund wie auf Platte rüber. Bei den vorgehenden Konzerten, die ich erleben durfte, war sie immer deutlich knarziger und rauer. Im Hintergund laufen Videos auf einer Leinwand, ich kann sie aber auf Grund meiner Position seitlich von der Bühne kaum sehen. Mistaken For Strangers kommt bereits an dritter Stelle und mischt zum ersten Mal das ansonsten eher ruhig und bedächtig zuhörende Publikum etwas auf. Anders als in Neu-Isenburg kennen die Leute den Backkatalog von The National sehr gut. Mistaken for Strangers wird euphorischer aufgenommen als das zuvor gespielte Anyone's Ghost. Auch die anderen beiden Knüller von Boxer, Squalor Victoria und Fake Empire werden später ähnlich stark abgefeiert. Die Besucher im Olympia sind fachkundig, es sind kaum Ahnunglose darunter und vor allem steht das launische und elitäre Indiepublikum trotz der neuesten Erfolge nach wie vor hinter The National. Es sind auch ein paar Leute da, die die Amerikaner bereits bei ihrem ersten Pariser Konzert auf dem Hausbot Guinguette Pirate (heutiger Name: La Dame de Canton) gesehen haben. Damals dürften kaum 100 Leute Zeuge der Show gewesen sein und auf diesen Umstand weist auch Matt schmunzelnd hin. "Sind Hélène und Sigrid eigentlich heute im Publikum?", will der Anzugträger wissen. Ja sie sind es, haben ihm und der Band die Stange gehalten. Berninger betreibt an etlichen anderen Stellen Konversation dieser Art, für mich bisher eher ungewohnt. Der Erfolg scheint ihn lockerer, gesprächiger gemacht zu haben. Oder ist er nur der Wein, den er trinkt? Weißwein wohlgemerkt. Die (2.?) Flasche hat Matt nicht aufbekommen und sich draufhin einfach einen Drumstick genommen, in den Flaschenhals gesteckt und das Ding zum Explodieren gebracht. Am Ende der Show gibt er die Pulle einem Fan, ohne davon getrunken zu haben. Eine der vielen netten Gesten, die es heute zu beobachten gibt. Witzig auch, wenn der frankophile Bryce Dessner auf französisch parliert und Matt ganz skeptisch nachfragt: "What did he say? It makes me nervous when Bryce talks in french!" Aber Matt muss sich keine Sorgen machen, denn Bryce erzählt nur nette Dinge über Matt, auch wenn er einmal scherzhaft meint: "J'ai dit que tu es un connard- ich habe gesagt, daß du ein Idiot bist." Lockere Stimmung also und dies beim wichtigsten Pariser Konzert von The National bisher. Es wirkt deshalb nicht aufgesetzt und anbiedernd, wenn Bryce auf französisch betont: "Wir wissen, daß es ein große Chance ist, in diesem legendären Saal für euch zu spielen."

Und diese Chance haben The National definitiv genutzt! Sie geben heute alles, legen sich 200 % ins Zeug und kompensieren auch die Abwesenheit des famosen Liveviolinisten Padma Newsome, der sonst den Sound von The National mit seinem gefühlvollen Spiel bereichert. Matt ist jedenfalls bis in die lichten Haarspitzen motiviert und bringt die Leute von der Security am Ende ganz schön ins Schwitzen. Zu Mr. November macht er einen Abstecher ins Publikum (nichts Neues) und auch bei Terrible Love nimmt er immer wieder Kontakt zu den Fans auf. Er peitscht sie im letzten Drittel förmlich an, klettert auf die Absperrung und brüllt ihnen die Parolen aus nächster Nähe ins Ohr. Es ist wirklich ein unfassbares Konzert, in jeder Hinsicht. Natürlich sind die Posen der Gebrüder Dessner (das gleichzeitige Hochreißen der Gitarren, das demonstrative Aufbauen am Bühnenrand) einstudiert, aber im Olympia bleibt wenig Plaz für Improvisation. Da muss alles flutschen. Dennoch schafft es die Band, human und authentisch zu wirken. Im Mittelteil spielen sie mit Lit Up und Abel zum Beweis Lieder, die nicht auf der Setliste vorgesehen waren. Sie schlagen genauso ein wie der Rest des famosen Sets. Auch der Zugabenteil ist spetakulär. Nach dem erwähnten Ausflug ins Publikum bei Mr. November gibt es noch ein Terrible Love, das tausend mal besser als auf Platte ist und vor allem mit Vanderlyle Crybaby Geeks eine Zugabe, bei der das Publikum im Chor mitsingt und die Trompete ganz wundervoll die feierliche Stimmung untermalt.

Großartig! The National im Olympia in Paris 2010: ich war dabei!




Setlist The National, Olympia, Paris:*

01: Runaway
02: Anyone's Ghost
03: Mistaken For Strangers
04: Bloodbuzz Ohio
05: Baby We'll Be Fine
06: Slow Show
07: Squalor Victoria
08: Afraid Of Everyone
09: Available
10: Lit Up
11: Cardinal Song
12: Conversation 16
13: Sorrow
14: Apartment Story
15: Abel
16: Daughters Of The Soho Riots
17: England
18: Fake Empire

19: Lucky You
20: Mr. November
21: Terrible Love
22: Vanderlyle Crybaby Geeks

* danke an Jaz', die mitgeschrieben hat und dies zu Recht! Die getippte Setlist, die sich Fans hinterher unter den Nagel rissen, war nämlich stellenweise falsch. Es fehlten auf dieser Lit Up und Abel, zwei Songs die definitiv gespielt wurden. Wir vom Konzerttagebuch begnügen uns nie mit ungefähren Informationen, sondern versuchen so genau wie möglich zu recherchieren. Schön, wenn uns Leute dabei helfen :)

Aus unserem Archiv:

- The National, Neu-Isenburg, 18.11.10
- The National, Wien, 18.08.10
- The National, Haldern, 14.08.10
- The National, Latitude-Festival, 16.07.10
- The National, Paris, 07.05.10
- The National, Haldern, 09.08.08
- The National, Montreux, 16.07.08
- The National, Köln, 27.11.07
- The National, Paris, 14.11.07



8 Kommentare :

Christoph hat gesagt…

Deswegen schreibe ich ja immer mit, auch wenn das oft mitleidige Blicke auslöst.

Wow, das klingt sehr gut!

Oliver Peel hat gesagt…

Christoph, du brauchst nun endlich einen Assistenen, oder besser noch eine Assistentin. Das kann ja nicht so weitergehen ;-)

Ansonsten gilt: Birne einschalten. Dass sie Abel und Lit Up gespielt haben, konnte ich mir auch ohne Notizbuch merken!

Christoph hat gesagt…

Ich fand das akustische Ende zwar im Prinzip sehr schön, es passt aber nicht zu The National. Daher ist es sehr schön aber überflüssig.

Claudia hat gesagt…

Wow, vielen Dank für diesen absolut mitreißenden Bericht. Dieses Konzert wird ja wohl kaum noch zu toppen sein :-)! Wobei ich meine beiden Konzerte dieses Jahr in Dachau und vor 10 Tagen an der Ostsee auch ziemlich traumhaft fand und der Un-plugged-Schlusssong war schlicht gigantisch. Warum sollte das nicht zu The National passen? Gruß aus Stuttgart

Christoph hat gesagt…

Die Videos bei Rockerparis sind toll!
(Mr. November vor allem)

Claudia, an der Ostsee müssen sie ja auch besonders toll gewesen sein. War das Olympia noch besser?

Claudia hat gesagt…

Die Frage, was besser war könnte wohl nur Matt Berringer beantworten! Aber der RS Weekender ist eine Rundumempfehlung. Das Gesamtpaket war einfach insgesamt so perfekt und ich beneide dich sehr um den Dezemberausflug zum Bowlie 2. Bin mal sehr gespannt was es da zu berichten geben wird, wobei die Engländer bestimmt feierwütiger sein dürften als das gediegene Publikum am Weißenhäuser Strand.

David hat gesagt…

Ich kann hier an meiner Stelle nur auch nochmal ein großes Lob für den Bericht aussprechen. Bis auf, naja, diese eine Stelle oben in der Einleitung als du bei den besten Stücken des neusten Albums ganz klar Bloodbuzz Ohio vergisst, da ich finde dass der Song immer eine ganz spezielle Stimmung mit sich bringt :). Aber leider konnte ich sie noch nicht live erleben (früher: zu jung, um Konzerte zu besuchen, und jetzt verdammt nochmal immer verhindert gewesen, wo sie doch so oft in der Nähe waren...). Ich hoffe, sie kommen zukünftig öfters über den Teich und spielen auch mal ein paar Shows mit Get Well Soon, denn The National ist eine Band, der der Erfolg wirklich zu gönnen wäre.

Oliver Peel hat gesagt…

Danke Claudia und David :)

Bloodbuzz Ohio ist gut, ragt für mich aber nicht heraus. Ich empfehle übrigens die "expanded version" des neuen Albums, denn dort sind unveröffentlichte Lieder und zwei sehr gute Livestücke drauf.

 

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