Konzert: Die Nerven
Vorband: Angelo Fonfara
Ort: Beatbox im Club Schocken, Stuttgart
Datum: 06.02.2014
Dauer: Die Nerven 66 Minuten / Angelo Fonfara 34 Minuten
Zuschauer: 70 (ausverkauft) + etwa 20 auf der Treppe
Es ist eines dieser Konzerte, das man nicht verpassen will. Die mittlerweile in den großen Medien stattfindende Gruppe Die Nerven lädt zum Release-Konzert ihrer neuen Platte „FUN“ in die Beatbox im Club Schocken in der Innenstadt. Fünf Euro Eintritt, keinerlei Vorverkauf, keine Gäste- oder VIP-Liste und nur 70 Karten steigern den exklusiven Charakter. Im Publikum versammeln sich Fans, bekannte Gesichter des Stuttgarter Journalistenbetriebs, Szenegrößen und jede Menge Musiker. Dass es trotzdem keinesfalls um ein schnödes Sehen und Gesehenwerden geht, steht dennoch außer Frage. Die Leute sind hier, weil sie die Band sehen wollen. Keine halbe Stunde nach Einlass werden die ersten Besucher an der Abendkasse abgewiesen. Ausverkauft! Vom Plattenteller läuft der passende Soundtrack. Schönheiten der 60er, Songperlen und Superpunks Andreas Dorau-Cover.
Nach einer halbstündigen Dada-Show mit Gitarre und Drum Machine von Angelo Fonfara, einem interessanten Newcomer mit enormen Bewegungsdrang, steht die beste Band der Stadt und eine der zukunftsträchtigsten Formationen des Landes auf der Bühne. „Max hat eine neue Gitarre, chic.“ Mein Nebenmann freut sich über Veränderung und ist erstaunt, als sich die vermeintliche E-Gitarre als Bass entpuppt. Max Rieger und Julian Knoth eröffnen mit einer erschlagenden Breitseite tiefer Bassläufe. Das hat dann ein wenig Doom Metal Appeal und so erinnert „Ich erwarte nichts mehr“ live kurz eher an die frühen Black Sabbath als an den kompromisslosen Noise Punk, den Die Nerven seit gut zwei Jahren perfektionieren. Wer jetzt befürchtet Rieger, Knoth und Kevin Kuhn würden einen überraschenden Stilbruch wagen, wird selbstredend beruhigt. Kuhns Schlagzeugspiel treibt den Song mit üblicher Finesse und als der Übergang in „Eine Minute schweben“ funktioniert, gewinnt der Abend zunehmend an Fahrt.
Innerhalb eines Jahres sehe ich Die Nerven zum sechsten Mal, stets haben sie sich verbessert. So auch heute. Die zum besonderen Anlass des Konzerts naheliegende Nervosität verdrängt die Gruppe mit dem, was sie auszeichnet, nämlich einer atemberaubenden Performance. Nur einmal muss ein Stück nach einem verpatzten Anfang wiederholt begonnen werden. Dass musikalische Präzision im Noise Punk gänzlich nebensächlich ist, muss an dieser Stelle nicht gesondert betont werden.
Doch beweisen die neuen Stücke die wachsende Qualität der Songstrukturen. Waren die Stücke auf „Fluidum“ und vor allem auf „Asoziale Medien“ noch – zugegeben brillant – pulsierende bruchstückartige, fast schemenhafte Skizzen, sind die neue Songs wie „Albtraum“, „Blaue Flecken“ oder „Rückfall“ zunehmend melodiös. Was „Irgendwann geht’s zurück“ oder „Dienstag Nachmittag 16:30“ andeuteten, wird in diesen Songs konsequent zu Ende gedacht.
Waren Die Nerven schon zur Veröffentlichung von "Fluidum" eine sehr gute Band, die zurecht die Aufmerksamkeit des deutschen Rollings Stones, der SPEX und auch dieses Blogs auf sich ziehen konnte, ist das Stuttgarter Trio spätestens jetzt eine echte Sensation. Das ekstatische Publikum im engen Kellerraum spricht Bände über die Performance und die Klasse der neuen Stücke. Als Max Rieger vor „Angst“ erwähnt, dass auch für diesen Song ein Video gedreht wurde, das etwas mit Tocotronic zu tun habe, lüftet der riesige Gitarrist auch beiläufig das Geheimnis um eine mögliche Kollaboration mit den Hamburgern, ohne zu viel zu verraten. Das von Julian Knoth gesungene „Angst“ mutiert anschließend in seiner schonungslosen Darbietung, der originellen Rhythmenwechsel und der unterschwelligen Energie genau in der Setmitte zum großen Höhepunkt des Abends.
Spätestens jetzt ist das alles ein Selbstläufer. Die Nerven schenken mit „Der Letzte Tanzende“ am Schluss gebührend ein und zeigen sich als exzellente Gastgeber. Kuhn spielt im Twisted Sister-Shirts, dessen er sich rasch entledigt und später mit einem Hawaiihemd ablöst, mit aufgerissenen Augen und Mund harte, rasend schnelle Rhytmen, während Knoth und Rieger Feedback-Gewitter zünden. Dass der Abend mit dem wütend schleppenden, bitterbösen „Morgen breche ich aus“ und hartem Zynismus endet, passt da perfekt ins Bild. Die wütenden jungen Männer glänzen in ihren Bühnenrollen als die Verkörperung des misanthropischen Nihilismus.
Als Zugaben „Stuttgart Kaputtgart“ von der Mythen umrankten Stuttgarter Punklegende Ätzer 81 und „Schützenliesel“ zu spielen, ist ein Geschenk an die Zuschauer. "Betonstadt, Betonstadt, ich hab' deine Mauern satt!" Die Nerven versöhnen die Szene der Wohnstadt Stuttgart mit dem spießigen Klischee.
Eine große Band der Zukunft ist in der Realität angekommen. Am nächsten Morgen steht „FUN“ in den Läden und der Hype um die schwäbische Noise-Punk-Sensation nimmt groteske Züge an. Nachdem es kurz zuvor von Jan Wigger als „eine der wichtigsten und besten deutschsprachigen Platten dieses Jahrzehnts“ gelobt wurde, folgen am Tag der Veröffentlichung das Newsportal von Arcor und die Online-Ableger von N24 und dem Focus mit Kaufempfehlungen. Und der Focus ist einmal auf meiner Linie. Bizarre Welt.
Setlist Die Nerven, Stuttgart:
01: Ich erwarte nichts mehr
02: Eine Minute schweben
03: Für Jahre
04: Albtraum
05: Irgendwann geht's zurück
06: Angst
07: Dienstag Nachmittag 16:30
08: Hörst du mir zu?
09: Blaue Flecken
10: Rückfall
11: Der letzte Tanzende
12: Morgen breche ich aus
13: Stuttgart Kaputtgart (Ätzer 81-Cover) (Z)
14: Schützenliesel (Z)
Links:
- aus unserem Archiv:
- 17.01.2013, Die Nerven, Stuttgart
- 07.12.2013, Die Nerven, Karlsruhe
- 06.09.2013, Die Nerven, Stuttgart
- 01.08.2013, Die Nerven, Stuttgart
Tourdaten:
13.02. Dornbirn (A), Spielboden
14.02. München, Unter Deck
15.02. Graz, Forum Stadtpark
16.02. Wien (A), Rhiz
17.02. Nürnberg, K4
18.02. Leipzig, Conne Island
19.02. Berlin, Monarch
20.02. Hamburg, Uebel & Gefährlich
21.02. Köln, King Georg
22.02. Wiesbaden, Schlachthof
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