Sonntag, 27. November 2011

Bill Callahan, Paris, 26.11.11


Konzert: Bill Callahan
Ort: La Gaité Lyrique
Datum: 26.11.2011

Zuschauer: ausverkauft

Konzertdauer: mindestens 100 Minuten


Wow! Bei Bill Callahan wird das Wort sensationell noch einmal ganz neu definiert. Wenn ich neulich bezüglich einer Sängerin mit aufgespritzten Lippen diese Vokabel benutzt habe, dann muss für den ehemaligen Smog Sänger eine Steigerung um zwei Stufen her. Bill ist also nicht nur sensationell, sondern am sensationellsten!

Sein Konzert in der modernen und recht neuen Pariser Location La Gaité Lyrique (Bill ans Publikum: "do you like this new venue?- I do!") war wirklich ein Zungenschnalzer. Zusammen mit seinem etatmäßigen Drummer (der Kerl trommelt auch bei Joanna Newsom) und einem noisigen E-Gitarristen zelebrierte er höchst elegant seine zahlreichen starken Songs, verlieh ihnen mehr Dynamik und Intensität als auf den Alben und begeisterte einmal mehr mit seiner einmaligen Baritonstimme und seinem famosen Songwriting.* Wie immer äußerlich kühl und emotionslos (der Kerl lacht wirklich nie, zumindest nicht auf der Bühne), agierte er hochkonzentriert und inspiriert und kitzelte das Letzte aus seinen Liedern heraus, vor allem aus America!, das ein ganz besonderes Glanzlicht in einem Konzert voller Höhepunkte war.



Da staunten die zahlreich vertretenen Pariser Indiemusiker imPublikum (H-Burns, June et Jim, Pierre & Marie, Marie Marie Cells...) nicht schlecht. Bill hat ihnen mal gezeigt, wie wahnsinnig hoch er die internationale Messlatte legt. So hoch, daß auch ein Ass wie Warren Ellis (Nick Cave, Grinderman) verwundert in seinem langen Bart wuschelte und hinterher zufrieden nach draußen schlenderte.

À propos schlendern: mein Bett ruft. Auch ein Konzertblogger muss mal pennen.

Bonne nuit, wir lesen uns morgen wieder!

Und so verlief das Ganze genau:

Samstag der 26. November in Paris. Ein Tag voller Nostalgie. In ein paar Tagen werden wir nach 9 Jahren unsere heißgeliebte Wohnung verlassen müssen. Die Heimatstätte der insgesamt 41. Oliver Peel Sessions, sie gibt es dann nicht mehr. Ob wir in der neuen Wohnung diese intimen Konzerte veranstalten können, steht in den Sternen. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes in den Sternen, denn da die Zimmer in der neuen Bleibe so klein sind, daß wir dort kaum Leute empfangen können, wäre die Terrasse (mit Blick auf die Sterne?!) der einzige (allerdings überaus geniale) Ort ist, wo man so etwas machen könnte. Stellt sich natürlich die Frage, ob da die Nachbarn mitspielen. Die alte Hausverwalterin meint, die Leute im Hause seien spießig und beschwerten sich gern mal über Lärmstörungen. Au weia! Wenn wir Pech haben, war's das dann mit den Oliver Peel Sessions...

Enstprechend wehmütig fühlte ich mich an diesem Samstag. Verunsichert und ziemlich deprimiert zeigte ich einem Freund mein neues Zuhause und glotzte mit ihm über die Dächer der Stadt. Auf unserer Terrasse im achten Stock hat man wirklich eine prima Aussicht! Mein Freund kümmerte sich aber nicht großartig darum und meinte nur schelmisch grinsend, ich solle diese Fläche Porno-Produzenten für ein bis zwei Tage zum Drehen zur Verfügung stellen. Die Typen würden 1.500 Euro pro Tag dafür zahlen (woher der so etwas weiß??). Ich winkte augenzwinkernd ab. Was wenn mein Kater Schamzonenathleten in voller Aktion sieht? Er wäre traumatisiert! No way!

Ob der Samstag wenigstens am Abend noch besser werden würde? Nachdem mich bereits Other Lives versetzt und ihren Showcase (16 Uhr) in der in unserer Nähe gelegenen Fnac kurzfristig abgesagt hatten? Ich musste mein Glück erzwingen. Aber wie? Zum Konzert von Bill Callahan tigern, wohlwissend, daß die Show eigentlich ausverkauft war und ich weder Ticket noch Akkreditierung hatte? Riskant. Ich wagte es trotzdem und ließ mich auch nicht davon beirren, daß ich wieder einmal viel zu spät losgegangen war. Verwirrt wie ich war, latschte ich Trottel dann nach dem Ausstieg aus der U-Bahn zuerst in die falsche Richtung und verlor zusätzlich wertvolle Zeit. Erst gegen 21 Uhr 45 stand ich dann schließlich vor der riesigen Eingangstür der prachtvollen Gaité Lyrique. Bullige Ordner versperrten mir den Weg, fragten mich wo ich hin wolle. "Na zum Konzert von Bill Callahan", antwortete ich knapp. Einer der Gorillas schlurfte daraufhin rein und richtete mir aus, er werde sich erkundigen, ob man dafür noch Karten kaufen könne. Man konnte und gegen Bezahlung von relativ fairen 22,50 Euro war ich nach Erklettern der zwei Treppenstockwerke drin! Die Leute standen dicht an dicht und von der Bühne erklang das Kleinod Too Many Birds. Ein wundervolles Lied vom Vorgängeralbum Sometimes I Wish We Were An Eagle, das ich heiß und innig liebe. Der Sound schien mir da hinten wo ich war aber nicht optimal zu sein. Meter um Meter kämpfte ich mich nach vorne, getreu dem Motto: "Lassen sie mich durch, ich bin Arzt (bzw. Blogger, genauer: Oliver Peel). Spätestens ab Lied fünf war ich schön weit vorne und konnte Bills emotionslosen Gesichtsausdruck gut beobachten. Er war wie immer kühl wie eine Hundeschnauze, lächelte nie, auch nicht, wenn nach den jeweiligen Liedern euphorischer Applaus aufbrandete. Sein Blick wirkte leer und müde, aber all seine Gefühle steckte er in seinen Gesang, so daß sein apathisches Äußeres nicht den Konzertgenuß trübte. Wahnsinn allein, wie elegant er seine Gitarre hielt und bearbeitete! Neben Troy von Balthazar, Paul Banks von Interpol und Stuart Stables von den Tindersticks ist der Amerikaner einer der elegantesten Musiker überhaupt. Alles bei ihm wirkt immer so federleicht, so mühelos, so souverän. Nie forciert er seine senationelle Baritonstimme, stets erscheint sein Fingerpicking virtuos und lässig. Eine Wonne ihm zuzuschauen! Aber auch seine beiden Mitmusiker verdienten sich Bestnoten. Drummer Neal Morgan (auch bei Joanna Newsom aktiv) variierte perfekt zwischen getragenem und wuchtigerem Spiel, beschleunigte wenn es sein musste, nahm dann aber im richtigen Moment auch immer Tempo und Intensität wieder raus. E-Gitarrist Matt Kinsey sorgte für die noisigen Momente. Er verzerrte reglmäßig die Töne, gab ihnen einen schwebend-dröhnende Note und schuf so einen spannenden Kontrast zur hell perlenden Akustikgitarre von Callahan.

Besonders schön, daß die ohnehin schon ausgezeichneten Albumversionen dadurch noch deutlich verbessert wurden. Alles klang druckvoller, intensiver, emotionsgeladener und einzelne Giarrensoli wurden noch deutlicher herausgearbeitet. Allein die mindestens 10 Minuten lange Version von America! war das Kommen wert. "What an army, what an air force, what a marine!" intonierte Callahan diesen ungemein ryhthmischen Song auf zynische Weise und als er trocken hinterherschickte: "I never served my country" johlten ein paar Amerikaner im Publikum laut auf. Auch hier verblüffend wie elegant und fast beiläufig er seine Gesellschaftskritik formulierte und am Ende textlich fast mit Frohmut verkündete: "ain't enough teat, ain't enough teat, ain't enough to eat."

Andere Höhepunkte in dem durchgängig hochkarätigen Set war das früh gebrachte The Wind & The Dove ("And I am a child of linger on", ach wundervoll!) und Eid Ma Clack Shaw, der eingängigste Track vom Vorgängeralbum. Herrlich trippelnd und leichfüßig der Anfang, catchy der Refrain: "show me the way, show me the way, to shake a memory", jubilierend und melodiös die Gitarren, zackig das Schlagzeug.

Absolut herzerwärmend dann auch das zu Beginn lagsam fließende Say Valley Maker (Smog), das Callahan von seiner nachdenklichen Seite zeigte: "oh I never realized, death is what it meant to make it on my own."

Zu diese Endphase des extensiven Konzertes war ich schon weit nach vorne durchgedrungen und fühlte die Magie immer stärker. Zwar war der moderne Rahmen der Gaité Lyrique nicht unbedingt passend für ein Folkkonzert, aber die im vorderen Teil exzellente Akustik kompensierte dieses Manko aufs Beste. Leider waren wir aber schon sehr weit vorangeschritten und nach dem Traditional In The Pines verließen Bill und seine beiden Mitstreiter erstmals die Bühne. Nach einer kurzen Pause ging es aber noch einmal weiter und nun kamen mit Blood Red Bird und River Guard auch die Smog Fans auf ihre Kosten.Von denen schien es ein paar zu geben (das laute Johlen wies sie als solche aus. Oder war das nur Bluff und Aufschneiderei?), obwohl mir hinterher auch ein paar Leutchen erzählten, sie hätten Bill Callahan zum ersten Mal in ihrem Leben live gesehen. Ich selbst konnte hingegen mit dem nun vierten Konzertbesuch prahlen und zufrieden verkünden, daß jedes dieser Konzerte wundervoll, aber immer anders instrumentiert und interpretiert wurde, so daß man sich auch in 10 Jahren noch nicht daran satt gehört und gesehen haben wird. Falls denn der gute Bill dann noch auf der Bühne steht. Aber was sollte ihn daran hindern? Außer einer immer mit einzukalkulierenden Depression und Schreibblockade sehe ich nichts, was den weiteren Aufstieg des großartigen Künstlers verhindern könnte. Zusammen mit Bonnie "Prince" Billy bildet er ein exquistes Nachfolgeduo für die in die Jahre gekommenen Bob Dylan und Neil Young.

Der 26. November hatte also doch noch ein gutes Ende für mich vorbehalten. Und jetzt heißt es Kisten packen!

Setlist Bill Callahan, La Gaité Lyrique, Paris

01: Riding For The Feeling
02: Baby's Breath
03: Too Many Birds
04: The Wind And The Dove
05: Universal Applicant
06: Honeymoon Child
07: America!
08: Our Anniversary
09: Drover
10: One Fine Morning
11: Eid Ma Clack Shaw
12: Say Valley Maker (Smog)
13: Let Me See The Colts (Smog)
14: In The Pines (Smog)

15: Blood Red Bird (Smog)
16: If You Can Touch Her At All (Lee Clayton)
17:
River Guard (Smog)

Aus unserem Archiv:

Bill Callahan, Paris, 12.02.10
Bill Callahan, Paris, 28.08.09
Bill Callahan, Paris, 16.05.08


* writing ist das Stichwort: das Buch von Bill Callahan, Letters To Emma Bowlcut, gab es am Merch käuflich zu erwerben.



3 Kommentare :

E. hat gesagt…

ach...

Oliver Peel hat gesagt…

Was bedeutet denn jetzt "ach..."? Erbitte eine Erklärung, Eike.

E. hat gesagt…

nur ausdruck meines neids und stille anerkennung, dass du dir das konzert nicht hast entgehen lassen.
schöner bericht übrigens, sehr lesenswert. danke dafür!

 

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