Samstag, 16. November 2013

ChameleonsVox, Paris, 08.11.13


Konzert: ChameleonsVox
Ort: Le Nouveau Casino
Datum: 08.11.2013
Zuschauer: sehr gut gefüllt, quasi ausverkauft, um die 400 Leute also
Konzertdauer: etwa 75 Minuten


In den 1980ern musikalisch sozialisiert zu werden, heißt nicht automatisch jede gute Band mitbekommen zu haben. Im Gegenteil, da viel Schrott in jenem Jahrzehnt produziert wurde und meine Geschmacksknospen auch noch nicht sonderlich gut ausgeprägt waren, hörte ich viel Italo-Disco, die Pet Shop Boys und Michael Jackson. Nicht aber Wedding Present, And Also The Trees, The Wake oder The Chameleons, um die es hier gehen soll. Das war einfach zu speziell, so daß es nicht im kommerziellen Radio lief und damit auch nicht an meine ungeübten Ohren drang. Das Internet gab es noch nicht und so waren die einzigen Post Punk und New Wave Bands, die ich kannte The Cure, New Order und Sixouxsie and The Banshees.

Erst in den frühen 2000er Jahren habe ich mich ausführlich in das Werk von Joy Division eingearbeitet und da ich wegen der dürftigen Diskografie der Kultband aus Manchester Nachschub brauchte, stieß ich irgendwann zwangsläufig auch auf The Chameleons. Deren leicht pathetischer Gitarrensound entzückte mich auf Anhieb außerordentlich! Das klang weniger monoton als Joy Division, war melodischer, euphorisierender, trotz der omnipräsenten Schwärze und den düsteren Texten. Später las ich dann, das Interpol -eine meiner Lieblingsbands-, maßgeblich von The Chameleons beeinflußt wurden, was man recht deutlich raushört.

Allerdings hatte ich schnell ein Problem. Da ich spätestens mit dem Beginn dieses Konzertagebuchs hier zum Konzertnerd mutierte, gaben mir CDs deutlich weniger als Liveauftritte. Aber wo und wann die Chameleons noch mal live sehen? Die spielten doch gar nicht mehr. Ich musste mich mit den Alben trösten und linderte meine Bedürfnisse durch den Konsum von Livevideos auf Youtube als die Chameleons beispielsweise 1985 im Camden Palace spielten. Da konnte man merken, wie stark Mark Burgess und seine Kollegen auf der Bühne waren, wie viel Feuer und Leidenschaft in ihren Gigs steckten, was sie für ein intensives Lebensgefühl vermittelten. Verflucht, diese Band musste ich wenigstens einmal in meinem Leben live sehen!


2012 erregte dann eine Meldung mein Interesse: The Chameleons würden beim Primavera Festival in Barcelona spielen. Ich musste mehrfach überprüfen, um es sich um die richtigen Chameleons handelte, schließlich kamen mehrer Gruppen auf die Idee, diesen Namen zu wählen (deshalb irgendwann auch einmal die Bennung in The Chameleons UK). Aber es stimmte tatsächlich, es war die Band, die ich meinte. Aus Zeit-und Kostengründen schaffte ich es aber nicht nach Spanien. Und Christoph, der vor Ort war, schaute sich den Auftritt von Mark Burgess, der inzwischen als Chameleons Vox firmierte, noch nicht einmal an, so daß ich auch keinen Bericht zu lesen bekam.

2013 sollte ich dann aber endlich meine Chance bekommen. Kurz nach den großen Sommerferien las ich irgendwo die frohe Botschaft: "ChameleonsVox en concert au Nouveau Casino, 8 novembre 2013". Ich strich mir den Termin sofort dick und rot in meinem Kalender an.

Als der große Tag gekommen war, hastete ich fiebrigen Schrittes in die Location. Mit dabei meine Frau, die ich gezwungen hatte, sich das Ganze auch anzusehen, aus musikerzieherischen Gründen, denn bis vor kurzem glaubte sie, die Editors seien gut. Wir kamen genau pünktlich zum ersten Lied an, hatten beflissentlich die Vorgruppe The Cemetary Girlz ausgelassen. Im Leben muss man sich auf das Wesentliche konzentrieren. Im Nouveau Casino war es saumäßig voll. Alte, verlebte Waver und ein paar jüngere Nachtschattengewächse bevölkerten die Location.

Um etwas zu sehen kletterte ich per Treppe nach oben, guckte mir den Gig von dort aus an. Der Standort war eigentlich super, allerdings gab es gleich neben mir eine Raucherecke, in der Leute hinter einer Glaswand rauchten bis ihnen die Lungen platzten. Ständig blies mir eine Rauchwolke in die Nase. Aber von solchen Widrigkeiten wollte ich mich nicht beeinflussen lassen. Zu lange hatte ich auf diesen Augenblick gewartet, jetzt wollte ich einfach nur genießen, Mark Burgess live zu sehen. Von den alten Chameleons war auch noch der ex-Drummer John Lever dabei (an der Gitarre!), allerdings sah ich die Musiker nicht, weil ich den modernen Kronleuchter des Nouveau Casino vor der Nase hatte. Der verhindert auch, daß ich vernünftige Fotos schießen konnte, aber darauf war an jenem Tage geschissen. War eh mehr was für die Ohren als fürs Auge, zumal die Musiker quasi durchgehend im Schummerlicht performten.

Aber wie sie performten! Der Sound: astrein! Die Stimme von Mark: wie früher (das heißt verraucht und etwas kurzatmig, aber so gut wie unverändert). Die Stimmung: bombig! Von Anfang an ging die Post ab und die Leute vorne tanzten friedlich Pogo. Nicht, um sich gegenseitig weh zu tun, sondern um zu den zackigen Ryhthmen voll mitzugehen. Es wurde wirklich hart und kompromisslos aufgespielt, das war kein seichter Pop fürs Radio, das war authentischer Post Punk, messerscharf, hundsgemein und wunderbar melancholisch.

Der erste Track, der so richtig ins Schwarze traf war Paper Tigers. Ein Kultsong der mit seiner markanten Gitarrenmelodie genauso stark klang wie damals. "too much makes me lazy, not enough and it makes me crazy", nörgelte Burgess vor sich hin und im Refrainteil mit Falsetteinschlag "they always keep themselves clean". Zeilen die ich auswenig kannte und laut mitsang.

Ein Highlight auch Soul in Isolation ("soul in isolation, I can hear you breathing down the hall"). Der Titel wurde voll und ganz ausgereizt und in einer speziellen Form gespielt. Mark Burgess machte sich einen Spaß daraus, Eleanor Rigby ("all the lonely people, where do they all come from?") und Get Back ("get back to where you once belonged") von den Beatles in sehr düsterer Weise reinzumischen, bevor er wieder zu dem eigentlichen Song zurückfand: "I'm alive in here, i'm alive in here" schrie er aus voller Kehle und die Leute in den ersten Reihen tanzten wie wild. 

Dann gab es mit Sycophants In Her Pants auch ein Stück von seiner vier Titel umfassenden neuen Ep, die ganz brauchbar, aber nicht überragend ist. An das alte Material kommt sie jedenfalls nicht ran und gerade jenes alte Material wollten wir Fans hören. Wir bekamen es natürlich auch in der Folge  wieder geboten. Bei Singing Rule Britannia wurden erneut Schnipsel von Klassikern verwurstet (White Riot von The Clash und Transmission von Joy Division: "dance, dance, dance to the radio!" schrien plötzlich alle), bevor Sekond Skin, die Leute dazu animierte, in einen Singalong einzustimmen. Mit Sicherheit ihr poppigstes Stück, aber auch unwiderstehlich gut und in höchstem Maße mitreißend. Dann aber wurde schon der Abgang geprobt und wäre das Konzert jetzt zu Ende gewesen, wäre ich ziemlich enttäuscht nach Hause gegangen. Es fehlten einfach noch einige ihrer stärksten Nummern. Die bekam man aber nun gleich im Dreier Pack. Monkeyland ("it's a trick of the light"), eine herrlich aggressive Version von In Shreds und das hymnische Don't Fall versetzten das Nouveau Casino in Ekstase. Es steppte wirklich der Bär, die Stimmung schäumte über, ein Typ kam sogar auf die Bühne und sprang von dort aus ins Publikum und allzu gerne hätte ich noch mindestens 20 Minuten mehr gehört und gesehen. Nach 75 Minuten war aber Schluß, schließlich ist Mark nicht mehr der Jüngste und muss seine Stimmbänder schonen. Er und seine neue Band hatten mich begeistert meine hohen Erwartungen definitiv erfüllt.


Wäre ich selbst jünger und spontaner, ich säße jetzt im Auto nach Deutschland, um mir die Shows in Köln, Berlin und Frankfurt anzugucken! Geht da hin, Freunde, ihr werdet es nicht bereuen!!

Setlist:

01: Swamp Thing
02: Looking Inwardly
03: Paper Tigers
04: Perfume Garden
05: Tears
06: Less Than Human
07: Feel The Need
08: Soul In Isolation
09: Sycophants In Her Pants
10: Singin Rule Britannia
11: Sekond Skin

12: Monkeyland
12: In Shreds
14: Don't Fall

Konzerttermine: 

15.11.2013: Sputnik Halle, Münster
16.11.2013: Blue Shell, Köln
17.11.2013: Bi Nu im Schlesischen Tor, Berlin
18.11.2013: Fundbureau, Hamburg
19.11.2013: Das Bett, Frankfurt



2 Kommentare :

Philipp hat gesagt…

Danke für den wunderbaren Bericht, für mich war das Comeback von Mark Burgess völlig überraschend. Jetzt so was zu lesen ist eine gelungene Zeitreise und das Ihr in Paris ganz ohne Hemmungen in Nostalgie schwelgt und die alten Nummern feiert - herrlich! ich persönlich habe die Chameleons/Burgess in den frühen 90ern zweimal gesehen, einmal in der - nicht minder großartigen - Formation The Sun and the moon. Von den Konzerten war ich allerdings eher enttäuscht, weil ich die Chameleons damals vergötterte, auf der Bühne aber Menschen vorfand. Schon in den frühen 90ern spielte Marc eine kleine Comeback-Tour, in der er alte Nummern zelebrierte. Ich empfand das damals als unwürdig. Jetzt sehe ich das etwas gelassener und bin ziemlich traurig, dass ich erst heute von den Deutschlandkonzerten erfahre. Wäre gerne dabei gewesen. Umso dankbarer bin ich für den Bericht und die Erkenntnis, dass Leute wie du diese Band immer noch verehren! Beste Grüße - Philipp

Peter hat gesagt…

Schade, dass Du nicht im Bett in Frankfurt am 19.11.2013 dabei warst. Es war unverständlicherweise relativ leer (so ca. 150 Leute). Aber egal! Nachdem mein letzes Chameleons-Konzert (Kulturfabrik Krefeld) nun 13 Jahre her ist, war dieses Konzert einfach gigantisch! Danke Mark Burgess!!!
Gruß Peter

 

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