Konzert: Billy Bragg mit support Kim Churchill
Ort: Tollhaus in Karlsruhe
Datum: 13. November 2013
Dauer: 30 min + deutlich über 100 min
Zuschauer: 350
Man darf über alles reden, nur nicht über eine Stunde.
Diese Lebensweisheit hat der große alte Mann des britischen Protestsongs gestern leider nicht beherzigt. Was dazu geführt hat, dass ich 23:10 Uhr beim Beginn von Reckoning aufgegeben habe und heimgefahren bin. Mit mir übrigens eine ganze Traube anderer auch (und wir waren nicht die ersten). Nun gibt es sicher eine ganze Menge Leute, die gestern auch bis zum Schluss begeistert geblieben und New England noch abgefeiert haben und heute auf einen tollen Abend zurückblicken. Denen will ich ihre Freude beileibe nicht ausreden. Aber mich hat es irgendwann nur noch genervt, ich war müde nach deutlich über drei Stunden stehen nach einem normalen Arbeitstag und ab Fascists war die Lautstärke der Bandstücke auch so, dass ich eigentlich Ohrstöpsel gebraucht hätte (die aber zu Hause liegen geblieben waren, weil das im Tollhaus eher selten nötig ist).
Zwei Beispiele will ich hier einfügen. Er fand wohl den Namen Schießer für Unterwäsche sehr lustig, weil er ihn als Scheißer gelesen hat. Scheißer-Unterhosen-haha. Ist vielleicht ein bisschen lustig für einmal merken, wie nah Schießer und Scheißer sind, aber er ritt 5 Minuten darauf herum ohne auf Einwürfe einzugehen, die ihn zu berichtigen versuchten. Diese Blödel-Ansagen gab es in der ersten Hälfte eher häufig (z.B. auch auf Kosten von Morrissey und über seine Erkältung, die endlos Gesprächsmaterial lieferte - der einzig witzige vielleicht, dass er heut Songs of struggle mit einem weiteren Sinn füllen würde). In der zweiten Hälfte schaffte er es, in den politischen Aussagen noch ausschweifender zu werden. Zwischen Sexuality und Reckoning schaffte ich es, z.B. in aller Ruhe an die Bar zu gehen, zu warten bis ich dran bin, ein Bier zu bestellen, es in aller Ruhe zu trinken, auf die Toilette zu gehen, meine Fotos durchzusehen und in den Saal zurück zu gehen, wo es immer noch 2 min dauerte, bis Reckoning anfing.
Das schlimmste dabei ist, dass ich ihn eigentlich sympatisch finde und in den meisten Dingen komplett seiner Meinung bin. Wir haben auch gelacht! Ich hätte das also alles eher begeistert aufsaugen müssen. Außerdem kann ich ja stundenlang diesem lokal gefärbten Englisch zuhören und bis gestern hätte ich gesagt, no matter what about. Stimmt nicht. Das war definitiv Mißbrauch meiner Lebenszeit.
Musikalisch war es für mich auch eher gemischt. Der Mann am Kontrabass und E-Bass war ein herrlicher Hingucker (solange ich vorn stand). Es gab zwölfundneunzig Gitarren auf der Bühne, dafür aber eher wenig kunstvolles an denselben. Und ein nicht so begeisterndes Stück wurde nicht besonders schnell von einem abgelöst, was mir wieder mehr zusagte, weil zwischendurch so viel geredet wurde. Billy Braggs Stimme war von einer Erkältung angeschlagen, was man aber gar nicht so arg gehört hat. Jedenfalls war es nicht nötig, dass er nur noch Gitarre spielt und das Publikum singen lassen muss, wie es ihm in Minneapolis wohl einmal ergangen ist (Stoff für Legenden).
Gelohnt hat sich der Ausflug ins Tollhaus natürlich trotzdem, denn ich habe ihn einmal live erlebt und die australische Ein-Mann-Vorband Kim Churchill hatte uns in 30 min mehr an musikalischem Witz geboten als viele an einem Abend unterbringen.
Er saß mit seiner Gitarre, einem Mischpult, das er mit seinen nackten Zehen bediente (Drehschalter!), einer großen Trommel für den anderen Fuß und Mundharmonika um den Hals installiert - rechts neben sich noch ein Glockenspiel, das er öfter mit dem Ende der Gitarre strich - und zündete musikalisch ein mitreißendes und beim hingucken erst recht einzigartiges Feuerwerk. Ich habe noch nie jemanden so Gitarre spielen sehen. Er griff immer wieder von oben her die Saiten und hatte auch eine ganz eigene Art, die Saiten zu schlagen. Sein Plektrum hatte er sich mit Isolierband an den Finger geklebt.
Er widmete sein erstes Lied der Einsicht, dass Heimat für ihn eher eine geistige Haltung sei, nachdem er in den letzten Jahren Wohnwagen ge- und verkauft habe um in allen möglichen Ecken der Welt unterwegs zu sein. Sein zweiter Song war Windows to the sky, recht poppig. Als drittes hatte er eine explosives Gemisch vorbereitet, das er als New song I'm working on ansagte.
Sein vierter Song begann mit einem fast wütend zu nennenden Mundharmonika-Intro (wahrscheinlich Tides). Seine Einführung dazu sagte, es sei ein Lied übers Geschirr spülen... Bathed in black war seine Nummer fünf und das Set endete dann extrem bluesig, wobei er es schnell und laut und mit vielen Überraschungen garnierte. Die Musizierhaltung des Blues also etwas uminterpretierte.
Diesen jungen Mann hatte ich nach den Hörproben also komplett unterschätzt. Als live-Erlebnis kann ich ihn wärmstens weiterempfehlen!
Die Truppe ist noch heute (14. November) in München und morgen (15. November) in Frankfurt und anschließend in Großbritannien unterwegs.
Setliste Band
1: Ideology
2: Nokna
3: Way O
4: Swallow my pride
5: Fascists
6: Got no
7: Neighborhood
--- eingeschobenes Soloset ---
8: Goodbye
9: Sexuality
10: Reckoning
11: Handyman
12: California Stars
13: New England
14: Great Leap (Z)
Mitschnitt München (Danke Missmoremusic):
Aus den Archiven:
Billy Bragg, 25.09. 2008 in Paris von Oliver
Billy Bragg, 02.11. 2013 in Düsseldorf von Frank
1 Kommentare :
Schade, dass es Dir zu viel Gerede war. Dies macht allerdings ein Billy Bragg Konzert aus und ist eben zu 50% Grund überhaupt hinzugehen. Normalerweise redet Billy auch über Fussball, was aber in Karlsruhe ja eher keinen Sinn macht. Ich habe seine bisherigen Konzerte immer in NRW erlebt, meistens Köln oder Bochum. Schon im Foyer im Tollhaus hatte ich den Eindruck, dass im Südwesten ein anderes Publikum anwesend ist, das vermutlich seiner Musik und Bühnenpräsenz nicht ganz folgt. Dies hat sich dann leider auch im Saal bewiesen, wo dann an Schwätzer auch rote Karten verteilt werden mussten. Deine Begeisterung über Kim Chuchill teile ich komplett.
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