Dienstag, 9. November 2010

Alina Orlova, Paris, 08.11.10


Konzert: Alina Orlova

Ort: Le Café de la Danse, Paris
Datum: 08.11.2010

Zuschauer: mindestens 400, so gut wie ausverkauft

Konzertdauer: 90-100 Minuten



Es gibt Konzerte, die verändern dein Leben. Nicht, daß man hinterher keine Einschlafprobleme, Rückenschmerzen oder Geldsorgen mehr hat, nein, diese Veränderungen sind nicht gemeint. Es geht vielmehr darum, das man das Gefühl hat, etwas unglaublich Bewegendes und Prägendes erlebt zu haben. Und diese Erfahrungen machen dein Leben insgesamt wesentlich schöner und glücklicher.

Heute fand ein solches Konzert statt und ich durfte Zeuge sein. Dabei hatte es heute zunächst nicht danach ausgesehen, daß ich emotionale Höehpunkte erleben würde. Müde und völlig geplättet von der gestrigen Oliver Peel Session, begab ich mich ohne große Erwartungshaltung ins Café de la danse in Paris, wo die litauische Pianistin Alina Orlova auftreten sollte. Ihren Namen hatte ich vorher gefühlte 250 mal gehört und ich wusste auch, daß sie überwiegend in ihrer Landessprache singt, viel mehr war mir aber nicht bekannt. Obwohl sie schon ein paar mal in Paris gespielt hatte und ihr Debütalbum Laukinis Suo Dingo beim famosen Pariser Label Fargo vor ein paar Monaten erschienen war, kam ich bisher nie dazu, mich mit der jungen Dame genauer zu beschäftigen.



Der Auftritt im Café de la Danse war zuschauertechnisch ihr bisher größter. Alle Sitzplätze waren besetzt und vor der Bühne kauerten zudem mindestens 100 Mitbürger auf ausgelegten Teppichböden. Eine Vorgruppe gab es wohl nicht, aber das war mir auch egal. Ich wollte Alina sehen und hören, sonst niemanden. Und dann kam sie auch. Eine großgewachsene rotblond gelockte junge Frau mit einem roten Kleid, einer warme Strumpfhose und Stiefelchen, nahm auf dem Stühlchen hinter dem Yamaha- Flügel Platz. Sie legte ohne Begrüßungsformel sofort los und ich stellte fest, daß ich einen miesen Platz erwischt hatte: ich sah die Pianistin nur von hinten. Na ja, ein schöner Rücken kann ja auch entzücken...

Sie sang auf litauisch, manchmal russisch und in seltenen Fällen englisch. Abgesehen von ihren Landsleuten und ein paar Russen im Publikum verstand niemand die Texte. Sie hätte die übelsten Flüche in ihre Lyrics packen können, wir hätten es nicht kapiert und dennoch artig geklatscht. Während der ersten paar Lieder, ging mir die ganze Zeit ein Gedanke durch den Kopf. Ich dachte permanent daran, daß ausgebuffte Plattenbosse uns arglosen Musikhörern engelsgleiche Pianistinnen auf den Hals hetzen, nur um uns einzulullen und uns unsere Kohle aus der Tasche zu ziehen. Alles eine moderne Masche. Die Labels wissen haargenau, daß wir Blut geleckt haben, seitdem uns junge Klavierspielerinnen wie Soap & Skin, Frida Hyvönen, Agnes Obel und Regina Spektor die Birne matschig geklimpert und uns unserer Sinne beraubt haben. Die Assoziation zu Regina Spektor lag sowieso auf der Hand. Gleiche slawische Herkunft, gleiches Tasteninstrument und auch die lockige Haarpracht haben Regina und Alina gemein.

Ich blieb zunächst skeptisch und emotional aseptisch. Die würde mich nicht so schnell weich kriegen, dachte ich immer wieder. Aber von Lied zu Lied änderten sich meine Empfindungen, bis das Pendel irgendwann in die andere Richtung ausschlug. Aus Skepis wurde Ergriffenheit, aus Ergriffenheit absoulte Euphorie und Hörigkeit. Die letzten zwanzig Minuten des zeitlich üppigen Sets waren emotional mit die bewegendsten, die ich je bei einem Konzert erlebt hatte. Ich war dem grazilen Spiel und dem anmutigen Wesen von Alina völlig verfallen. Das Mädel imponierte mir durch ihre Bescheidenheit, ihre Natürlichkeit, ihre angenehm offene Art. "I don't have much to say, really" sagte sie in einer Szene in ihrem etwas holprigem englisch. Statt vieler Worte zwischendurch, ließ sie ihre tiefmelancholischen Lieder sprechen. Den Stücken wohnte die typisch slawische Schwermut inne, mit der mich schon eine Alina Simone zur Strecke gebracht hatte. Und dann die Magie dieser unverständlichen Sprache. Schon John Cleese fand russisch im Film "Ein Fisch names Wanda" absolut sexy, was würde er dann erst über die Poesie der litauischen Musikerin sagen? Kurzum: mindblowing! Die Stimme von Alina: der Wahnsinn! Wunderbar dosiert zwischen fragilen gehauchten Parts und feurigen Ausbrüchen, schaffte es die vornehm blasse Dame, mit ihrem Goldkehlchen Funken sprühen zu lassen.

Und dann, nach etwa 70 Minuten Spielzeit, wurde es auf brutalstmögliche Weise emotional. Das Licht ging aus und Orlova zündete eine Kerze auf ihrem Piano an. Bei schummrigen Licht greinte sie umso wehmütiger ihre Schwermut hinaus, klimperte zu schön um wahr zu sein und drückte damit bei mir unbarmherzig auf die Trändendrüse. Ich sank moralisch auf die Knie, machte bildlich den Willy Brand. Willy Brand, der sich mit Andy Möller verbrüderte. Ein teuflischer Pakt. Unbeschreibliche Gefühle überkamen mich, ich geriet in eine Art Trance. 10 Minuten, die Dauer von zwei Liedern, ging das so und das Licht blieb aus. Nur die Kerze brannte. Ich fragte mich, ob die Songs eine ganz besondere Bedeutung hatten, einen Trauerfall besangen, suchte aber nicht weiter nach einer genauen Antwort, sondern ließ die feierliche Stimmung auf mich wirken. Die Jubelstürme der Begeisterung wurden nach jedem Lied größer und größer, es war fast wie in der Berliner Philharmonie beim Weihnachtskonzert. Die Musikerin bedankte sich fast eingeschüchtert jeweils mit einem kurzen "merci" oder "thank you", einmal auch mit einem "spaciba". Ihre Natürlichkeit war vorbildlich und herzerwärmend zugleich. Nun aber nahte der Abschied. Die Pianistin verließ zum ersten Mal die Bühne. Der Applaus war unbeschreiblich heftig, eine Woge der Begeisterung erfasste das Rund. Etwas Vergleichbares hatte ich im Café de la Danse noch nicht erlebt. Die Künstlerin kam zurück, spendete ihrerseits dem tollen Publikum Beifall, spielte noch zwei Stücke und verschwand erneut in die Kabine. Dann kam plötzlich ein junger Herr, stellte ein Stühlchen vor dem Flügel auf und justierte das Mikro in der passenden Höhe. Was jetzt wohl kommen würde? Die Antwort bekamen wir kurze Zeit später: zwei Stücke auf einer Kalimba von Alina, die unter Jubelstürmen ein letztes Mal ihre Aufwartung machte. Auch diese Stücke zum Steine erweichen! Was für ein Abschluss eines außerordentlich schönen Auftritts! Ein magischer Konzertabend, den ich nie vergessen werde.

Alina Orlova hat mich verzaubert, zu Tränen gerührt und mir das Konzert des Jahres beschert. Ich sehe niemanden, der das noch toppen könnte. Wenn es ein klein wenig Gerechtigkeit gibt, wird Orlova ein internationaler Star. Diese junge Musikerin schickt wirklich der Himmel. Auf ihrer CD findet man unter den Danksagungen dann passenderweise auch folgenden Satz: "Special thanks to Jesus, David Bowie, Babo Stasé and the neighbourhood of nuclear power plant: you all made me into what I am."

Setlist Alina Orlova, Café de la Danse, Paris: ausgeschrieben in Kürze, zunächst hier auf dem Foto, klick!

Anmerkung: Das obige formidable Video stammt von Rod le-Hiboo.com. Die Jungs haben tonnenweise super Videos auf ihrem Blog. Vorbeischauen lohnt auf alle Fälle! Hier sind übrigens drei fantastische Livevideos von diesem denkwürdigen Konzert. Bravo, Rod!



3 Kommentare :

E. hat gesagt…

na, dann bestelle ich hier mal die cd der jungen dame, auf die du mich nun sehr neugierig gemacht hast. selber schuld, quasi. sehr schöner bericht, dem ich jedes wort abnehme!

Oliver Peel hat gesagt…

Zur CD ist zu sagen, daß sie schon zwei Jahre auf dem Buckel hat und in Alinas Heimat schon 2008 erschien. Der neue Longplayer ist bereits zu haben (wo? in Russland? Litauen?), allerdings nicht in Frankreich oder Deutschland. Von diesem Zweitwerk, daß sich ein russischer Fan hinterher signieren ließ, performte sie etliche Stücke.

Gestern im Café de la Danse spielte Alina ausschließlich Piano, auf dem (ersten) Album hört man bisweilen aber auch Geigen, ein Akkordeon, ein Banjo, etc.

Hier noch ein paar schöne Links. Der hiboo gestern erneut gefilmt, im März gab es bereits diese Videos mit dem hiboo:

http://www.le-hiboo.com/22064-hiboo-dlive-alina-orlova

Alina Orlova für die Blogothèque:

http://www.blogotheque.net/Alina-Orlova

Rod - Le HibOO hat gesagt…

On a mis des videos du concert ! :) je te laisse regarder :)

 

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