Donnerstag, 3. November 2011

Anna Ternheim, Berlin, 03.11.11


Konzert: Anna Ternheim
Ort: Maschinenhaus, Berlin
Datum: 03.11.2011
Zuschauer: gut 100 (lange schon ausverkauft)
Dauer: 70 min


Vergangenen Freitag erschien The Night Visitor, das vierte Album der schwedischen Sängerin Anna Ternheim. Ich hatte von der anstehenden Veröffentlichung erst vor einigen Wochen gelesen, die Künstlerin hatte sich lange rar gemacht. Was dann aber über den Entstehungsprozess von The Night Visitor zu lesen war, klang so spannend, daß auch die kurze Zeit bis zum Erscheinen zu lang war.

Anna Ternheim hatte nach dem langen Touren zur letzten Platte eine Schaffenskrise. Auch meine Beziehung zur Musik der Schwedin kriselte 2009. Ich hatte mir eingeredet, den bombastischen Sound von Leaving On A Mayday
(insbesondere live) genauso zu lieben wie die ersten beiden Alben. Nach drei, vier Konzerten mit riesiger Band und mit krachendem Schlagzeug nutze sich der aber so stark ab, wie ich es bei Annas Musik nie erwartet hatte. Der Auftritt in Haldern im Sommer 2009 war der Höhepunkt dieser Phase - und musikalisch bisher der Tiefpunkt. Hätte ich im Anschluß nicht die Chance gehabt, Anna Ternheim als Teil eines akustischen Trios und dann ganz akustisch zu sehen, hätte ich mich weit weniger über die Ankündigung des neuen Albums gefreut.

Denn The Night Visitor klang bei allem, was vorher zu lesen war, so, wie Anna am besten ist; konzentriert auf Gitarre und ihre Stimme. Dabei spielte das Instrument bei
der Entstehung eine zentrale Rolle. Auf der Suche nach Neuorientierung fand sie eine alte Gitarre, mit der sie sich nach eigenen Aussagen das Spiel fast neu beibrachte. Unterstützung fand sie dabei in ihrem Bekannten Matt Sweeney, dessen Idee es auch war, das Album in Memphis im Studio des Toningenieurs von Johnny Cash zu produzieren. Dave Ferguson ingenieurte nicht nur, er singt auch ein Duett mit Anna (und klingt dabei sogar wie Johnny Cash!).

The Night Visitor ist ein ruhiges, sehr akustisches Album geworden, eine Folkplatte, die das drastische Gegenstück zur Vorgängerin ist.

Heute stellte Anna Ternheim ihre neuen Songs auf dem Gelände der Berliner Kulturbrauerei vor. Eine Europatour beginnt im Januar, das Berliner Konzert war Teil einer kleiner Promotionreise mit Auftritten in New York, Stockholm, Göteborg und London.

Glücklicherweise war ich spießig früh am Maschinenhaus. Acht Uhr war als Zeit angegeben, also eigentlich neun, Hauptstadtaufschlag eine halbe Stunde, vor halb zehn würde es nicht beginnen. Ich war trotzdem um kurz nach acht da, um zu erfahren, daß es spätestens um Viertel nach losgehen sollte. Der Saal im
Maschinenhaus der Kulturbrauerei ist klein und breit. Die Bühne befindet sich vor der Außenwand, vor einem großen Backsteinrundbogen mit Fenster. Davor waren Stuhlreihen aufgebaut für rund 100 Besucher. Viele der Plätze blieben aber frei, obwohl das Konzert schnell restlos ausverkauft war und vor dem Gebäude Kartensucher standen. Ein Teil der Gäste verfolgte das Konzert nämlich von der Theke aus.

Anna Ternheim hatte Matt Sweeney mitgebracht. Der Gitarrist sah aus wie ein Trucker aus dem Süden der USA und trug den buschigen Schnauzbart eines Schweizer Busfahrers. Und er hatte eine akustische Gitarre in der Hand, neben Annas (mir neuer) alter Gitarre das einzige Instrument des Abends.

Es begann mit Solitary move, dem Eröffnungsstück des Albums. Während auf Platte dabei noch Cello und Bass zum Einsatz kommen, war es so noch einmal abgespeckter. Nur Annas Stimme und das Fingerpicking der beiden Musiker.

Beim folgenden Walking aimlessly sang auch Matt Sweeney mit, allerdings beschränkte sich dies auf leisen, ganz zarten Hintergrundgesang, der im krassen
Gegensatz zu Matts äußeren Erscheinungsbild stand. Walking aimlessly war auch eines der schönsten Lieder des Abends, obwohl noch viele Konkurrenten kommen sollten.

Ein anderes Highlight war God don't know, in dem Matt pfeift und Anna "La la la" singt, ganz wundervoll! Auf Platte ist das erwähnte Duett mit Dave Ferguson einer der Höhepunkte. Die tiefe Cowboystimme zu Annas Gesang sind grandios und machen dieses von Dave geschriebene Lied zu einem riesigen Hit. Live sang Anna Ternheim The longer the waiting (the sweeter the kiss) alleine, es verlor allerdings nicht viel seines Reizes!

Im regulären Teil des Konzerts, der etwa eine Stunde dauerte, spielte die Schwedin nur zwei alte Stücke: Better be und Summer rain, beide ohne Begleitung des Amerikaners. Es ging heute aber um die neuen Lieder, es war keine best of show. Daß der Abend musikalisch trotzdem herausragend war, liegt also an der besonderen Quälität der neuen Songs.

Als erste Zugabe wollte die Schwedin Wünsche hören. "A song in Swedish please, as
always!" - "As always? I never play Swedish songs!"* Zuschlag bekam dann der Wunsch nach Little lies, dem Fleetwood Mac Cover. Matt sang den Refrain an: "ist es das?" - "Ja!" Mitten im Lied kam die Sängerin ins Stocken. "Forgot the lyrics?" - "yes..." Sie erinnerte sich und spielte begleitet von Matt weiter. Offensichtlich hatten die beiden dieses Lied nie gemeinsam gespielt, es funktionierte aber ausgezeichnet.

Matt Sweeney Rolle beim Auftritt war deutlich größer als angenommen. Er übernahm mehr und mehr Ansagen, erklärte zum Beispiel auch, was es mit Dearest dear, der letzten Zugaben auf sich hat. Daß dies nämlich ein alter englischer Folksong sei, den er immer schon einmal spielen wollte. Er möge aber kaum weibliche Sänger. Zu Anna Ternheim passe das Stück aber, ergänzte er schnell, nachdem von links böse Blicke kamen. Das Zusammenspiel der beiden, nicht nur musikalisch, gefiel mir außerordentlich gut. Hoffentlich wird die Tour Anfang des Jahres genauso bestritten! Ich würde ungern auf die köstlichen Momente des Abends verzichten. Als die beiden nach dem zweiten Stück feststellten, daß sie die Setlist in der Garderobe vergessen hatten und Matt losrannte. Oder als sie von einem Radiointerview am Nachmittag erzählten, bei dem Anna gefragt wurde, worum es bei Bow your head ginge und Matt erklärte, das Lied handele von ihm als "Anna's biker bitch".

Wenn Haldern das eine Extrem meiner Anna Ternheim Konzertgeschichte ist, ist Berlin das andere. Die abgespeckten, akustischen Lieder betonen die Stärken der Schwedin. Wer braucht schon Bass oder einen Frauenchor im Hintergrund, von einem Sonic Youth Trommler verhauen, wenn die Stücke leise so viel besser sind?

Setlist Anna Ternheim, Maschinenhaus, Berlin:

01: Solitary move
02: Walking aimlessly
03: What remains?
04: All shadows
05: God don't know
06: The longer the waiting (the sweeter the kiss)
07: Better be
08: Summer rain
09: Come to bed
10: Black light shines
11: Ghost of a man
12: Bow your head

13: Little lies (Fleetwood Mac Cover) (Z)
14: Dearest dear (Shirley Collins Cover) (Z)

Links:

aus unserem Archiv:
Anna Ternheim, Nyköping, 24.11.09
Anna Ternheim, Paris, 23.09.09
Anna Ternheim, Fribourg, 20.09.09
Anna Ternheim, Köln, 13.09.09
Anna Ternheim, Haldern, 14.08.09
Anna Ternheim, Paris, 29.04.09
Anna Ternheim, Frankfurt, 28.04.09
Anna Ternheim, Nijmegen, 24.04.09
Anna Ternheim, Stockholm, 08.12.08
Anna Ternheim, Paris, 01.10.07
Anna Ternheim, Köln, 26.09.07
Anna Ternheim, Heidelberg, 25.09.07
Anna Ternheim, Paris, 31.05.07
Anna Ternheim, Köln, 12.03.07
Anna Ternheim, Paris, 12.12.06

* auf einer Tour hat Anna Elegi, ein Lars Winnerbäck Cover gespielt




 

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