Konzert: Die Selektion / Die Nerven / Heisskalt
Ort:Wagenhallen, Stuttgart
Datum:01.08.2013
Dauer:Die Selektion 30 Minuten / Die Nerven 40 Minuten
Zuschauer:250 - 300
Das Sommerprogramm deutscher Clubs ist, was das Liveangebot angeht, in der Schulferienzeit oft dünn gesät. Das Stuttgarter Merlin steuert mit der Reihe Klinke24 gegen das klischeehafte Sommerloch mit Konzerten lokaler Newcomer aus der unabhängigen Musikszene ehrenhaft an.
Dass man für den Auftakt der ansonsten kostenlosen Reihe Eintritt erhebt und in die Wagenhallen am Nordbahnhof umzieht, hat nachvollziehbare Gründe. Zum einem stehen alle drei Bands - namentlich Die Selektion, Die Nerven und Heisskalt – für alternativen Pop härterer Gangart, zum andern, dürfte Heisskalt, nach Auftritten auf den großen Festivals erhöhte Gagevorstellungen an den Veranstalter haben.
Eben jene Stuttgarter Band ist heute Abend so etwas wie der Headliner, schon bei der Ankunft vor den Wagenhallen in atmosphärischer, industriell und verwildert wirkender Umgebung erkennt man deutlich, dass das Gros der auffallend jungen Besucher vornehmlich für die beim Hip-Hop-Label Chimperator unter Vertrag stehenden Deutschrocker zum Eröffnungskonzert der Klinke24 kam. Spätestens während des Auftritts der Selektion um Frontmann Luca Gillian verfestigt sich dieser Eindruck.
Viele warten Draußen, während die junge Band mit harter, düsterer New Wave und signifikantem Electronic Body Music Einschlag verzückt. Luca Gillians exaltierte Bewegungen, sein Ausflug ins Publikum schon beim zweiten Song „Stadt in der Nacht“ verdeutlichen, warum Die Selektion auch über die schwarze Szene hinaus ein beachtliches Renommee genießt. Es ist der ungemeine Reiz der Trompete, der die Genregrenzen sprengt und den unterkühlten Synthie-Beats und dem New Order'esk zuckenden Bassspiel Wärme verleiht und auch für Indie-Jünger wie mich genießbar macht.
Trompeter Hannes Rief sorgt für organische Klänge, die Die Selektion vom technohaften Einheitsbrei der EBM würdevoll abheben. Gut eineinhalb Jahre ist es her, seit ich das Projekt Esslinger Waldorf-Schüler zum ersten Mal sah. Damals - noch ohne E-Bass und mit Max Rieger, der die Selektion verließt, um Die Nerven zu gründen, am Synthesizer – überzeugte das Trio im Vorprogramm von Jeans Team im Merlin und zeigte mir, dass Stuttgart und Umgebung vielleicht keine echte Szene haben mag, aber nichtsdestotrotz über erstklassige Szenebands verfügt.
Auf den ersten Blick mag die Band in ihrer Ästhetik unheimlich erscheinen, in ihrem Sound schockieren; noch dazu der Name. Darf sich eine deutsche Band Selektion nennen? Ist das jetzt rechts? Solche Fragen werden sicher dem ein oder anderen durch den Kopf gehen, wenn er den Namen auf Plakaten ließt, von der Genrezuordnung hört. Viele andere Electronic Body Music - Gruppen, wie einst Nitzer Ebb, oder selbst die Neue Deutsche Welle Formation D.A.F., wurden einst zu unrecht rechts eingeordnet. Ebenso läge nichts ferner, als die jungen Esslinger fälschlicherweise in diese Ecke zu drängen.
Mit Touren durch ganz Europa bauten sich Luca Gillian und Hannes Rief auch nach dem Ausstieg Riegers den Ruf einer aufregenden Live-Band auf. Die Freundschaft zu Vladislav Parshin, der für das verstörende Musikvideo von „Raben“ verantwortlich war, und seiner Band Motorama kann hier durchaus als Gütesiegel verstanden werden. Mit dem Einstieg des Bassisten Samuel Savenberg änderte sich das Klangbild der Gruppe zwar nur graduell, den Live-Qualitäten bekommt der zunehmende Bandcharakter aber tatsächlich gut.
Wie Dave Gahan stolziert der bekennende Depeche Mode Fan Gillian im gestreiften T-Shirt und weißer Hose über die Bühne, wickelt sich immer wieder das Mikrophonkabel, um den Hals, spuckt die Sätze fast emotionslos aus, schreit immer wieder. Dann setzt die Trompete zu absolut tanzbaren Beats ein und ich wundere mich über die Reserviertheit des Publikums. „Wasser“, „Meine Gedanken“, „Renn so schnell du kannst“ und „Faust“, naheliegenderweise mit zahlreichen Goethe-Zitaten gespickt, fügen sich im halbstündigen Set zu einem angenehm kühlen Ganzen zusammen.
Setlist Die Selektion, Stuttgart:
01: "Stadt in der Nacht"
02: "Wasser"
03: "Meine Gedanken"
04: "Kinder"
05: Kühle Lippen
06: Du Rennst
07: Faust
Ebenfalls aus Esslingen stammen Die Nerven. Nach dem Ausstieg aus der Selektion gründete Max Rieger (Gitarre) mit Julian Knoth (Bass) und Kevin Kuhn (Schlagzeug) eine kompromisslose Noise Rock Band, die sich mit ihrer konsequenten Inszenierung und einem schlichtweg genialen Lana Del Rey Cover auf Deutsch wie aus dem Nichts in den Feuilletons und Musikmagazinen wiederfand.
Erstmals live beim Winterfest des KOMMAs in ihrer Heimatstadt gemeinsam mit Trümmer, Zucker und Messer gesehen, erschien mir ihr Auftritt damals überzogen, zu sehr in den Egos der scheinbar gleichberechtigen Akteure versunken, als dass er mir gefallen konnte. Knapp ein halbes Jahr später sieht das schon anders aus. Bereits die Ankündigung der nihilistischen Noiserocker fällt kurios aus. Die drei Mädchen, die auch im Video zu "Irgendwann geht's zurück" die Band mimen, schlüpfen hysterisch keifend auf der Bühne in die Rolle der Musiker – und nerven. Kuhn, Knoth, Rieger betreten nach einigen Minuten klimakterischen Lärms die Bühne, entreißen der Harpyien-Phalanx die Instrumente und zeigen sich in aller Aggressivität als an Erfahrung gereifte Live-Band - und darüberhinaus gemäßigter als noch vor wenigen Monaten.
Tocotronic empfahlen auf ihrer Facebook-Seite jüngst ausdrücklich die gerade erschienene Split-Single der Nerven und Candelilla, „Fick dich, Alter!“. Die Nähe zum Frühwerk der Protagonisten der Hamburger Schule ist augenscheinlich, auch wenn Songs wie auch Performance letztlich weit misanthropischer ausfallen. Wie von Dirk von Lowtzow, Jan Müller und Arne Zank Mitte der 90er kultiviert, finden sich bei den drei Schwaben Plüschmaskottchen: Auf der Bühne steht traditionell ein Panda mit umgedrehten Kreuz auf der Stirn. Die Botschaft ist klar, gewinnt am heutigen Abend, an dem die Labelkollegen des Stuttgarter Rappers Cro auftreten, nochmals an Brisanz. Das Heisskalt-Publikum wirkt irritiert, reserviert, vielleicht sogar schockiert, dabei verzichten die Nerven weitgehend auf verbale Provokation. Die rotzige Attitüde wird durch die Rahmenbedingungen betont, natürlich beschwert sich Max Rieger mit kurz geschorenen Haaren auch einmal darüber, dass der Bass und Gesang zu leise eingestellt seien, lässt weiter auftreten, am Ende stehen die 40 Minuten ihres Auftritts aber ganz im Zeichen einer performativen Noiserock – Show.
Knoth und Rieger schreien sich immer wieder an, einen echten Frontmann gibt es nicht, Schlagzeuger Kuhn bemüht sich sichtlich das gesamte Konzert über möglichst wahnsinnig zu grinsen und könnte in dieser Hinsicht vielleicht sogar einem Keith Moon den Rang ablaufen.
„Der letzte Tanzende“, eine der stärksten Nummern des Trios, wird relativ früh buchstäblich verschossen, erbarmungslos laute Gitarren zucken durch die Wagenhallen, es wird gepogt, die Verrenkungen Riegers fallen überraschend dezent aus, bevor die Zeile, die in ihrer zynischen Ehrlichkeit die Selbsthaltung der Band und eine ganze Generation zu beschreiben vermag, einsetzt: „Wieso soll ich schwimmen, wenn ich auch treiben kann“, singt Rieger ohne den Hauch einer Gefühlsregung.
Wo Tocotronic auf Diskurs setzten, erschrecken die Nerven mit nihilistischer Anti-Haltung, die die Stuttgarter-Nachrichten, im Versuch jugendlich zu wirken, als „Fick dich-Haltung“ bezeichneten. So leicht macht es einem das Kollektiv aus Musikern, die alle bei verschiedenen Stuttgarter Bands enorme Erfahrung sammelten, nicht, auch wenn Stücke wie die bitterböse Zeitgeist- und Facebook-Abrechnung „George Michael“ genau das natürlich nahelegen.
Es passt ins Bild, dass ausgerechnet der Song der aktuellen Split-Single mit den bayrischen Riot Girls Candelilla mangels Übung abgebrochen werden muss. Ein weiteres neues Stück, „Blaue Flecken“, gerät etwas lethargisch schleppend, auf „Sommerzeit, Traurigkeit“ wird erneut verzichtet. Am Ende setzen sich Rieger und Knoth einander gegenüber, grinsen diabolisch, stehen auf, steigern sich ein letztes Mal in das gegenseitige Anschreien hinein, ein Feedback-Gewitter folgt, dann wirft Kuhn sein Drumset um, der Moon-Effekt wird auf die Spitze getrieben, ein letztes Grinsen, dann ist es vorbei, genervt haben sie diesmal gar nicht.
Im letzten Rolling Stone feierte man die Nerven als große Zukunftshoffnung, von deren Energie man sich am Besten live ein Bild machen sollte.
Mittlerweile bestehen sie den Livetest problemlos, Esslingen könnte in der deutschen Popkultur eine wichtige Rolle spielen, wer hätte das gedacht.
Heisskalt folgt, erst jetzt tobt die Menge wirklich, jubelt der angesagten Nachwuchsband und ihren prätentiösen Hochglanzposen zu. Ich fühle mich an ganz schlimme musikalische Momente der späten 90er und frühen 00er erinnert, an Limp Bizkit, Papa Roach oder die Guano Apes.
Letztlich machen Heisskalt Nu Metal für die Hipster-Generation mit Vollbärten und Tank Tops. Genervt gehen wir früher.
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