Konzert: Tocotronic
Ort: Großpösna, Störmthaler See (Highfield Festival)
Datum: 18.08.2013
Dauer: etwa 50 Minuten
Zuschauer: mehrere 1000
„Wir möchten diesen Song einer guten Freundin und langjährigen Weggefährtin widmen, die vergangene Woche verstorben ist, Almut Klotz.“
Dirk von Lowtzow im äußerst stilvollen blau-weißem Polka-Dot Hemd schließt ziemlich genau in der Mitte des Sets die Augen, dann folgt „Drüben auf dem Hügel“, der gehetzte Schlüsselsong des unschätzbaren Debütalbums „Digital ist besser“.
Die Hommage, das würdevolle Andenken an das charismatische Lassie Singers-Gründungsmitglied, das nach kurzer schwerer Krebserkrankung mit gerade einmal 50 Jahren verstarb, treibt Tränen in die Augen. Von Lowtzow schreit ein markerschütterndes „Almut“, während die ersten Reihen geschlossen unvergessliche Zeilen mitsingen.
Bei „Ich warte dort auf dich weil ich dich mag / An unserm letzten Sommerferientag“ muss meine kleine Schwester auf ihrem ersten Festival grinsen. Am darauffolgenden Tag beginnt für sie wieder die Schule, Cro am Vortag fand sie – selbstredend zurecht - doof, Tocotronic toll - selbstredend zurecht.
Von vornherein stand widerspruchsresistent fest, dass es einer der besten Auftritte des diesjährigen Festivals sein würde, dass Tocotronic ein Juwel im kümmerlichen Line-Up des traditionsreichen ostdeutschen Rockfestivals sind. Damit, Zeuge eines schier rauschartigen Konzerts auf der kleineren Bühne zu werden, konnte ich jedoch nicht rechnen:
Tocotronic gelingt es mit einer nahezu perfekten Setlist, Wut, Spielfreude und Trauer die besten 50 Minuten des Festivals zu kredenzen; mehr noch, das beste Konzert zu spielen, das ich bisher von dieser Band erleben durfte.
Enttäuscht dürfte zum Schluss nur Thees Uhlmann gewesen sein, der sich gegen Ende seines eigenen Auftritts auf der Hauptbühne unmittelbar vor Tocotronic wünschte, sie mögen doch „Jenseits des Kanals“ spielen. Die Hoffnungen des ehemaligen Roadies der Band auf den „K.O.O.K“-Song erfüllen sich nicht, stattdessen gibt es nach dem wunderbar behäbigen Beginn mit „Wie wir leben wollen“ „Let There Be Rock“ und jedem Menge gereckte Fäuste.
„Wir haben gehalten in der langweiligsten Landschaft der Welt / Und festgestellt, dass es uns hier gefällt“, transferiert auf die sächsische Provinz vor den Toren Leipzigs, erscheinen mir die Zeilen passender denn je. Dirk von Lowtzow singt nicht, er skandiert im ihm eigenen Timbre und verstört sichtlich diejenigen, die für Frida Gold(!!!) kamen oder auf den Auftritt der megaerfolgreichen Mumford & Sons – Trittbrettfahrer The Lumineers aus Colorado warten.
Mit „This Boy Is Tocotronic“ fortzufahren, erfreut die Fans, und während Arne Zank (Schlagzeug) und Bassist Jan Müller einen soliden Rhythmus liefern, glänzt Rick McPhail im großkarierten, roten Hemd, in dem ich ihn schon mehrmals gesehen habe, als musikalische Geheimwaffe des wichtigsten Kollektivs der Hamburger Schule. Ohne den amerikanischen Multiinstrumentalisten wäre der musikalische Fortschritt der Band in den letzten Jahren undenkbar gewesen. Seit knapp 10 Jahren ist der ehemalige Roadie Teil der Gruppe und machte mit musikalischer Perfektion Tocotronic reif für weitere Dekaden.
Für viele Kritiker und Fans jüngerer Generation ist „Kapitulation“, das 2007 erschienene, achte Studioalbum, das größte Meisterwerk. Und ja, natürlich ist es ein Meilenstein deutscher Popmusik. Der härteste Song der Platte, „Sag alles ab“, reicht als Beleg und fordert das grundsätzlich eher US-Punk affine Highfield-Publikum förmlich zum Pogen auf. Wütend ausgespuckte Zeilen, townshend'eske Bewegungen Lowtzows und Müllers setzen ein visuelles Ausrufezeichen hinter den wütenden Refrain, bevor „Die Revolte ist in mir“, einer der besten Songs des aktuellen Albums „Wie wir leben wollen“ folgt.
Obwohl mir der Zugang zum jüngsten Werk eher schwer fällt, muss ich anerkennen, dass gerade von diesem Song mit seinen offensichtlichen Smiths-Verweisen eine angenehme Anziehung ausgeht.
Kurz fällt von Lowtzows Gitarre aus, technische Probleme durchziehen das ganze Festival, doch den 42-jährigen gebürtigen Badener lassen derartige Kleinigkeiten kalt. Lächelnd wird das Problem behoben, bevor mit ernster Miene Almut Klotz gedacht wird, deren Tod zum Zeitpunkt des Tocotronic Auftritts noch keinen Weg in die Medien fand, der einen umso härter trifft.
Nach „Drüben auf dem Hügel“ gibt es mit „Ich will für dich nüchtern bleiben“ einen dritten neuen Song. Auch ohne projeziertes Straight Edge X auf der Leinwand wie bei vorangegangenen Konzerten kommt von Lowtzows berüchtigter Zynismus gut zur Geltung, der bei der Ankündigung des politisch brisanten „Aber hier leben, nein Danke“ noch weiter ausgereizt wird: Sorgte beim brandenburgischen Greenville Festival sein „Möge jedes gottverdammte Nazikaff hier in der Gegend erzittern“ noch für einen mittelgroßen Aufschrei eines Springer-Blatts widmet er es diesmal den Köchen des Festivals.
Zeiten ändern sich und so fordert der grau melierte Sänger mit Dreitagebart bei „Macht es nicht selbst“ vom vorletzten Album „Schall und Wahn“, das Tocotronic 2010 als deutsche Crazy Horse auswies, die Zuschauer zum Klatschen auf.
Ob es sich wieder um einen Akt ironischer Selbstkarikatur handelt oder einfach ehrlicher Spielfreude geschuldet ist, kümmert hier niemanden. Tocotronic gelingt es ein musikalisch eher fremdes Publikum für sich zu gewinnen, dafür gebührt dem Hamburger Quartett ehrlicher Respekt.
Zum Abschluss folgt mit „Hi, Freaks“ noch ein heimlicher Klassiker der Bandgeschichte, bevor Stockhausens „Gesang der Jünglinge“ vom Band das Ende markiert.
„Macht's gut, bis bald!“ Tocotronic verneigen sich, Daphne das Plüschmaskotchen schnattert.
Ich bin dankbar für den besten Auftritt des Festivals und erschüttert vom Tode Almut Klotz'.
Setlist Tocotronic, Großpösna:
01: Wie wir leben wollen
02: Let There Be Rock
03: This Boy is Tocotronic
04: Sag alles ab
05: Die Revolte ist in mir
06: Drüben auf dem Hügel [Almut Klotz gewidmet]
07: Ich will für dich nüchtern bleiben
08: Aber hier leben, nein danke
09: Macht es nicht selbst
10: Hi, Freaks
Links:
- aus unserem Archiv:
- Tocotronic, Erlangen, 11.04.2013
- Tocotronic, Stuttgart, 12.03.2013
- Tocotronic, Wien, 29.03.2010
- Tocotronic, Köln, 04.03.2010
- Tocotronic, Köln, 07.06.2008
- Tocotronic, Hohenfelden, 17.08.2007
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