Konzert: Naked Lunch
Ort: Bürgerpark, Stade (Müssen Alle Mit Festival)
Datum: 03.08.2013
Dauer: etwa 50 Minuten
Zuschauer: vllt. 1.500
Als Me And My Drummer die Bühne des Müssen Alle Mit Festivals betreten, reißt der Himmel endgültig auf, die Schwüle weicht einem angenehmen Sommertag, der gerade gefallene Regen steigt dampfend auf, während Charlotte Brandi (Gesang und Synthesizer) und Matze Pröllochs (Schlagzeug) aus Berlin mit ihrem hellen, gehauchten Dreampop auch musikalisch den Wetterwechsel vollziehen.
Zum Schluss gibt es nach einigen neuen Stücken, 8 Songs und knapp 40 Minuten „You're A Runner“, das bekannteste Lied des Duos, das sich in Tübingen kennenlernte.
Oliver Welter, Frontmann und Gitarrist der österreichischen Vorzeigeband Naked Lunch, beobachtete das Geschehen vom Bühnenrand und steht kurz darauf mit seiner eigenen Gruppe vor den zahlreichen Besuchern im fast ausverkauften Bürgerpark in Stade.
Im April begeisterte mich, die bei Tapete Records veröffentlichende Band aus Klagenfurth am Wörthersee mit außergewöhnlicher Popmusik im Zwölfzehn. Gesäumt von riesigen Glühbirnen, gehüllt in warmes Licht verzauberte mich die wahrscheinlich beste Band unseres Alpennachbarlands mit sphärischen Klängen, pulsierender Energie und schlichtweg perfekter Popmusik.
Zum erweiterten Umfeld der Weilheimer Szene um The Notwist gerechnet, gelingt es der nach William S. Burroughs' Roman benannten Formation seit Jahren glänzend, gängige Normen und Klischees zu umschiffen, neue Wege zu gehen, um sich damit auf höchstem internationalen Niveau wiederzufinden.
Gewöhnlicher Gentlemen, Superpunk und Tapete-Booker Carsten Friedrichs schlüpft beim ausgezeichneten Festival nicht nur in die Rolle des Musikers, sondern führt auch als zurückhaltender Moderator gewohnt stilvoll durch das Programm. Die Vorfreude auf Naked Lunch nimmt man der Hamburger Mod-Größe sofort ab, als kurz darauf das Quartett aus Welter, dem exaltierten Bassisten Herwig Zamernik, Schlagzeuger Alex Jezdinsky und Keyboarder Stefan Deisenberger seinen Auftritt beginnt, fallen technische Probleme sofort ins Auge beziehungsweise Ohr.
Offenbar nutzt man aus logistischen Gründen dasselbe Equipment wie die befreundete Liga der gewöhnlichen Gentlemen, sodass Gentlemen-Bassist Tim Jürgens mehrmals auf der Bühne erscheint, um bei der Behebung der akustischen Probleme und einer technischen Nachjustierung zu helfen.
Naked Lunchs Musik ist für popmusikalische Standards ungewohnt komplex, umso bedeutender ist ein akzeptabler Sound für die gelungene Performance. Die Eröffnung mit dem perkussiv-treibenden „Keep It Hardcore“ vom in diesem Jahr erschienenen „All Is Fever“, ist gezeichnet von einem katastrophalen Sound, der im Verlauf des weiteren Konzerts immer mehr einem harmonischen Ganzen weicht, das in der Lage ist, den musikalisch vielschichtigen Stücken der versierten Alternativ-Helden aus Österreich den nötigen Raum zu geben.
Der technisch beste Sänger des Genres ist Oliver Welter sicher nicht, dennoch lebt die Musik des Quartetts insbesondere von den Brüchen in der sanft-rauchigen Stimme ihres Vokalisten. Verstärkt wird die hochgradig emotionale Wirkung des Gesangs durch die energischen Harmonien, die monoton steigenden „Ohohos“ des Bassisten Zamernik. Die meisten Stücke warten mit beeindruckenden Crescendi auf, Alex Jezdinsky erzeugt äußerst zurückhaltend signifikante Rhytmen, die einen nicht unerheblichen Anteil am wundervollen Gesamtergebnis haben.
Nie keimt Kitsch auf, Pathos verschwindet hinter zerbrechlichen Keyboard-Klang-Wänden. „My Country Girl“ vom fantastischen 2007er Album „This Atom Heart Of Yours“ ist als zweites Stück ein früher Genuss im wunderbaren Set der Österreicher, bevor das stimmliche, sich beängstigend steigendernde Duell zwischen Welter oder Zamernik bei „41“ direkt danach den intensivsten Moment des Konzerts beschert. Welter schlägt mit einem Drumstick auf die Saiten seiner Gitarre ein, abrupt endet das Lied.
Höchste Aufmerksamkeit erfordernd ist Naked Lunch eine gewagte Wahl für Festivals. Dass ihnen diese geschenkt wird, spricht für die Qualität des MAMF und lässt wie auch die Besucherzahl auf eine glorreiche Zukunft im Bürgerpark hoffen. „Town Full Of Dogs“, der grandiose Popsong „Militairy Of The Heart“, mit seiner absolut Mainstreamradio tauglichen Melodie... Die Liste toller Songs ließe sich tatsächlich lange fortsetzen.
Mit der sinkenden Abendsonne steigt die atmosphärische Stimmung des Abends. Kurz darauf wird „The Sun“ gespielt, nachdem schon „At The Lovecourt“ den Abend veredelte. Ich liege in den Armen meiner Freundin, genieße den buchstäblich erhabenen Augenblick.
Oliver Welter steht zuletzt fast alleine auf der Bühne, spielt Gitarre, stimmt „Shine on“ vom aktuellen Album an. Keyboarder Deisenberger nimmt hinter dem Schlagzeug Platz, die gesamte Band setzt ein, während Welter den wunderbar traurigen Text haucht. „You shine on forever / You shine on till the end!“
Die Technik spielt letztlich mit, ermöglicht Naked Lunch einen formvollendeten Schluss. Verneigung. Die Sonne versinkt langsam hinter den Bäumen, als ich mir wieder einmal klar darüber werde, dass Naked Lunch zu den Großen gehören müssen – und das nicht nur in der Heimat, in der sie seit Jahren gebührend gewürdigt werden. Tapete setzt – wie so oft – auf die richtigen Künstler!
Links:
- aus unserem Archiv:
- Naked Lunch, Stuttgart, 08.04.2013
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