Mittwoch, 16. August 2017

Haldern Pop Festival, 3. Festivaltag, 12.08.2017


Haldern Pop Festival, 3. Festivaltag, 12.08.2017
Ort: Rees-Haldern am Niederrhein
Datum: 12.08.2017
Zuschauer: etwa 7000
Konzertdauer: von früh bis spät




Weisswein zum "Frühstück", das ist doch mal was. Wobei Frühstück ein dehnbarer Begriff ist, für eine Nachteule wie mich ist 14Uhr 15 recht früh, zumindest für ein Konzert. White Wine aus Leipzig spielten zu dieser Zeit in einer völlig überfüllten Pop Bar und es fiel mir schwer, die drei Akteure vorne auf der Bühne zu sehen. Als da wären Joe Haege (31 Knots, Tu Fawning), Fritz Brückner und der neu hinzugestossene Christian Kühr an den Drums. Das Konzert war toll und der Sound der Band originell, schmissig und innovativ, aber aufgrund meiner anstrengenden Position (hinter riesigen Menschen) blieb ich nur etwa vier Lieder, bevor ich zu Daniel Brandt und seinen beiden Mitmusikern auf die Hauptbühne eilte. 


Brandt war um 15 Uhr angesetzt und sein Set gefiel mir richtig gut. Instrumentelle Musik mit postrockigen Ansätzen, einem fintenreichen Schlagzeugspiel und einer famosen Trombone, langweilig wurde es mir trotz fehlenden Gesanges nicht. Im Gegenteil, das Set hatte einen hypnotischen Charakter, war tanzbar und abwechslungsreich. Gespielt wurden Tracks des Albums Eternal Something.




Danach ging es für mich mit Voodoo Jürgens und seiner Band im Spiegelzelt weiter. Die Österreicher hatten Verspätung, waren auf der Autobahn in einen Stau geraten, kamen aber schliesslich doch und das war gut so, denn die im österreichischen Akzent vorgetragene Kabaretmusik hatte hohen Unterhaltungswert und einen einzigartigen Stil. Die Fachpresse bezeichnet Sänger David Öllerer wohl gerne als alpenländischen Tom Waits und so abwegig ist der Vergleich gar nicht. Allzu gerne hätte ich die sicherlich witzigen Texte verstanden, aber dazu war mein österreichisch doch zu schwach. Öllerer fragte deshalb auch, ob es für uns nicht ähnlich sei, wie Eros Ramazotti zuzuhören und wenn ich ehrlich war, fühlte es für mich so an. Natürlich nicht so schmalzig, aber ich kapierte nicht worum es in den Liedern ging. Um die abgehängte Arbeiterschaft wie man in einem Artikel lesen konnte? Um Säufer, Verlierer, Randerscheinungen in einem immer schicker werdenden Wien?

Ein Lied hiess jedenfalls Gitti, dazu hätte man fast mitschunkeln können, es war enorm stimmungsvoll, hatte aber auch viel Melancholie, die mich an Element Of Crime erinnerte.




Letzlich dauerte das Set nur etwa 30 Minuten, weil die Verspätung von 15 Minuten nicht mehr nachgeholt werden konnte. Die halbe Stunde hatte es aber in sich, allein der Look der Musiker war zum Schiessen! Diese schwere Zuhälter-Halzkette von Öllerer, die hässlichen Hemden im Stile der 80er Jahre, die clochardhaften Anzüge, köstlich!

Nun muss ich unbedingt die Texte studieren, damit sich für mich das schrille Universum von Voodoo Jürgens erschliesst!


Weniger schrill und optisch deutlich geschmackssicherer war Julia Jacklin aus Australien um kurz vor acht im Spiegelzelt. Die natürliche Blondine gähnte vor ihrem Auftritt etliche Male, aber das verstand sich von selbst, wenn man sich ihren Tourstress und ihre weiten Reisen vergegenwärtigt. Das arme Mädel muss platt sein! Bei dem wunderbaren Konzert liess sie sich die Müdigkeit aber nicht anmerken, spielte gemeinsam mit ihrer männlichen Band hervorragende Songs von ihrem glänzenden Album Don' Let The Kids Win, darunter die Indiehits Coming Of Age und Poolparty, welches das vorzügliche Set beendete. Etwa in der Mitte des Programms gab es auch Platz für die gelungene Coverversion von Someday von The Strokes.


Die Mischung aus Folk und Indierock klang erlesen und hochkarätig, obwohl Jacklin nichts Neues erfindet und man Songs dieser Art schon vorher bei anderen gehört hatte. Dennoch: ein grosses Talent, starke Lieder und ein hoher Sympathiefaktor.


Sehr sympathisch fand ich auch den Auftritt der beiden jungen Freundinnen Rosa Walton und Jenny Hollingworth von Let's Eat Grandma um kurz vor 9 im Spiegelzelt. Verblüffend die Unbeschwertheit und Kreativität der beiden. Zum Beginn des Sets veranstalteten sie erst einmal ein Klatschduell, wie wir es als Kinder spielten, bevor sie dann in der weiteren Folge an Keyboard, Flöte, Mandoline, Saxofon und weiteren Instrumenten Akzente setzten. Ein Mädel hatte völlig löchrige schwarze Jeans und beide hatten sie lange lockige Haare, die sie wie schwere Jungs der Heavy Metal Szene durch die Luft wirbeln liessen. In zwei Situationen musizierten die beiden gar flach auf dem Boden liegend!




Dennoch war dies alles keine billige Effekthascherei, sondern Ausdruck jugendlicher Experimentier-und Spielfreude und auch stilistisch gingen die Mädels spielerisch von Pop zu Rap und von Rap zu Folk über, als ob es keinerlei Grenzen gäbe (was löblich ist). Ihr Debütalbum I, Gemini ist bereits erhältlich und davon spielten sie unter anderem Eat Shiitake Mushrooms.


Nach Let's Eat Grandma lief ich dann schnell rüber auf die Hauptbühne, um noch etwas vom Set der Afghan Whigs mitzubekommen, aber es lief schon die Schlussphase, so dass ich mir kein Urteil über die Güte des Auftritts erlauben will. Mein Bloggerkollege Dirk hat aber das Konzert der Band von Greg Dulli ausführlich beleuchtet, deshalb verweise ich hiermit auf seinen Bericht.

Nach den Afghan Whigs ging es für mich erneut Richtung Spiegelzelt, um mir ein wenig Klangstof aus Amsterdam anzusehen. Klangstof spielten nicht sehr lange, aber das was ich hörte, gefiel mir durchaus. Sphärisch-melancholischer Gittarenpop mit hübschen Synthiemelodien und einem Sänger der mit seinem Falsett phasenweise an Chris Martin von Coldplay erinnerte. Stadionmusik war das Ganze aber auf keinen Fall, auch wenn die andere Referenz die mir in den Sinn kam, Radiohead nämlich, ähnlich wie Coldplay Arenen beschallen. Gerne hätte ich noch mehr von Klangstof gehört, aber der Auftritt beim Haldern Pop 2017 war zumindest ein Appetitanreger für das Ansehen eines Clubkonzertes der Band.



22Uhr30, Zeit für die Britin Kate Tempest auf der Hauptbühne. Sie hatte ja bereits am gleichen Ort gespielt, 2015 wenn ich mich recht erinne und nicht Google zu Rate ziehe, um das zu bestätigen. Damals hat mich das Ganze  nicht so richtig gepackt, heuer aber war ich von Beginn an fasziniert. Überraschend, denn ich hatte weder ihre 3 Alben gehört, noch ihren Roman oder ihre Poesie gelesen. Ausserdem mag ich Rap und Hop in der Regel nicht und mit politischen Texten habe ich nie intensiv auseinandergesetzt. Schon als Student war ich politisch nicht engagiert, habe mich aber immer  ziemlich bewundernd gefragt, was diese Weltverbesserer antreibt. Woher kommt ihre Motivation, woher die Wut? Ist das nur Ausdruck schlechten Gewissens, der Versuch von den anderen für die wohltäterische Haltung gemocht zu werden oder wahre, aufrichtige Philanthropie? Und wie sieht es diesbezüglich bei Kate Tempest aus? Warum ist die junge Frau so wütend, warum blökt die das Publikum die ganze Zeit so an? Ist sie Anklägerin oder eher Beobachterin? 



Und wer bitte sind Alisha, Esther und Gemma, von denen sie  in Haldern ganze Zeit sang? (bzw. redete) Was habe ich denn mit denen zu tun? Fragen über Fragen, während Kate Tempest ohne Luft zu holen ihr Mikro anpöbelte. Das Tempo, die Intensität und die Wucht mit der sie sich artikulierte war schlicht und einfach atemberaubend, sie rappte mich in Grund und Boden, sang über Selfies, Tinder, Leuten die zur Frühschicht müssen, um ihren Kredit abzubezahlen, Politikern die toten Schweinen in den Mund bumsen (natürlich spielte sie auf David Cameron an), den Anstieg des Wasserspiegels, das Artensterben, Prostituierte, Leuten die nachts noch wach sind (4:18) etc. Im Grunde wurde jedes heisse Eisen angefasst, Klassenunterschiede, Armut, Alkoholismus, Naturkatastrophen, die Konsumgesellschaft, nichts wurde ausgespart. Natürlich war das manchmal ein wenig anstrengend, aber  Tempest legte soviel Wucht in ihre Wortsalven, das man einfach nur staunen konnte. Und die minimalistisch klaustrophobe Synthiemusik passte hierzu genau, sie war düster, bedrohlich, aber auch sehr tanzbar und hypnotisierend. 




Fast eine Stunde lang schrie sich die Britin die Lunge aus dem Hals, spielte hauptsächlich ihr aktuelles Album Let Them Eat Chaos und hatte mich am Ende sehr beeindruckt zurückgelassen. Allein die Vorstellung, das man sich so dermassen viel Text merken und den so schnell und fehlerfrei runterrappen kann, war für mich  schlichtweg unglaublich!


Setlist Kate Tempest:

Picture A Vacuum
Lionmouth Door Knocker
Ketamine For Breakfast
Europe Is Lost
We Die
Whoops
Brews
Don't Fall In
Pictures On A Screen
Perfect Coffee
Grubby
Breaks
Tunnel Vision

Tja und dann war bei mir die Luft raus. Man soll ja schliesslich gehen, wenn es am besten ist und das war bei Kate Tempest der Fall, obwohl ich auch Tom Grennan oder Idles im Spiegelzelt noch gerne gesehen hätte. Aber das Haldern zeichnet sich ja auch dadurch aus, dass man hinterher über Bands stolpert, die man am Niederrhein verpasst hatte. Dann sagt man sich: "Hey, die haben doch schon im Frühstadium ihrer Karriere beim Haldern Pop gespielt, hätte ich doch bloss früher gewusst wie gut die sind, dann hätte ich sie mir bestimmt angesehen!"

In diesem Sinne bis zum nächsten Jahr in Haldern, oder aber jetzt im Herbst noch in Kaltern in Südtirol, allein die wundervollen Landschaftsfotos reizen einen, da mal hinzufahren und mit einem Glaserl Wein die feinen Bands anzuschauen.



1 Kommentare :

Matthias hat gesagt…

Toller Beitrag, weiter so

 

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