Sonntag, 31. Oktober 2010

Carl Barât, Köln, 31.10.10

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Konzert: Carl Barât (& Swimming)
Ort: Gebäude 9, Köln

Datum: 31.10.2010

Zuschauer: wohl so gut wie ausverkauft
Dauer: Carl Barât 80 min, Swimming gut 25 min



Gut, ich war sicher, nicht viel falsch zu machen, als ich entschied, zu Carl Barât ins Gebäude 9 zu gehen. Jedes meiner bisherigen Konzerte des zuverlässigeren Libertines war sehr gut, allerdings kannte ich da seine Musik auch bereits vor dem Auftritt. Carls erstes Album unter seinem richtigen Namen hatte ich bisher nicht gehört. Aber Köche verlernen ihr Handwerk ja auch nicht, wenn sie ein neues Restaurant eröffnen, das Risiko war also überschaubar.

Der Musiker war nicht alleine auf der Bühne, er hatte eine richtig große Band mitgebracht. Neben ihm stand ein weiterer Gitarrist, auf der anderen Seite ein Bassist und eine Cellistin, in der zweiten Reihe Schlagzeuger und Keyboarder.

Carls neue Platte deckt musikalisch ein weites Spektrum ab - von Liedern, die nach den Libertines klangen, über Stücke, die von den Dresden Dolls stammen könnten (The fall) bis zu Stoner Rock (Death fires burn at night - fies!). Schlecht war das alles (bis auf Death fires burn at night) nicht! Aber ganz ehrlich waren wir alle wegen der Gassenhauer der Libertines und des ersten Dirty Pretty Things Albums da und davon gab es reichlich!

Carl Barât schien Spaß an dem Auftritt zu haben - bzw. versteht er, dies zu vermitteln. Säle voller verliebt guckender Frauen und um deren Aufmerksamkeit buhlender Typen sieht er im Gegensatz zu denen schließlich regelmäßig. Übertrieben routiniert oder arrogant wirkte nichts an dem Sänger. Er weiß natürlich, wie er Säle wie das Gebäude 9 sofort hat, das führt aber nicht zu lustlosem Abspulen des Programms. Nach den Libertines Reunion Konzerten im Sommer hätte ich durchaus verstanden, wenn man ihm den Pflichtauftritt in der Provinz deutlicher angemerkt hätte. Dieses Herangehen an seinen Job machte mir den Musiker extrem sympathisch.

Zur Musik ist das meiste bereits gesagt. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß Carl so viel alte Sachen spielen würde. Schon im normalen Teil des Konzerts kamen mit The man who would be king, Up the bracket und Death on the stairs drei Knüller der Libertines. Wirklich speziell wurden die Zugaben. Erst kam der Sänger alleine mit akustischer Gitarre zurück. Nach einer Weile begann eine Art Wunschkonzert. "Ich spiele jetzt noch ein Lied? Zwei Lieder? Ok, drei Lieder!" Er ließ sich vorschlagen, was kommen sollte. "What Katie did? Nein, das versaue ich immer." Schwer vorstellbar - aber gut. Auch ohne diesen Hit war der Abend herausragend! Aber das wußte ich ja eigentlich schon vorher...

Setlist Carl Barât, Gebäude 9, Köln:*

01: Je regrette, je regrette
02: Run with the boys
03: The man who would be king (The Libertines)
04: Carve my name
05: She's something
06: Driftwood (Dirty Pretty Things)
07: The magus
08: So long, my lover
09: Up the bracket (The Libertines)
10: What have I done?
11: Death fires burn at night
12: Death on the stairs (The Libertines)
13: Bang bang you're dead (Dirty Pretty Things)

14: What a waster (The Libertines) (Z)
15: 9 lives (Dirty Pretty Things) (Z)
16: France (The Libertines) (Z)
17: The fall (Z)
18: Music when the lights go out (The Libertines) (Z)
19: Time for heroes (The Libertines) (Z)
20: Truth begins (Dirty Pretty Things) (Z)
21: Don't look back into the sun (The Libertines) (Z)

Links:

- Fotos von Carl Barât aus dem Gebäude 9
- Rest folgt


* Vorgruppe war Swimming aus den englischen Midlands. Mir gefiel die britische Version von Yeasayer recht gut, ob es für mehr reicht, weiß ich gerade nicht.




Denis Jones, Paris, 30.10.10

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Konzert: Denis Jones
Ort: Chez Justine, Paris
Datum: 30.10.2010
Zuschauer: hmm
Konzertdauer: etwa 40 Minuten


Eigentlich war ich auf eine Party bei einem sehr netten Landsmann eingeladen. Ob es einen Zusammenhang mit Halloween gab, weiß ich nicht. Ist aber auch egal, denn ich wollte auf jeden Fall da hin, gruselig geschminkt oder nicht. Seitdem ich wie so ein Junkie quasi jeden Abend auf Konzerten unterwegs bin, ist es schwierig geworden, mich zu einer Party anzulocken (es sei denn es tritt dort eine Band auf). Meine sozialen Kontakte fokussieren sich stark auf andere Musikverrückte, ebenso süchtige Konzertgänger, Indiemusiker, Konzertveranstalter, Gigfotografen, andere Blogger, Labelmenschen etc. Obwohl es natürlich auch hier ein paar Arschgeigen gibt, fühle ich mich in dem Milieu pudelwohl. Aber ich möchte trotzdem auch gerne mal sehen, wie andere Mitbürger in Paris so leben und Leute kennenlernen, die nicht direkt etwas mit Musik zu tun haben. Das Problem war bloß: am heutigen 30. Oktober gab es natürlich auch wieder einige spannende Konzerte. Logisch. Irgendwo spielt in Paris immer die Musik, jeden Tag.

Die Auswahl war wieder einmal prima und es war schwierig, sich auf einen Gig festzulegen. Crystal Castles zappelten in der ausverkauften Cigale rum (ich mag die seltsamerweise, obwohl ich eigentlich überhaupt kein Anhänger synthetischer Musik bin), Beach Fossil beehrten die Flèche d'or und Ariel Pink trat im Nouveau Casino auf.

Aber meine Wahl fiel auf eine Veranstaltung, die gleich gegenüber des Nouveau Casino, im Cafe/Restaurant Chez Justine stattfand. Hier sollte der Brite Denis Jones spielen, mit dem fast eine Oliver Peel Session zu Stande gekommen wäre. Wohlgemerkt: ich wollte trotzdem auf die Fete zu meinem netten Landsmann. Ich dachte, es sei beides möglich. Erst Denis Jones bei Justine gucken und dann ab zur Party. Ich hatte nicht nur meine Frau dabei, sondern auch eine Flasche Wein, die ich dem Gastgeber übereichen wollte. Daraus wurde aber nichts, weil das laut My Space für 20 Uhr angesetzte Konzert von Denis Jones letzlich um 22 Uhr 30 begann. Zuerst wurde hier der samstägliche Restaurantbetrieb durchgezogen. Schicke Leute (" des gens branchés" wie man in Frankreich sagt) drängelten sich im Minutentakt zur Tür herein, um überteuerte Burger (15 Euro der kleine Cheeseburger mit Pommes Frites, happig!) oder Cocktails an der Bar zu trinken. Ich hatte den Laden Chez Justine ganz anders in Erinnerung. Als ich vor etwa zwei Jahren hier gegen 18 Uhr einmal zum Aperitif einkehrte, saß man auf stimmunsvollen, abgewetzten Sesseln und schrammeligen Tischen. Das hatte Atmosphäre und den typisch Pariser Bohème Charme. Nun aber haben die (neuen?) Betreiber die alten Möbel rausgeworfen, machen verstärkt auf angesagtes Restaurant und zielen es auf eine zahlungskräftige Klientel ab. Nichts für mich, ich fühlte mich nur mittelmäßig wohl. Auch der Künster selbst, Denis Jones, äußerte sich vor dem Gig skeptisch und fragte sich, ob die mampfenden Schönlinge ihm denn überhaupt Beachtung schenken würden. Letztlich verhielt sich das Publikum aber relativ fair und es wurde nicht allzu heftig geplappert. Begünstigend kam hinzu, daß die Boxen ziemlich laut aufgedreht wurden und der Kollagensound des Klangkünstlers Denis Jones die Plaudereien an den Tischen weitestgehend überdeckte. Schade allerdings, daß es technische Probleme gab. Zunächst riss dem Briten schon nach ein paar Takten eine Gitarrenseite, die er eigenhändig reparieren musste und dann war der Rauschebartträger auch mit dem Ton nicht so recht zufrieden. Seine Loop-und Sampeltechnik ist faszinierend, allerdings auch störungsanfällig und live nicht immer leicht zu reproduzieren. "Sorry ich kann hier nur die halbe Leistung bringen", sagte er etwa in der Mitte des Auftritts schulterzuckend in Richtung des Publikums. Aber das störte mich persönlich nicht sonderlich, denn das enorme Potential und der Ideenreichtum des Engländers war dennoch einwandfrei zu erkennen. Seine Stimme ist vorzüglich und seine Elektrofrickeleien klingen so organisch, daß man das Ganze trotzdem noch als Folk bezeichnen kann. Eine moderne Interpretation des Genres freilich. Future Folk kann man bei Last fm lesen und dieser Begriff trifft die Sache schon sehr gut. Anstatt am konventionellen Singer/Songwriter-schema festzuhalten, bei dem traurige Männer traurige Lieder auf einer Akustikgitarre zum Vortrage bringen, feilt Jones an einem Stil, der zwar in den letzten Jahren auch schon von einigen anderen Künstlern angewendet wurde, aber dennoch ganz klar die Handschrift seines Autors trägt. Vor allem aber: die Lieder von Denis sind einfach wunderschön! Sie stammten heute größtenteils von seinem letzte Output Clap Hands, in Ausnahmefällen aber auch von seinem Debüt Humdrum Virtue. Eine Setlist hatte der talentierte Musiker trotzdem nicht, denn ein Teil des Sets bestand aus freien Improvisationen. Dennoch wurde es über die gesamte Länge nie zu experimentell, weil Jones unkonventionellen Liedern, auch immer mal wieder Stücke hinterherschickte, die einen eher klassischen Folkaufbau hatten. Visuell wurden die Tracks von abstrakten Videos untermalt, die die hypnotische Wirkung des Songmaterials noch unterstrich.

Nach etwa 40 Minuten hatte Jones fertig und schlich von der kleinen Bühne. Ich (und diejenigen die zugehört haben) hatte(n) ein feines Konzert erlebt, das ich mir noch durch CD Käufe versüßte. Ich lehne mich sicherlich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, daß die Indiegemeinde von Denis Jones in den nächsten Jahren noch so einiges hören wird.




Freitag, 29. Oktober 2010

Agnes Obel & An Pierlé, Paris, 28.10.10

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Konzert: Agnes Obel & An Pierlé, Pias Nite #1

Ort: La Flèche d'or Paris
Datum: 28.10.10

Zuschauer: sehr viele, etwa 450



Kürzlich hat Bloggerfreund Eike vom Klienicum ein interessantes und wichtiges Thema auf Seite eins gesetzt: die Unabhängigkeit von Musikblogs.

Wie stark ist der Einfluss der Musikindustrie auf Blogs? Wie beeinflussbar sind die Hobbyschreiberlinge, wenn sie CDs und Gratisdownloads geschenkt bekommen? Wieviel Mühe geben sich die Blogger, die mitgelieferten reißerischen Werbetexte der Plattenlabels (die sogenannten Waschzettel) kritisch zu hinterfragen und ihre eigene Meinung bei den Posts von neuen CD-Rezensionen darzustellen? Alles Fragen, die man sich stellen muss. Auf das Konzerttagebuch bezogen, kann ich ohne eine Pinocchio-Nase zu bekommen, behaupten, daß wir so gut wie nie CDs bekommen. Und Gratisdownloads werden uns zwar auch vermehrt aufgezwungen, aber da wir keine Alben besprechen, vergessen wir die Sache umgehend wieder. Bei Konzertakkreditierungen kommt es auf den Veranstalter an. Mal klappt es, mal nicht.

Auf den heutigen Abend bezogen: Für die erste Pias Nite in der Flèche d'or, war ich vom Label offiziell akkreditiert und musste den recht moderaten Eintrittspreis von 10 Euro nicht bezahlen. Dennoch muss ich zugeben, daß ich die Konzerte nur mittelmäßig prickelnd fand. Ich hoffe Pias kann mit meiner Offenheit leben und akkreditiert mich in Zukunft wieder, denn das Label hat wirklich sehr gute Musiker in seinen Reihen.* Warum also konnte die Veranstaltung nicht meinen hohen Erwartungen gerecht werden? Zunächst einmal waren die Rahmenbedingungen schwierig (um nicht zu sagen: beschissen). Die Flèche d'or war überfüllt und die vielen Mitbürger erzeugten eine unangenehme ,schwer ertägliche Wärme, die mit den ziemlich frostigen Außentemperaturen kontrastierte. Die vorderen Stehplatzreihen waren komplett von Fotografen und Videofilmern eingenommen. Man hatte das Gefühl, es würde eine DVD für das allerletzte Konzert von Leonard Cohen gedreht. Die Sicht war den meisten Mitbürgern entsprechend versperrt und egal in welche Lücke man auch stossen wollte, sie war verstopft. Ich versuchte mich zunächst links von der Bühne zu postieren, sah dort aber nix und begab mich auf die andere Seite, nur um verzweifelt zu konstatieren, daß es auch dort knallvoll war. Die hübschen Sängerinnen des heutigen Abends, An Pierlé und Agnes Obel sah ich deshalb nur durch die Linse meiner kleinen Kamera.

Dann die Konzerte. Den sehr früh angesetzten Daan hatte ich verpasst und beim Auftritt der Belgierin An Pierlé langweilte ich mich nach ein paar Liedern bereits gräßlich. Ihre Stimme klang nach Kate Bush und die Lieder hatten diesen unangenehmen Varieté Charakter, den ich (meistens) nicht ausstehen kann. Begleitet von einem alt aussehenden Männlein mit Bart, klimperte die hübsche Blondine etwa 40 Minuten lang auf ihrem Piano, ohne daß sie mich auch nur mit einem Song berührt hatte. Der Abschluß mit dem Rita Mitsouko- Cover C'est Comme Ça war ähnlich nervig wie das gesamte Konzert.

Die Headlinerin Agnes Obel aus Dänemark war ebenfalls blond und hübsch, klimperte ebenfalls auf einem Piano und hatte auch Verstärkung in der Person einer Cellistin auf der Bühe dabei. Nervig war ihr Konzert aber nicht, sondern eigentlich sehr schön. Leider zu schön. Zu nett. Zu harmlos. Zu gleichförmig. Auch hier langweilte ich mich nach ein paar Liedern. Zwar nicht gräßlich, aber doch ein wenig. Die Songs, allesamt absolut harmonisch und fehlerfrei vorgetragen, boten kaum Reibungsfläche und Abwechslung. Alles war bis in den letzten Notenschlüssel ausgetüfftelt und zu Tode arrangiert. Luft zum Atmen, Raum zur Improvisation, gab es somit fast keine. Mit schöner Stimme trug die sehr sympatisch und natürliche wirkende Künstlerin Lied nach Lied vor, bewegte mich aber kein einziges Mal emotional. Ihre Melancholie kam vakuumverpackt und keimfrei rüber, perfekt um in Zukunft ein größeres Publikum zu erreichen und viele CDs ihres Debüts Philharmonics zu verkaufen. Manchmal erinnerte sie mich gar an Katie Melua. Dabei hatten mir Musikzeitschriften vorher den Mund wässrig gemacht. Rock & Folk behauptete sogar, wenn Elliott Smith noch leben würde, hätte er sich mit Sicherheit in die zarte Dänin verliebt. Den Zusammenhang sehe ich nicht. Elliott Smith hat mich deshalb zu Tränen gerührt, weil seine Musik so schonungslos intim, oft höllisch verzweifelt und absolut autentisch klang. Man merkte, daß der Kerl leidet wie ein Hund, das kam in seinen Songs immer zum Ausdruck. Bei Agnes Obel hingegen sah und hörte ich eine strebsame und ernsthafte Musikerin, die das Studium ihrer Klavierkünste mit Sicherheit von klein auf immer mit Fleiß und Disziplin betrieben hatte. Zu wenig, um mich aus der Resere zu locken.

Abschließend sei erwähnt, daß der überwiegende Teil des Publikums (meine Mitbürger) restlos begeistert und von den Künstlerinnen angetan war. Ich selbst ziehe aber auch kein durchweg schlechtes Fazit, denn Pias hat viel Schätze zu bieten und wird mit Sicherheit noch sehr gute Konzertabende veranstalten. Zudem nutzte ich die Gelegenheit, am Merch vier neue CDs von Pias (Timber Timbre, The Black Keys, Tim Robbins, Micah P Hinson) für nur 30 Euro abzustauben. Cool, oder?

Setlist Agnes Obel, La Flèche d'or, Paris:

01: Op/New Song
02: Philharmonics
03: Just So
04: Katie Cruel (Traditional)
05: Close Watch (John Cale)
06: Louretta/Wallflower
07: Brother Sparrow
08: Sons & Daughters
09: Riverside
10: Over The Hill
11: On Powdered Ground

12: Smoke & Mirror

* und man soll nicht glauben, die verstünden kein deutsch!

Ausgewählte Konzerttermine von Anges Obel (ohne Gewähr):

29.10.2010: LKA-Longhorn, Stuttgart (supporting I Am Kloot)
30.10.2010: Flex, Wien
31.10.2010: PPC, Graz
01.11.2010: Backsatge Halle, München
03.11.2010: zakk, Düsseldorf
04.11.2010: Brotfabrik, Frankfurt
06.11.2010: Tivoli, Utrecht
20.11.2010: Komplex, Zürich
25.11.2010: Admiralspalast, Berlin
26.11.2010: Moritzhof, Magdeburg
30.11.2010: Paradiso, Amsterdam




Donnerstag, 28. Oktober 2010

Weyes Blood, Father Murphy, u.a., Paris, 27.10.10

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Konzert: Weyes Blood, Father Murphy, u.n.d.o., Eyes Behind

Ort: Le Tunnel, Paris
Datum: 27.10.2010
Zuschauer: 80-100

Konzertdauer: Beginn 20 h 30, Ende 0 h 30


Mein Vater hätte mich hier nicht hingehen lassen. Zu diesem mysteriösen, sagenumwobenen, bizarren und vermutlich illegalen Ort für ein Konzert: Le Tunnel - der Tunnel.

Der umtriebige polnische Organisator Yendrick hatte mich auf die Location aufmerksam gemacht. Unter dem Namen "le non_jazz" organisiert der Bursche mit den schütteren Haaren Konzerte der speziellen Art. Hier im Tunnel und im Espace en Cours ist er aktiv, lädt Bands ein, von denen selbst Spezialisten in vielen Fällen noch nie gehört haben. Weiter weg vom Mainstream könnte man kaum sein. Dennoch sind die auftretenden Künstler keineswegs Hobbymusiker, die sich in düsteren Schuppen einen auf der Elektrischen abschrammeln, sondern ganz feine, handverlesene Acts. Am letzten Freitag beispielsweise traten im Espace en Cours der formidable Lautespieler Jozef van Wissem und der amerikanische Gitarrist Chris Forsyth auf.

Mit einem Kribbeln im Bauch machte ich mich am Abend des 27. Oktober Richtung Le Tunnel auf. Die Metrostation schien mir für einen verwegenen Ort reichlich unpassend. Hier ist es für Pariser Verhältnisse architektonisch sehr modern und kühl, das Finanzminsterium liegt nur eine U-Bahnstation entfernt und neuartige Ketten haben sich breit gemacht. Sie bieten unter anderem Bauchmuskeltraining auf diesen doofen Power Plates an (das funktioniert nicht, meine Frau hat es ausprobiert!).

86, rue Baron Le Roy war mein Zielort. Auf dem Weg dorthin latschte ich an etlichen asistischen Restaurants vorbei und konnte mir nicht vorstellen, wo hier in der Gegend eine kultige, geheime Party gefeiert werden könnte. Dann aber sah ich ein altes Steingemäuer zu meiner Linken in dem ein Museum untergebracht war. Mein Auge schweifte nun geradeaus und ich erblickte an einer Mauer die Ziffer 86. Ich kam näher und sah das die Pfeile nach rechts deuteten. Und dann erblickte ich ihn: den Tunnel! Fast gruselig. Hier in der Nähe musste es sein. Ich ging durch die Steinröhre und stieß auf eine Gruppe junger Leute, die auf der Straße rauchten und diskutierten. Unter ihnen war auch ein alter Konzertbekannter, der schon zu einer meiner Oliver Peel Sessions gekommen ist. Alban ist ein Spezialist für das besondere Konzert, wenn ich ihn treffe, weiß ich, daß es spannend und ungewöhnlich wird. Ich erkundigte mich, wer gerade spielt und er deutete mir mit einem Grinsen an, daß der piepsige Lärm, der aus dem Lagergebäude drang, von der ersten Gruppe des Abends stammt. Ich solle meine Ohrenstöpsel benutzen, besser sei das, meinte er weise. Ich kletterte ein paar Treppenstufen hoch und öffnete die Tür zum Sesam. Drinnen hingen nur ein paar Typen apathisch rum und glotzen nach vorne, wo zwei Musiker (?) namens u.n.d.o. unmelodiösen Lärm erzeugten. Obwohl mir der Sound nicht unbedingt zusagte, fand ich die Atmosphäre hier drinnen sofort geil. Rechts auf der kleinen Bühne stand ein alter Kassettenrekorder rum und auch die dazu passenden Kassetten lagen ungeordnet auf einem kleinen Berg. Ich wußte sofort, daß mir ein kultiger Konzertabend bevorstehen würde. Dann sah ich plötzlich Pascal, einen anderen Konzertkumpel von mir, der sage und schreibe 10 000 CDs sein Eigen nennt. Er kaufe jeden Tag mindestens eine, erzählte er mir irgendwann einmal. Rockefeller ist er aber nicht, sondern lediglich ein Musikverrückter, der auch mal gerne bei Konzerten das Gesamtwerk des Künstlers erwirbt. Kürzlich hatte er bei Jozef van Wissem sieben CDs auf einen Schlag erstanden. Leute wie Pascal sollten einen Verdienstorden umgehängt bekommen. Andere wurden schon für weniger rühmliche Dinge ausgeichnet.

u.n.d.o. hatten irgendwann mit ihrem Getöse fertig und es war Pause ansgesagt. Mein filmender Freund Benoit war auch da, er hatte die wundervollen Videos von der Oliver Peel Session mit Simone White erstellt. Auch er ist immer dort, wo es musikalisch prickelnd ist. Und prickelnd wurde es nun auch mit der zweiten Band, den Italienern Father Murphy. Ein Dreier, bestehend aus einem hageren Sänger mit häßlichem Schnauz, einer hübschen schwarzhaarigen Percussionistin und einem kurzgeschorenen Drummer. Der Gesang des Frontmannes erinnerte mich an Efrim '"A Silver Mount Zion" Menuck : Wehklagend , greinend und durch Mark und Bein gehend. Manchmal sang auch die schwarzhaarige Beauty, aber den Hauptpart übernahm Mr. Pornobalken. Toll war der Drummer, er kloppte so übel drauf, daß es sich nach Peitschenhieben anhörte. Die Atmosphäre war düster, wolkenverhangen, gespenstisch. Eine bessere Location für ihren Musikstil hätten Father Murphy nicht haben können. Und auch kein dankbareres Publikum, denn sie verkauften etliche Vinylalben und CDs im Laufe des Abends.

Nach Father Murphy waren Franzosen dran. Eyes Behind kommen aus Paris und sind ebenfalls ein Trio, bestehend aus zwei Weiblein und einem Männlein. Besonders auffällig agierte die zierliche asiatische Drummerin. Sie wirbelte wie ein Derwisch hinter ihrer Schießbude und schüttelt permanent ihr Haar im Takt. Niemals konnte sie ruhig sitzen und auch ihr Spiel war entsprechend wild und unkonventionell. Stilistisch wurde Garagenrock in der Tradition der Ramones mit einer Prise New Wave geboten. Insgesamt ein cooles Set, das gut beim Publikum ankam. Eyes Behind werden demnächst Pains Of Being Pure At Heart in Paris supporten, vielleicht sehen wir uns da ja schon wieder...

Inzwischen war es schon recht spät geworden und ein paar Leute verließen die Location. Auch ich fürchtete, die letzte Metro zu verpassen und ein teures Taxi bezahlen zu müssen, wollte aber unbedingt noch die Amerikanerin Weyes Blood sehen. Gut, daß ich geblieben bin, denn das Konzert von Weyes Blood war für mich das beste des Abends. Die hübsche junge Frau mit der frechen roten Strumpfhose spielte Keyboard, Orgel und Gitarre und verzerrte den Sound auf hypnotisierende Art und Weise. Ihre Stimme war super, sie erinnerte mich an viele meiner Lieblingsfolksängerinnen. Dem Ganzen haftete eine spirituelle und esoterische Note an, die mich enorm faszinierte. Schwer zu sagen, wo man sie musikalisch hinstecken soll. Sie ließ mich ein wenig an die duchgeknallte Tickley Feather denken, aber auch an eine deutlich weniger mainstreamige Ausgabe von Beach House.

Eine tolle Entdeckung, ich habe ihr konsequenterweise auch ihre selbstgebastelte CD abgekauft. Interessant: auf ihrer Mailing-Liste hatten sich auch etliche Deutsche eingetragen. Meine Landsleute kamen aus Leipzig, Hamburg und Berlin. Unfassbar, daß sie von "Le Tunnel" gehört hatten. Ist der Ort doch nicht so geheim und verwegen, wie ich urspünglich dachte?






Heligoland, Paris, 26.10.10

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Konzert: Heligoland

Ort: L'International, Paris
Datum: 26.10.10
Zuschauer: etwa 150
Konzertdauer: ungefähr 40 Minuten


Auf Helgoland war ich noch nie. Meine Eltern sind früher immer mit mir auf eine andere Nordseeinsel, nach Norderney, gefahren. Dennoch führe ich die englische Übersetzung von Helgoland, Heligoland, in den letzten 12 Monaten regelmäßig im Munde, weil sich eine in Paris lebende australische Shoegaze-Band nach der Insel benannt hat. Seitdem ich sie im Pariser Glazart 2009 zum ersten mal sah, bin ich regelrecht süchtig nach ihrem melancholischen Dreampop. Hinzu kommt, daß die Bandmitglieder unglaublich nett und herzlich sind und immer ein Lächeln auf den Lippen tragen. Sängerin Karen Vogt hat es mir mit ihrem sehnsüchtig flehentlichen Gesang besonders angetan. Man merkt, daß das bei ihr aufrichtig gemeint ist, sie nicht schauspielert. Und Gitarrist Dave Olliffe hat schon in meinem Wohnzimmer musiziert, aber ich finde ihn nicht nur deshalb toll. Mit seinen melodischen Riffs schießt er mich regelmäßig auf den Mars.

Klar, daß ich kein Konzert von Heligoland verpassen will! Zu dumm nur, daß heute auch noch Peter Broderick in der Flèche d'or spielte und ich den Kerl auch auf keinen Fall auslassen wollte. Aber ich schaffte beides terminlich zu vereinbaren. Erst Peter Broderick und dann Heligoland im International. Dass ich die ersten beiden Songs der Australier versäumte war zu verschmerzen. Mit Nearness und Light Inside hatten sich mich nämlich schnell wieder rumgekriegt. Die Kombi aus dem wehklagenden Gesang von Karen und den unverschämt melodiösen und schönen Gitarrenparts von Dave wirkte besser als jedes Medikament und die traurige Musik verbesserte meine Laune schlagartig. Auch ein Jahr ohne Sonne, A Year Without Sunlight konnte meiner Psyche nichts anhaben, vor allem wenn es sich um ein famoses Lied von Heligoland handelt. Wahnsinn wie Karen mit ihrer berührenden Stimme die Seele massierte und Dave die Elektrische höher und höher stiegen ließ. Wie ein Heißluftballon, der sich immer weiter von der Erde entfernt. In solchen Momenten möchte ich am liebsten meine Euphorie rausschreien, wie ein Fußballspieler, der ein wichtiges Tor markiert hat. Vor meinem geistigen Auge laufen dann Bilder von Adlern ab, die majestätisch über die Felder gleiten und sich grenzenlos frei fühlen. Immer wieder fantastisch was Musik auf emotionaler Ebene anstellen kann. Und Heligoland drücken eben bei mir genau die richtigen Knöpfchen! Hach!



Wer Gelegenheit hat, die live zu viert auftretende Band in seiner Nähe zu sehen, sollte unbedingt da hin. Für meine Helden würde ich persönlich nämlich glatt nach Australien schwimmen. Aber das muss ich gar nicht, sie spielen ja oft genug in Paris und wer nicht grad um die Ecke wohnt, kann sich wunderbar mit ihrem neuen Album All Your Ships Are White trösten!



Setlist Heligoland, L'International, Paris:

01: Cabo De Gata
02: Kiss Kiss Bang Bang
03: Nearness
04: Light Inside
05. I'm In Love With A German Filmstar (The Passions Cover)
06: Mapping


Aus unserem Archiv:

Heligoland, Paris, 05.05.10
Heligoland, Paris, 17.02.10
Heligoland, Paris, 11.10.09
Heligoland, Paris, 02.09.09




The Divine Comedy, Köln, 26.10.10

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Konzert: The Divine Comedy (An Evening with Neil Hannon)
Ort: Kulturkirche, Köln
Datum: 26.10.2010
Zuschauer: ausverkauft
Dauer: ca. 90 min

von Dirk von Platten vor Gericht


Die Protagonisten des gestrigen Abends in der Kölner Kulturkirche waren dem Rahmen entsprechend gekleidet: Cathy Davey, eine 31jährige irische Singer/Songwriterin, die das halbstündige Vorprogramm bestreiten sollte, trug ein kurzes schwarzes Kleid mit weißen Punkten, dazu rote, farblich perfekt auf den Schellenkranz abgestimmte Strümpfe und Stiefel und auf dem Kopf eine elegante Mischung aus Lorbeerkranz, Haarnetz und Vogelnest. Ihre Songs trug sie mit beeindruckend heller Stimme zur Gitarre vor und dürfte nach Beendigung des Konzertes im Eingangsbereich die eine oder andere CD verkauft haben, denn sie kam bei den Zuhörern sicherlich ebenso gut an wie der Veranstaltungsort bei ihr („Best Venue ever“).

Neil Hannon betrat um 21:00 Uhr die Bühne, gewandet in einen dunklen Anzug, samt weißem Hemd und mit Krawatte, die im Verlauf des Abends immer lockerer und
letztendlich völlig gelöst werden sollte. Herrlich unpassend dazu die rot-grün geringelten Socken. Aus einer Aktentasche holte er die Setliste des Abends hervor, legte seine Pfeife auf den Flügel und eröffnete das Set mit Assume The Perpendicula aus dem aktuellen Album Bang Goes The Knighthood und The Pop Singer’s Fear of the Pollen Count. Dass er kurz zuvor noch einen Hut getragen haben musste, zeigte seine Frisur deutlich, und so war es auch nicht verwunderlich, dass Hannon vor dem dritten Titel (The Complete Banker) erklärte, dass er alle Konzerte der Tournee mit dem Bowler auf dem Kopf eröffnet habe, aber 5 Minuten vor Beginn feststellen musste, dass er ihn im Hotel hatte liegen lassen.

Im Folgenden lullte Neil Hannon, der den kompletten Abend allein auf der Bühne bestritt (gestreng dem Motto „An Evening with Neil Hannon“ folgend), sich und das
Publikum mit ruhigen und wenig(er) spektakulären Titeln ein wenig ein. Ein Blick auf die Setliste und voran gegangene Konzerte zeigten, dass er die Auswahl und Reihenfolge der Songs für jeden Abend neu trifft, wiederverwirft (wie auf den durchgestrichenen Titeln der Setliste zu sehen) und variiert. Insgesamt zweimal löste er sich vom Klavier und bot jeweils zwei Songs (Lost Property und Becoming more like Alfie bzw. A Lady of a certain Age und Songs of Love) zur Akustikgitarre dar, was der Abwechslung sehr gut bekam.

Im Verlauf des gut 90minütigen Auftritts taute Hannon zunehmend auf, gab uns den charmanten bis witzigen Entertainer, den wir erwartet
hatten und erfüllte (mir zumindest) die meisten der zuvor erhofften Songwünsche. Er lobte das Publikum, weil es im Vergleich zu vielen anderen während der Lieder sehr still sei, forderte aber dann dazu auf, beim anschließenden The lost Art of Conversation über Gott und die Welt zu reden. Doch es wurde weiter gebannt gelauscht und so übernahm Hannon das „Gemurmel“ selbst und stellte sich die rhetorischen Fragen, warum er denn viel weniger Fehler als sonst begehe und ob dieser Song denn niemals enden würde. Doch die kleinen Fehler und Patzer sollten kommen, und wurden von Hannon galant kommentiert (so ließ er der Textzeile „Have you ever been in love“ ein „Have you ever had a Frog in your Throat“ folgen), ignoriert (das erstmalige Verspielen in Our mutual Friend) oder (im sich direkt anschließenden zweiten Patzer) verflucht („Shit!“). Eine kurze statistische Erhebung sollte ergeben, seit wie vielen Jahren die Besucher bereits zu Konzerten von The Divine Comedy gingen. Meldeten sich bei 5 Jahren noch recht viele, gingen die meisten Hände bei 10 Jahren nach unten und nur ganz wenige konnten auch bei 15 Jahren noch aufzeigen. Neil Hannon meinte daraufhin, dass sie eigentlich einen besonderen Button verdient hätten. Es sei jedoch nicht möglich, dass jemand bereits seit 20 Jahren zu seinen Konzerten komme, denn dann müsse es sich um ein Familienmitglied handeln.

Höhepunkte waren sicherlich At the Indie Disco, das das Kölner Publikum nach Aufforderung 3 Minuten mit Klatschen und Schnippen begleitete, sowie das anschließende Human League Cover Don’t you want me. Bereits zuvor hatte ich davon gelesen (zudem spielt er derzeit häufig Randy Newmans Short People) und
gedacht, dass dies ein idealer Zeitpunkt zum Getränkeholen wäre. Doch Hannon, Klavier und Don’t you want me passten hervorragend zusammen und gewannen dem Song mehr ab, als ich zuvor für möglich gehalten hatte. Besonders die Stelle, als Hannon mit Falsett-Einlage in die weibliche Gesangsrolle schlüpfte („I was working as a Waitress in a Cocktail Bar...“). Danach erzählte er, dass er immer auf Synthie-Pop gestanden habe, The Human League, Randy Newman, O.M.D., Depeche Mode... - ein Räuspern - ...und dass er beim Stimmen der Gitarre immer Quatsch erzähle. Wir erfuhren zudem, dass Ms Pop Muzik der beste Popsong aller Zeiten sei - er ihn aber jetzt nicht spielen werde. Nach dem tollen Our mutual Friend, das auch ohne Streicher glänzend funktionierte, beendete in schöner Tradition Tonight we fly, gefolgt von einer tiefen Verneigung, den Hauptteil des Abends.

Als Zugabe spielte Neil Hannon zunächst Can you stand upon one Leg und nach der Textzeile „Tell me can you tell a funny joke, One that makes you laugh out loud, One that makes the milk come out your nose, If you know a funny joke then tell it now“ stoppte die Musik und Pfarrer Thomas Diederichs, der zuvor durch den Abend
geführt hatte, betrat die Bühne. Er gab folgenden Witz zum Besten: Geht ein Mann zum Arzt. „Herr Doktor, Schmetterlinge verfolgen mich überall hin,“ sagt er und wedelte mit den Armen. „Doch nicht alle zu mir rüber!“ sagte der Arzt. Die Reaktion des Publikums ließ Hannon nachfragen, ob der Witz wirklich so schlecht gewesen sei.

Da noch National Express und die Aussicht auf einer Wiederkehr Hannons im nächsten Jahr folgten, brauchten wir auf der Heimfahrt nicht an den Witz zu denken, sondern konnten in den Melodien von The Divine Comedy und Erinnerungen an einen schönen Abend schwelgen.

Setlist The Divine Comedy, Kulturkirche Köln:

01: Assume the Perpendicular
02: The Pop Singer’s Fear of the Pollen Count
03: The complete Banker
04: Going downhill fast
05: The Summerhouse
06: Sweden
07: Lost Property
08: Becoming more like Alfie
09: Snowball in negative
10: Have you ever been in love
11: The lost Art of Conversation
12: At the Indie Disco
13: Don’t you want me (The Human League - Cover)
14: A Lady of a certain Age
15: Songs of Love
16: The Frog Princess
17: Our Mutual Friend
18: Tonight we fly
19: Can you stand upon one Leg (Z)
20: National Express (Z)




Mittwoch, 27. Oktober 2010

Peter Broderick & François and The Atlas Mountains, Paris, 26.10.10

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Konzert: Peter Broderick & François And The Atlas Mountains

Ort: La Flèche d'or, Paris
Datum: 26.10.2010
Zuschauer: recht gut besuchte Veranstaltung



"Die Vorstadtdiskos sind total primitiv und sauteuer und um in die angesagten Läden in der Stadt reinzukommen, muss man sich anziehen wie eine Nutte."

Diesen Spruch einer jungen Pariserin konnte man allen Ernstes lesen, als die Kulturzeitschrift Les Inrocks 10 Gründe dafür anführte, warum die Jugend in Rage gegen Sarkozy ist. Das Nachtleben in der Seine-Metropole sei grundsätzlich scheiße und überteuert, wurde gefolgert.

Wenn ich solch einen Blödsinn lese, muß ich mir wirklich an den Kopf fassen! Es gibt ja wahrlich genug Gründe, den Präsidenten mit den Einlegesohlen zu kritisieren, aber die Grenze zur Albernheit sollte man dabei nicht überschreiten. Irgendwann werden junge Leute noch behaupten, daß der Eintritt in der Flèche d'or etwas teurer geworden ist, weil Carla Bruni das so wollte. Und das Frankreichs Fußballmannschaft derzeit so schwach ist, liegt natürlich an Sarko. Logisch. Aber reden wir doch mal über das Kultur-und Nachtleben in Paris. Ist das wirklich so schlecht? Grinderman & Anna Calvi in der Cité de la Musique, Perfume Genius im Point Ephémère, Yeasayer im Bataclan, Heligoland im International und Peter Broderick & Francois and The Atlas Mountain in der Flèche d'or. All dies wurde am heutigen 26. Oktober geboten. Wer da noch sagt, daß das Angebot mies sei, dem ist wirklich nicht zu helfen. Und abgesehen von der Show von Nicks Grindermännern waren auch die Eintrittspreise erschwinglich. Man muss wissen, daß es in Paris für quasi jedes Konzert, insbesondere für die kleinen und mittelgroßen Indiegigs, Gewinnspiele gibt, bei denen man sehr gute Gewinnchancen hat. Zudem existieren zahlreiche Gratisläden mit sehr ordentlichem Programm und in der Flèche d'or werden heuer je nach Konzert zwischen 8 und 10 Euro verlangt. Dafür bekommt man in der Regel drei, manchmal vier Bands + anschließendem DJ Set geboten.

Heute standen in der Flèche d'or ebenfalls drei Acts an. Der French Cowboy interessierte mich am wenigsten, ich war vielmehr für Peter Broderick und François and the Atlas Mountains gekommen.

François machte den Beginn. Der schmale Franzose mit den feinen Gesichtszügen lebt in Bristol und gehört zur dortigen Folkszene. Dennoch kommt er natürlich immer mal wieder nach Paris, um mit seiner vielköpfigen Band aufzutreten. In der Vergangenheit hatte ich ihn zweimal knapp verpasst, da galt es heute Versäumtes nachzuholen. Und es hatte sich letztlich gelohnt, früh auf der Matte zu stehen. François and The Atlas Mountains boten einen frischen Stilmix aus Pop und Indie, garniert mit einem nicht zu überhörenden Afroeinschlag. Sofort schossen mir Referenzen durch den Kopf und die üblichen Verdächtigen offenbarten sich : Animal Collective, Grizzly Bear, Le Loup, Yeasayer, Vampire Weekend. Diese Vergleiche dienten als Einordnunghilfe, konnten aber nicht das ganze Universum der Franzosen erklären. Bei François gab es eine typisch französische Note, die nicht nur an dem phasenweise französischen Gesang lag.

Ich verbrachte jedenfalls eine gute halbe Stunde und war besonders von dem Trommler beeindruckt. Der Bursche hüpfte gleich vor mir barfuß rum und trommelte auf zahlreiche Bongos, ohne je den Takt zu verlieren. Eine schweißtreibende und schwierige Aufgabe, die er mit Bravour meisterte!

Dann kam Peter Broderick. Der Bruder der süßen Heather hatte bei dem Konzert von François in der ersten Reihe gestanden und ebenfalls seinen Spaß gehabt. Bekannt geworden als Geiger von Efterklang, hat sich der sympathische Kerl zu einem beachtlichen Solomusiker entwickelt, der auch zahlreichen anderen Musikern seine Violinenkünste zur Verfügung stellte (Horse Feathers, She & Him, Laura Gibson, etc.). Sein letztes Album (sein sechstes in nur drei Jahren!) heißt How They Are, aber davon spielte er seltsamerweise keinen einzigen Song! Es dominierte ganz klar das Material von Home (2008). Absolut zu verschmerzen, denn alles was Peter anfasst ist hochfein und filigran. Seine Stimme ist sanft, aber doch eindringlich, sein Geigespiel herzerwärmend und seine Arrangements komplex und durchdacht. Dass ihm heute einige Male das richtige Timing fehlte, um die Instrumente zu wechseln (von der Geige zur Akustikgitarre und umgekehrt), sei ihm verziehen. Auch talentierte Musiker wie er sind nun mal keine Roboter, sondern Menschen, die unter dem Schlafmangel während ausgedehnter Tourneen zu leiden haben. Hinzu kommt, daß Broderick kürzlich erst von einer Knieoperation genesen ist und deshalb vielleicht einen Tick langsamer als sonst ist. Erfreuen wir uns doch eher an den herrlichen Liedern die gespielt wurden, als das Haar in der Suppe zu suchen. Ist With The Notes in My Ears etwa kein Kleinod, das uns im heranziehenden Winter wie eine warme Decke wärmen wird? Below It kein Seelentröster, der uns in traurigen Stunden begleitet und uns wieder aufrichtet?

Gegen Ende des leider recht kurzen Konzertes stieß dann ein Musiker namens Johan mit hinzu, mit dem Peter eine Split 7" veröffentlich hat, die auf den schlichten Namen Peter Broderick & Johan G Winther on Johan G Winther & Peter Broderick hört. Toll, wie die beiden zusammen agierten, ich hätte stundenlang zuhören können! Danach war aber relativ schnell Schluß und ich hatte einen wirklichen guten Konzertabend verbracht.

Kostenpunkt? 0 Euro*, weil mich ein Freund eingeladen hat, der zwei Plätzchen gewonnen hatte. Musste ich mich, um die Flèch d'or zu kommen, besonders in Schale werfen? Nö. Ist das Kultur-und Nachtleben in Paris mies? Nö, im Gegenteil! Ich bin sogar noch anschließend ins International geeilt, dort spielten gratis die famosen Australier Heligoland auf.

Worüber sich die Jugend lieber mal aufregen sollte: die Pariser sind beschissene Autofahrer, vor allem nachts! Fast jeden Tag kommt es vor, daß jemand völlig ohne Licht durch die Straßen der Stadt fährt, ohne es zu merken. Unfassbar!

Setlist Peter Broderick, la Flèche d'or, Paris (merci à Chantal!)

01: Looking / Thinking

02: The Piano Race
03: Below It
04: Pop's Song
05: Not At Home
06: With The Notes In My Ears
07: Pappa I Sverige (feat. Tsukimono/Johan G. Winther)
08: Chasing Kingdoms (feat. Tsukimono/Johan G. Winther)
09: Everything
10: Games Again

* regulärer Preis 10 Euro

Ausgewählte Konzerttermine Peter Broderick (ohne Gewähr):

28.10.2010: Luzern at Treibhaus
31.10.2010: Hamburg at Haus 73
26.11.2010: Berlin at HBC
27.11.2010: Utrecht at Le Guess Who Festival
28.11.2010: Brüssel at Autumn Falls, Botanique


Links:

- Das Klienicum mit einer wundervollen Albumbesprechung von Peter Broderick, How They Are?.
Klick!
- Auch zu François and The Atlas Mountains hat das Team vom Klienicum schon etwas Schönes geschrieben, klick!




 

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