Konzert: Motorama (AV & El Perro del Mar)
Ort: Le Point Ephémère, Paris
Datum: 27.11.2012
Zuschauer: volle Hütte, wohl etwa 300
Konzertdauer: Motorama: 53 Minuten, El Perro del Mar gut 50 Minuten
Es war vor fast genau 10 Jahren. Frankreich stand im Tennis Daviscup Finale gegen Russland. Ich war im Stadion in Bercy live mit dabei. Mein erstes Daviscup Finale überhaupt, leider nicht als Spieler, aber immerhin als Zuschauer. Es läuft das letzte entscheidende Einzel zwischen Paul-Henri Matthieu und Mikhail Youzhny. Gesamt-Zwischenstand ist 2:2, wer jetzt dieses Match gewinnt, holt den Pott für sein Land. Der Franzose spielt zu Beginn sensationell gut, macht auf beiden Seiten Druck und führt schnell mit 2:0 Sätzen. Es ist fast langweilig, so drückend ist seine Überlegenheit. Es fehlt nur noch ein Satz, dann kann Frankreich die Champagnerkorken knallen lassen. Sieht nach einer Formsache aus. Dann aber steigert sich der Russe plötzlich. Youzhny ist ein großgewachsener, etwas tapsig wirkender Bursche mit Stoppelhaarschnitt und rundem Kopf. Seine enorm ästhetische einhändige Rückhand* kommt immer besser, er zieht sie nun immer häufiger durch. Er gewinnt den dritten Satz, verkürzt auf 1: 2 Sätze. Matthieu setzt noch einmal nach, will den Sack zumachen, scheint den vierten Satz und das Match jetzt doch zu gewinnen. Aber die Rückhand von Youzhny kommt in den entscheidenden Momenten gestochen scharf. Wie Laserstrahlen schießen die Bälle in die Hälfte von Matthieu, der den vierten Satz trotz vieler Chancen verliert. Nun kippt das Match komplett. Youzhny feuert aus allen Rohren und gewinnt auch den fünften und entscheidenden Satz und somit das Match. Russland ist Davis Cup Sieger.
Jetzt schäumen die Emotionen über. Matthieu weint wie ein kleiner Junge auf seinem Stühlchen, Youzhny salutiert wie ein Soldat und wird von seinen Kollegen hoch in die Luft geworfen. Ein Konfettiregen rieselt von oben runter, Musik ertönt (David Guetta, igitt), Präsident Boris Jelzin ist auf dem Platz, jubelt mit den Russen. Die Franzosen im Publikum schlagen die Hände über dem Kopf zusammen, ein paar Leute werfen aus Frust ihre Sitzkissen durch die Gegend. Ich selbst bin völlig konsterniert, habe mit meiner Wahlheimat Frankreich mitgezittert. Das Bild des weinenden Paul Henri Matthieu, es lässt mich lange Zeit nicht los. Er hat so toll gespielt und doch verloren. Er wird zwei Jahre brauchen, um wieder einigermaßen Anschluß zu finden und diese bittere Niederlage zu verdauen. Die Russen waren gnadenlos. Kampfstark und nervenstark. Brutal effizient. Und dennoch elegant dabei. Jushni verkörpert stilistisch die perfekte Mischung aus Power und feiner Technik.
Seltsamerweise musste ich beim Konzert von Motorama in Paris an genau dieses Tennismatch denken. Sicherlich lag es auch daran, daß mich Sänger Vladislav Parshin optisch stark an Mikhail Youzhny erinnerte. Gleiche Stoppelfrisur, gleicher runder Kopf, ebenfalls groß und schlank, und dennoch ein wenig tapsig wirkend. Amüsanterwiese hatte er zudem weiße Tennisschuhe von Reebok an. Seine Stimme (das Äquivalent zu den Schlägen Jushnis) ist ebenfalls eine Mischung aus Sensibilität, Feinheit und ungemeiner Power. Wenn er ruhig und gesetzt intonierte, klang er wie Stuart Staples, wenn er schrie, hatte man das Gefühl, den leibhaften Geist von Ian Curtis zu vernehmen. Das war Gänsehautfeeling pur und erinnerte mich an die alten Liveaufnahmen von Joy Divsion, bei denen Ian Curtis immer total ausgerastet ist. Irre!
Allerdings startete Parshin stimmlich zunächst ziemlich verhalten und bewegte sich auch nicht sonderlich viel. Die meiste Zeit klebte sein Mund nahe am Mikro und er sang mit geschlossenen Augen. Dann aber, es war gut eine halbe Stunde gespielt, schrie er urplötzlich ein paar Songzeilen aus voller Kehle. Er bekam einen wahren Tobsuchtsanfall, lief wie in Extase nach hinten und tickte völlig aus. In den letzten zwanzig Minuten des Konzertes hatte er sämtliche Blockaden gelöst, war aufgestachelt wie ein russischer Tanzbär.
Dem Publikum blieb der Atem stocken, als er sich auf spektakuläre Weise wie tot auf den Boden fallen ließ und mit dem Kopf nach unten weitersang. Das kam so überraschend, daß der Effekt bei mir immens war. Ich war total elektrisiert, es war wie in einem Thriller. Mein Herz schlug wie verrückt und auch die Musik zu den Bildern war beeindruckend. Motorama spielten mit 300 Stundenkilometern, ballerten jetzt ihre besten Songs raus und brachten die Zuschauer zum Johlen.
Dem Publikum blieb der Atem stocken, als er sich auf spektakuläre Weise wie tot auf den Boden fallen ließ und mit dem Kopf nach unten weitersang. Das kam so überraschend, daß der Effekt bei mir immens war. Ich war total elektrisiert, es war wie in einem Thriller. Mein Herz schlug wie verrückt und auch die Musik zu den Bildern war beeindruckend. Motorama spielten mit 300 Stundenkilometern, ballerten jetzt ihre besten Songs raus und brachten die Zuschauer zum Johlen.
Das Konzert brillierte aber nicht nur durch sein wildes Ende, sondern wusste durchgängig zu überzeugen. Da gab es so viele kleine Details, die zum Gelingen beitrugen. Die ungeheuer frischen Twee Pop Gitarren, das wild nach vorne galoppierende Schlagzeug, der knarzige Bass, die unverschämt eingängigen Melodien, all dies machte zusammen mit der Grabesstimme von Parshin den Charme des Ganzen aus.
Für die gute Optik sorgte die einzige Frau in der Band. Irene Parshina, höchstwahrscheinlich die Schwester des Sängers. Ein zierliches Persönchen mit einem sexy Bleisitftrock und kessen Dum Dum Girls Strumpfhosen, zu denen sie hochglänzende schwarze Stiefeletten trug. Eine Augenweide, die aber auch ihren musikalischen Part gut spielte. Cool wie eine Hundeschnauze ließ sie ihr Instrument düster durch die Lieder brummeln und schuf so einen schönen Kontrast zu den fröhlichen Gitarren. Sie verzog das ganze Konzert über keine Miene, wirbelte aber gegen Ende ihr blondes Haar ein wenig durch die Luft.
Hinsichtlich des Songmaterials gab es logischerweise wenige Überraschungen. Das aktuelle zweite Album Calendar wurde fast komplett gespielt, zusätzlich gab es noch den ein oder anderen Song, der entweder vom ersten Werk Alps gestammt haben dürfte , ober aber ganz neu und unveröffentlicht war (One Moment wurde auf jeden Fall gebracht).
Highlights für mich Young River ("No one knows this place), To The South, Rose In The Vase (" I spend my days sitting in front of the fireplace, you spend your days dying like a rose in the vase) und Sometimes, bei dem es wie beim Tennis Tränen gab: "sometimes I want to count your tears". Ich muss zugeben, daß auch bei mir ein wenig salzige Flüssigkeit aus den Augen floss, denn obwohl ich zu den flotten Rhythmen und den überschwenglichen Gitarren durchgängig tanzte, war die Musik doch immer auch von einer intensiven Melancholie durchzogen.
Mir kam ein Gedanke, der mir ziemlich gut gefiel: Motorama klingen, als wäre ein wenig Sonnenlicht in die dunkle Wohnung von Ian Curtis in Macclesfield eingefallen. So als würde es diesem schwer depressiven Menschen wieder etwas besser gehen, als könne er plötzlich wieder Farben sehen. Passend dazu das Cover zum Album, wo man einen friedlichen Bergsee erkennt, auf dem Ruderer ihre Kreise ziehen. Der Himmel ist blassblau, die Atmossphäre entspannt und idyllisch. Ian Curtis lebt in Motorama weiter, er ist neugeboren und wohnt nun in Rostov-on-Don am Kaukasus.
Und Frankreich und Russland haben sich wieder versöhnt. Diesmal spielt nicht Russland gegen, sondern für Frankreich. Talitres aus Bordeaux hat nämlich die Russen gesignt und wird mit ihnen noch glorreiche Tage erleben. Spätestens 2013 werden Motorma in der ganzen Welt explodieren und dann werden sich diejenigen glücklich schätzen, die an jenem 27. November 2012 im Point Ephémére waren.
Ein Wahnsinnskonzert! Mit Sicherheit mindestens genauso denkwürdig wie das Daviscupfinale 2002!
P.S: Ebenfalls spielten die Franzosen AV und die Schwedin El Perro del Mar. AV boten französischen Neo New Wave, der ok war, El Perro Del Mar unsäglich schlechten Elektro Pop. Dabei mochte ich ihr erstes Album sehr. Die Künstlerin hat sich definitiv in die falsche Richtung entwickelt, langweilte mich mit ihrem Lounge Dub zu Tode.
* Wikpedia sagt: "Youzhny has a unique backhand. Many consider his backhand to his best shot"
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