Konzert: The Indelicates
Ort: Ursulas und Dirks Wohnzimmer
Datum: 12.07.2014
Dauer: knapp 40 und 60 min
Zuschauer: 22
Um nichts in der Welt wollte ich auf den zweiten Tag des wundervollen Phono Pop in Rüsselsheim verzichten, zu sehr ist mir das Festivals im alten Opel-Werk ins Herz gewachsen. Der Freitag gab mir (mir gegenüber) wieder recht: man kommt durchs Werkstor und fühlt sich gleich willkommen und vollkommen richtig. Ein Festival für Menschen, die Festivals nicht mögen, herrlich! Beim Phono Pop ist nichts anstrengend, nichts lästig. Auf diese zwei Tage Musik will ich nicht verzichten, komme, was wolle!
Es kam aber dummerweis diesmal etwas, das genauso wundervoll, aber viel seltener ist - ein Konzert einer Lieblingsband im Wohnzimmer von Freunden. Die Indelicates aus England sind schon ewig eine meiner liebsten Gruppen. Zum ersten Mal hatte ich Julia und Simon (mit Band) als Support von Art Brut 2007 in Frankfurt und Köln gesehen. Die wundervollen Songs mit den teilweise urkomischen, teilweise sehr bittersüßen Texten und vor allem die grandiose Art, wie die beiden sie live darbieten, hatten mich sofort! Es folgten eine ganze Menge Konzerte, die immer wieder anders waren, in anderer Besetzung, mit anderen Platten, die aber gemeinsam hatten, daß sie höchstcharmant und herrlich unterhaltsam waren.
Mein letztes Konzert der Indelicates liegt schon drei Jahre zurück. Umso verlockender war die Idee eines Wohnzimmerkonzerts. Julia und Simon waren auf Urlaubsreise durch Frankreich, Bayern und Italien und suchten unterwegs Auftrittsmöglichkeiten. Montabaur liegt zentral, es bot sich also als Auftrittsort an. Mit den beiden Konzerten von Pelle Carlberg und Jonah Matranga haben Ursula und Dirk aus dem Nichts so etwas wie eine Indieszene in der Kreisstadt des Westerwaldkreises geschaffen, in der alternative Kultur ansonsten arg anders aussieht. Wenn Gastgeber schon zwei tolle* Konzerte veranstaltet haben, vertraut man ihnen offenbar langsam blind, auch zu den Indelicates kamen wieder mehr als 20 Zuschauer.
Julia und Simon waren schon im Vorfeld herrlich unkompliziert. "Mikros brauchen wir nicht!" Also begannen die beiden um kurz nach acht mit akustischer Gitarre (Simon) und Keyboard (Julia) und dem abwechselnden Gesang, der typisch für ihre Musik ist. Im Vorfeld hatten die beiden nach Wunschliedern gefragt. Ich hatte das bewußt nicht beantwortet, weil ich überrascht werden wollte und weil ich nicht mit den gleichen Wünschen nerven wollte, mit denen ich sie schon einmal zum Augenverdrehen gebracht habe (auf ihrer Raritätensammlung oder den B-Seiten der frühen Singles sind einige Knüller wie Vladimir, Fun is for the feeble minded, Unity Mitford** oder The sequel to Peter Pan and Wendy, die ich liebe!). Daher war nicht nur die Mischung für mich neu, es gab auch viele Stücke, die ich noch nie live und andere, die ich überhaupt noch nicht gehört hatte.
Die beiden hatten vorgeschlagen, das Konzert in zwei Teile aufzuteilen (und meinen Wunsch, im ersten Teil nur B-Seiten und im zweiten Songs, die mit S beginnen, zu spielen, ignoriert). Der erste Teil bestand aus Stücken der letzten Platten, Europe und Flesh von Songs for swinging lovers, dem Konzept-Album David Koresh Superstar über die Belagerung dessen Davidianer-Sektenzentrale in Waco und der letzten Platte Diseases of England, die in drei Teilen veröffentlicht worden war. Ganz neu war für mich Lake of fire von einem neuen Projekt, einem Konzeptalbum Paradise rock, angelehnt an John Miltons Paradise lost, mit den kleinen Variationen, daß statt des Teufels Elvis auftritt und die Handlung nicht im Garten Eden sondern auf Hawaii spielt. Ich hatte ja erwähnt, daß die Indelicates enorm hohen Unterhaltungswert haben! Im zweiten Teil spielten sie ein weiteres Stück dieses kommenden Werks.
Einer der besonderen Knüller des ersten Teils war Something goin' down in Waco, das im Original von zig Sängerinnen und Sängern gesungen wird. Um das gut hinzubekommen, mussten Julia und Simon häufig ihre Stimmen verstellen - herrlich! Dovakiin stellte Simon als "ein bißchen traurig" vor. Das Lied der letzten Platte sei für Männer in Schottland, die Skyrim spielen.
Nach der Pause kamen zwei der Lieder, die ich gewünscht hätte, hätte ich Wünsche abgegeben. Erst das unglaublich schöne We love you, Tania, das von Patty Hearst, der Erbin einer amerikanischen Zeitungsdynastie handelt, die von einer marxistisch-revolutionären Guerilla entführt wurde und sich der später unter dem Tarnnamen Tania anschloß und sich an Überfällen beteiligte - und im Anschluß das kaum weniger schöne Savages.
Nach Dirty Diana und Not alone (wundervolles Duett!) von Diseases of England wurde es punkig. Our daughters will never be free vom ersten Album American demo war das erste der ganz alten Stücke und wie üblich großartig!
Das Lied danach habe er vor zehn Jahren geschreiben und niemals damit gerechnet, daß er es noch heute singen würde. Durch die Reunion der Libertines hat Wating for Pete Doherty to die wieder irgendwie an Aktualität gewonnen. So oder so ist es ein Klassiker und amüsierte das Montabäurer Publikum! Mir gefiel dabei besonders, daß Julia die Klavier-Zwischenteile immer beschleunigen wollte und Simon sie bremsen musste, nicht anzukürzen, als brauche er die Pause, um den Text wieder herzukramen.
Be afraid of your parents beendere das Konzert vor den vollkommen überraschenden Zugaben, die Simon bereits angekündigt hatte.
Diese begannen mit Everything is just disgusting, das so traurig sei, daß Simon es nicht selbst singen wolle. Also übernahm eine Simon-Handpuppe diesen Part! Ich wette, das hattet ihr noch nicht in eurem Wohnzimmer! Anschließend baten die beiden (Julia und Simon, nicht die Handpuppe) um Wünsche. "The last significant statement to be made in Rock 'n' roll? Nein, das haben wir neulich schon erfolglos versucht. Beim nächsten Mal!" - New art for the people, America und We hate the kids waren leichter umzusetzen. Wobei das für das letzte Stück nur zum Teil gilt. Simon hatte bei We hate the kids ein paar Texthänger. Wie praktisch, daß es im hauseigenen Label auch Textbücher gibt, ein paar Blicke und es konnte weitergehen. Die letzten beiden Strophen wollte Simon aber in anderen Stilen spielen. Ich glaube, "Marsch" überraschte ihn. Die beiden lösten das aber souverän ("so march, march, march to the music tonight"). Irish folk klang ebenso überzeugend, nur Speed metal mußte unter Rücksicht auf das Konzert am nächsten Tag auf ein paar Takte beschränkt bleiben.
Oh, das Wohnzimmerkonzert mit den Indelicates war das erhoffte große Highlight. Ich wusste zwar, was mich erwartet, wie viel schöner Konzerte aber in solch angenehmer und intimer Umgebung sind als in stinkigen Eckkneipen, ist immer wieder phänomenal!
Und so hatten wir einen viel schöneren Abend als die brasilianischen Fußballfans (und auch als die niederländischen), deren Spiel um Platz irgendwas wir hinterher noch guckten.
Vielen Dank an die wundervolle Band und die perfekten Gastgeber und Wohnzimmereigentümer! Something's goin' on in Montabaur.
Setlist The Indelicates, Wohnzimmerkonzert, Montabaur:
01: Europe
02: I am Koresh
03: Flesh
04: Le godemiché royal
05: Lake of fire (neu)
06: All you need is love
07: Dovakiin
08: Something goin' down in Waco
09: We love you, Tania
10: Savages
11: Dirty Diana
12: Not alone
13: Our daughters will never be free
14: Waiting for Pete Doherty to die
15: Be afraid of your parents
16: Everything is just disgusting (Z)
17: New art for the people (Z)
18: America (Z)
19: Palekaiko Luau (neu) (Z)
20: We hate the kids (Z)
Links:
- aus unserem Archiv:
- The Indelicates, Mainz, 20.07.11
- The Indelicates, Wiesbaden, 15.12.10
- The Indelicates, Köln, 02.12.10
- The Indelicates, Frankfurt, 05.08.10
- The Indelicates, Köln, 09.06.10
- The Indelicates, Heidelberg, 14.08.08
- The Indelicates, Frankfurt, 12.08.08
- The Indelicates, Münster, 30.04.08
- The Indelicates, Köln, 24.04.08
- The Indelicates, Köln, 04.10.07
- The Indelicates, Frankfurt, 30.09.07
- Interview mit den Indelicates
* ich habe leider nur das eine gesehen
** ist auf der ersten Platte
**** weil's so schön ist
1 Kommentare :
Sehr schön wars in der Tat. Danke! :-)
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