Konzert: Soda Fountain Rag Ort: Midlands Railway Centre, Ripley (Indietracks) Datum: 30.07.2016 Dauer: knapp 35 min Zuschauer: 400 vielleicht
"Wird trotzdem gut" war die einhellige Meinung am Samstagmorgen, als wir über das Lineup der beiden Haupttage des Indietracks Festivals sprachen. Der Indietracks Geburtstags-Ausgabe fehlen die großen Namen neben Saint Etienne. In den letzten Jahren spielten eine ganze Menge bekanntere Bands in Ripley, gerade am zehnten Geburtstag fehlten all die, die unsere Fantasien so hervorgezaubert hatten. Wird trotzdem gut.
Zwanzig Stunden später kann ich mich nicht entscheiden, mit welchen Berichten ich anfangen soll (naja, habe ich ja schon). Zu viele irre tolle Konzerte. Wie machen die das bloß immer wieder? Secret Shine, die ich eigentlich nicht gucken wollte, weil ich sicher war, daß ich eh nicht in die kleine Kirche reinkäme, denn vermutlich würde jeder die Sarah-Records-Band sehen wollen. Wahnsinn! Expert Alterations, die ich wegen Bearsuit (parallel) nicht sehen wollte. Perfekt! Emma Pollock, in deren Ansagen ich mich unsterblich verliebt habe! Dirty Girl als erste Band auf der Hauptbühne - sehr nervös aber auch sehr gut. Die wundervollen Jessica and the Fletchers und Honey Joy, die beide unter dem miesen Sound der Innenbühne litten, davon abgesehen aber toll waren. Die große Geburtstagsparty mit Saint Etienne! Und Flowers! Live spielen Flowers jeden in Grund und Boden! Sängerin Rachel könnte wohl auch Kleinanzeigen vorlesen und würde damit beeindrucken!
Soda Fountain Rag hatte ich auch nicht eingeplant. Ich wollte lieber draußen Vacaciones aus Murcia angucken, entschied mich aber um und wurde dafür belohnt. Soda Fountain Rag ist die Band der Norwegerin Ragnhild Iveranna Hogstad Jordahl, die seit 2010 keine Musik mehr veröffentlicht und vor fünf Jahren zuletzt Konzerte gespielt hat. Für mich war das nicht entscheidend, ich kannte sie auch vorher nicht, habe aber eine Menge verpasst.
Ragnhild wurde live von einem Gitarristen, einem Bassisten (Alessandro Paderno und Fabio Benni - oder umgekehrt) und einer Keyboarderin (Moa Paulin Hanson) begleitet. Die Sängerin selbst stand vor einem Mini-Schlagzeug, bediente beim Singen die Bassdrum und schlug meist einhändig auf Trommel oder Becken ein.
Soda Fountain Rags Lieder sind perfekte Popsongs mit oft sehr bitteren (und langen) Texten. Ragnhilds Stimme hat etwas Strahlendes, klingt begeistert, das ist eine Quatsch-Beschreibung, ich weiß, leider kann ich es nicht anders ausdrücken. Die Sängerin erzählt Geschichten, die Melodien passen sich denen an, haben immer wieder Brüche, sind aber trotzdem im besten Sinne eingängig. Und als wäre das alles nicht genug, hat Ragnhild Liedtitel wie Pretty girls make mojitos, You are not invited to my wedding, Are philosophers lonely? oder Pirate love mit dem Hinweis, das Wort "pirate" mit jedem passenden Wort zu ersetzen. Eine ihrer Platten heißt Reel around me. Bester Albumtitel ever.
Soda Fountain Rag spielten vor allem Lieder vom neuen Album Extra life, die alle toll waren. Dazu kamen ein paar ältere Sachen, u.a. zum Schluß. "It's the last song. And it's the same song as always because I haven't written a better song, yet." Es war Don't kill the clowns, und auch wenn ich dieser Aussage nicht unbedingt zustimme, war das wirklich der beste von vielen großartigen Titeln.
Und natürlich wussten es die Indietracks-Booker besser. Das war kein "wird trotzdem gut" Konzert, das war ein Knüller!
Setlist Soda Fountain Rag, Indietracks, Ripley:
01: Extra life 02: Love song for the geek 03: I sit and wait for what? 04: Go! 05: You can't stop me 06: Whisper me away 07: Angry girl 08: I go too far 09: It fell apart 10: Oh-oh! 11: Pretty girls make mojitos 12: Don't kill the clowns
Konzert: Simon Love and the Old Romantics Ort: Swanwick Station, Ripley (Indietracks Festival) Datum: 29.07.2016 Dauer: knapp 40 min Zuschauer: einige hundert
It seemed like a good idea at the time ist das Soloalbum von Simon Love, der vorher mit The Loves aktiv war. Viel Liebe. Die 2015 bei Fortuna Pop erschiene Platte fängt mit **** (Is a dirty word an). "****" steht natürlich für - "love".
Die Lieder des in London lebenden Musikers klingen auf den ersten Blick (jaja) nach herrlichem Sechziger-Jahre-Pop. Die Songs damals hießen aber nicht Motherfuckers und fingen auch nicht mit "I'm gonna kill someone tonight" an. Die Kombination aus schönen, fluffigen Melodien und bitterbösen Texten hat eine ganze Menge Charme. Ich hatte Simon Love and the Old Romantics im April schon einmal bei einem Wohnzimmer-Konzert in Stuttgart gesehen. Da fehlten zwei der Begleitmusiker. Ihren Job übernahm Liz Hunt, Sängerin der walisischen Band The School. Diesmal standen vier Old Romantics an Simons Seite, trotzdem bekam Liz einen kurzen Auftritt - versteckt hinter einer Jools-Holland-Maske spielte und sang sie bei Xs and Os, einen Song der Loves mit. Zum neuen Stück Tennis fan kam ein Tennisspieler auf die Bühne und schoß Tennisbälle ins Publikum. Die Bälle entpuppten sich als EP, auf den Nähten steht ein Bandcamp-Code. Nachdem der ganz in Weiß gekleidete Simon u.a. Lieder über Elton John ("a country rock song") und Joey Ramone und ein neues Stück (Not if I see you first) gesungen hatte, kündigte er an, als Zugabe 90 min lang Oasis Songs zu covern (alle!), um sich stattdessen aber für unsere Geduld mit ihm zu bedanken. Setlist Simon Love and the Old Romantics
01: **** (Is a dirty word) 02: Wowie Zowie 03: Kiss your mum? 04: The new Adam and Eve 05: Joey Ramone 06: Dear boy 07: Golden boy 08: Xs and Os (The Loves) 09: Elton John 10: Tennis fan 11: Not if I see you first (neu) 12: Motherfuckers
Konzert: Nervous Twitch Ort: Swanwick Station, Ripley (Indietracks) Datum: 29.07.2016 Dauer: gut 30 min Zuschauer: einige hundert
Als ich 2013 zum ersten Mal bei Indietracks Festival auf dem Gelände des Midland Railway Centre in Derbyshire stand und am ersten Abend Big Wave, The Tuts und bis sah, war mit klar, daß ich da jetzt jeden Sommer hinfahren würde. Und daß ich ein riesiger Idiot war, die ersten Ausgaben des Indietracks verpasst zu haben. 2013 wird das Indietracks zehn und zumindest verglichen mit meinen drei bisherigen Ausgaben hat sich nichts verändert. Freitags spielen drei Bands, Samstags und Sonntags jeweils gut 20, kaum eine von denen kenne ich vorher, es gibt Workshops ("The Bumper Fun Book Of Indietracks" oder "Printmaking Workshop - Tote Bags!"), Eulen, Cider mit Toffee-Geschmack und ein Merch-Zelt, in dem die Szene-Majors wie Slumberland oder Elefant Records so etwas wie einen Süßigkeiten-Laden für Erwachsene aufbauen.
Am ersten Tag des Jubiläums spielten Simon Love & The Old Romantics, und The Spook School als Headliner. Eröffnet wurde der Abend von Nervous Twitch aus Leeds.
Nervous Twitch bezeichnen sich als Pop-Garage-Punk-Band und das trifft es gut. Die Stücke der Gruppe sind zwei, zweieinhalb Minuten lang, melodiös, oft wild, bei den schnelleren Liedern ist Sängerin Erins Stimme herrlich punkig. Natürlich erinnert die Musik von Bands dieser Art immer an die Ramones, für mich klangen Nervous Twitch aber oft auch wie die Dum Dum Girls in richtig flott. Ich mochte das sehr.
Die aktuelle (zweite Platte) konnte man im Merchzelt auf Kassette oder Vinyl ohne Cover (das wird gerade nachgedruckt und wird dann per Post verschickt) kaufen. Ich kannte vorher nichts von Nervous Twitch. Das Indietracks veröffentlicht zwar jedes Jahr einen Sampler mit je einem Lied (fast) aller Bands, das Stück von dem Quartett aus Leeds spielte das aber nicht live.
Nachdem sie die ersten acht Lieder mit Schlagzeug, zwei Gitarren und Bass bestritten hatten, spielte Erin (Bass) dann drei Stücke am Keyboard, was eine Menge ausmachte - die Songs waren popiger. Sehr toll war zum Beispiel A little self discipline, das mich an die B-52's erinnerte. Und nicht nur, weil Erins taubenblaue Haare perfekt zu denen (so wie zum Kleid) gepasst hätten. Nervous Twitch coverten dann noch Head on von The Jesus and Mary Chain und - als es eigentlich schon vorbei war - noch Wild man. Daß zwischen all den wundervollen Indiepop-Perlen immer wieder solche krachigeren Bands im Lineup vertreten sind, ist auch einer der vielen Gründe, warum ich so gerne meine letzten Juli-Wochenende in Ripley verbringe. Von den anderen berichte ich später. Setlist Nervous Twitch, Indietracks, Ripley: 01: Baby, I'm bored 02: So rock 'n' roll 03: Johnny's got a gun 04: Somebody else 05: I'm an idiot, babe 06: John Power 07: Tarrantino hangover (instr.) 08: Get back in line 09: Head on (The Jesus and Mary Chain Cover) 10: A little self discipline 11: This modern world 12: Wild man (The Tamrons Cover)
Wohnzimmerkonzert mit Kleingartenanlage Datum: 17. Juli 2016 Dauer: 80 min Zuschauer: 3
Als Mathematikerin weiß ich ja, dass jede Möglichkeit auch eintreffen kann, auch wenn ihre Wahrscheinlichkeit sehr gering ist. Trotzdem glaubt man es erst, wenn es passiert. Dass von allen für einen strahlenden Sonntag Abend eingeladen Leuten nur einer kommt. Wenn zwei schon da sind, macht das drei Zuhörer und die bange Frage steht im Raum - soll nun wirklich musiziert werden?
Und das an einem Sommertag wie gemacht für die Musik von Kleingartenanlage aka Julia Oschewsky und Marc Kluschat. Ihre Musik so passend heiter und mit warmer Stimme vorgetragen. Auch an Gitarren und kunstvollem Spiel darauf wurde nicht gespart. Und ich musste dann trotz schwerem Herzen doch sehr schmunzeln über ein Wir sind Helden cover zu Beginn des Sets (nämlich Müde) - wo wir doch gerade vor dem letzten Konzert in der Waldstadt noch aus voller Lunge Rüssel an Schwanz und Die Zeit heilt aller Wunder gegrölt hatten...
Bei allen kommenden Fahrten den Rhein entlang nach Bonn (oder wie morgen nach Koblenz) wird mir wohl die Melodie von Einfach dain den Sinn kommen.
Hoffentlich wird der Rhein mit der Zeit die damit verbundene traurige Erinnerung wegtragen.
Konzert: Morgan Finlay Ort: Wohnzimmer in Hohenwettersbach Datum: 19. Juli 2016 Dauer: 125 min Zuschauer: 25
Es ist immer wieder faszinierend zu sehen, wie Morgan Finlay einen Raum von Novizen für sich begeistern kann, zumal diesmal einige Randbedingungen anders waren als für ihn gewohnt. Wobei, zwei Konstanten gab es immerhin: Alle Konzerte in Karlsruhe waren je erste Wohnzimmerkonzerte und hatten eine Gastgeberin namens Gabriele...
Morgan ist unterwegs durch Deutschland auf dem Fahrrad. Wenn alles klappt wie geplant, kommt er am 12. August in Flensburg an und wird sein wunderschönes Diamant-Fahrrad für einen guten Zweck versteigern. Eingestreut hat er sich sieben Konzerte in Wohnzimmern unterwegs. Karlsruhe, so nah an Basel (dem Startpunkt der Radtour), war nun die erste Konzertstation in diesem Rahmen und der bisher höchste Punkt, denn wir haben ihn in Hohenwettersbach empfangen.
Auf dem Fahrrad ist natürlich wenig Platz und so musste er klar kommen ohne seine geliebten Cowboy-Schuhe und ohne Merch und mit geborgter Gitarre. Der Sommer 2016 war in Karlsruhe noch nicht sehr fleißig, aber an diesem Abend beugten wir zusammen ich schwitze, du schwitzt, er schwitzt und wir schwitzen und redeten über die günstigen Preise von Sonnencreme bei dm.
Dazwischen sprach Morgan natürlich auch viel darüber, was die Songs für ihn bedeuten und woher sie kommen - oder wie sie sich in der Zwischenzeit gewandelt haben. Nebenher ging die Sonne glorios unter und färbte den Himmel anschließend noch eine solide halbe Stunde in herrlichsten Orangetönen während auf der anderen Seite derweilen ein irrsinniger Vollmond zu seiner nächtlichen Reise aufbrach.
Während der Pause gab es noch viele weitere Fragen an Morgan und an Gabriele und nur eine sehr resolut betätigte Hotelklingel brachte alle wieder zurück auf den Platz zum lauschen. Ich hatte ja halb und halb damit gerechnet, dass nach 80 km auf dem Rad das Konzert von Morgan etwas kürzer ausfallen könnte. Aber auch diesmal wurden es solide 2 Std und ein bissl mehr Musik und es wurde fast Mitternacht ehe ich wieder zu Hause war, obwohl mich Gabriele vom Berg herunter in die Stadt mit dem Auto mitgenommen hat (vielen Dank!).
Wir beide ganz und gar glücklich über einen wunderbar gelungenen Abend. Setlist: 01 The way it is 02 Merge 03 Quiet harbour 04 Far beyond words 05 So courageous 06 oh the good times 07 Fisherman's son 08 When this long road ends
- Pause -
09 My good and noble friend 10 let me down gently 11 allez allez 12 Pixels 13 Seatle 14 The one that got away 15 Blow by Blow 16 The everything about me
Konzert: Max Jury, Lana del Rey Ort: Auditorium Strawinski, Montreux Datum: 13.07.2016 Dauer: 45 und 100 min Zuschauer: 4000 (ausverkauft)
Der Junge von nebenan
Vorab: der zweite Abend in Montreux steht im Zeichen von Lana del Rey. Als Vorprogramm ist Max Jury angekündigt. Der 21-jährige aus Des Moines, Iowa betritt mit seiner Band die Bühne und wird herzlich begrüßt, offenbar ist er doch nicht so unbekannt wie ich dachte. Er hat vor kurzem sein erstes Album veröffentlicht und präsentiert sich hier mit Rock’n’roll-Band und mit souligen Backgroundsängerinnen.
Max Jury wirkt sympathisch, fröhlich und nett wie der Junge aus der Nachbarschaft. Er singt und spielt ein altes E-Piano oder Gitarre. Dabei wird er unterstützt von 3 Kollegen an Gitarre, Bass und Schlagzeug. Die beiden schwarzen Backgroundsängerinnen, die die Musik dunkel einfärben, sind für einige Titel mit auf der Bühne und werden von Max Jury aufs herzlichste vorgestellt. Sie sängen wesentlich besser als er selbst. Manchmal erinnern Sie mich an Pink Floyds Sängerinnen hinter der Band. Auch der Gitarrist holt ganz vereinzelt ein paar Reminiszenzen an Pink Floyd aus den Saiten. Offenbar ein paar unbewusste Erinnerungen an die musikalische Früherziehung im Hause Jury.
Max Jury aber ist im Rock'n'Roll zu Hause und würzt diesen mit Soul und etwas Melancholie immer dann, wenn er nur sich selbst am Klavier begleitet. Dieser Künstler ist eine echte Entdeckung des Festivals und als Vorband des Abends hat er ein großes Publikum bekommen und für sich eingenommen.
nächstes Konzert in Deutschland 12.08.2016 „A Summer’s Tale Festival“ Luhmühlen
Die Begeisterung kennt keine Grenzen, als Lana del Rey die Bühne betritt. Über allen Köpfen schweben die Handys, die Deckel ihrer Schutzhüllen sind heruntergeklappt – beste Sicht.
Zwei Tänzerinnen, die Lana auch mit Mikro zur Seite gehen, sind ebenso gekleidet wie Lana del Rey: ganz in weiß, kurz und sommerlich. Die Frisuren auf Retro gestylt, begleiten Sie Lana mal singend mal tanzend und immer sehr auf Entschleunigung achtend, die Bewegungen nicht zu schnell. Selbst das Verteilen von Blumen aus dem Hochzeitsstrauß ans Publikum bei „Honeymoon“ geht fast in Zeitlupe. Äußerlich spielt sie die Unschuld vom Lande im weißen Kleid. Die Art und Weise wie sie ihre Lieder präsentiert und sich immer wieder dem Publikum und den ersten Reihen im Besonderen zuwendet, lassen die tiefe Ernsthaftigkeit erahnen, die sie ihren Songs zugrunde legt.
Die Bühne ist gestaltet wie ein Motel aus den 1950er Jahren an einem der endlosen Interstate-Highways. Der Bühnenhintergrund wird dominiert von dem großen, neonfarbenen Schriftzug "del Rey" hoch über den Künstlern. Unter ihm laufen zur Untermalung der Songs Filme im Stile der Cinecitta zu Zeiten von Vittorio de Sica und Luchino Visconti. Großartig wir zum Beispiel "Born to die" mit Zitaten von Quentin Tarantino untermalt und endet in einem blutigen Finale.
Das Publikum geht gleich auf Tuchfühlung, vielerlei Liebesbezeugungen sind ebenso zu hören wie Songwünsche. Recht bald wird auch nach "Salvatore" gerufen und da Lana den Titel nicht im Repertoire hat, wie sie bemerkt, singt sie den Refrain spontan einfach solo und sorgt für allgemeine Verzückung.
Wie sich im Laufe des Konzertes herausstellt, hat Lana del Rey eine fantastische Live-Band zur Seite stehen. Der Mix der Titel aus allen 4 Alben gibt einen großartigen Überblick über ihr bisheriges Schaffen, musikalisch läuft der Abend etwa auf dem Niveau des Albums "Born to die", wodurch die Qualitäten der Band so richtig zum Tragen kommen, die Gitarre darf kreischen, der Schlagzeuger darf sich neben den elektronischen Pads auch an den lauten Toms und Becken austoben. Das Konzert ist ein exzellentes Beispiel für eine kritische Auseinandersetzung von Künstlern mit dem eigenen Katalog. Der Saal dankt es mit anhaltender Begeisterung.
Während des letzten Titels steigt Lana zu ihren Verehrern für die offenbar obligatorischen Selfies hinab in die ersten Reihen und signiert Tickets, Karten, Fotos oder was auch immer parat ist. Sie nimmt sich ausdauernd viel Zeit und gibt der Band ein paar extra Minuten, bevor sie sich ohne Zugabe verabschiedet. Das Licht geht an, die Show ist vorbei und irgendwie mag ich es noch gar nicht fassen, was ich da eben erlebt habe.
Konzert: Hælos, Daughter Ort: Jazz Lab, Montreux Datum: 12.07.2016 Dauer: 45 und 60 min Zuschauer: ca. 1500
Frischer Wind aus London - Hælos
Unser erster Abend beim 50. Montreux Jazz Festival war gleich einer der Höhepunkte. Auf dem Programm standen als Eröffnung Hælos aus London. In den letzten Tagen und auf der Anreise hatte ich mich nochmals durch die Werke der teilnehmenden Bands und Künstler gehört. Nun war ich gespannt auf die Bühnenumsetzung.
Hælos spielten ein Dreiviertelstundenset mit unglaublicher Energie. Gleich zu Beginn wurde mit massivem Bässen Druck auf die Brustkörbe gemacht und gezeigt, dass die Band hier in die Vollen gehen wollte. Elektrisierend und treibend drückten die Songs nach vorn, dominiert von der männlichen Rhythmussektion. Diese spielte die Songs live und mit kompletter Band, es war als würden sie The XX auf 45 Umdrehungen bringen und durch ein fettes Schlagzeug erden.
Das für mich Spannende an dieser Band ist der Gesang und die Stimme von Lotti Bernadout. Und dann stand da noch Arthur Delaney neben ihr am Mikrofon, der aber an dem Abend nicht so recht zu Geltung kam. Lotti Bernadout hatte die stimmliche Bühnenpräsenz fast für sich. Hælos haben im März dieses Jahres ihr Debütalbum „Full Circle“ veröffentlicht und präsentierten Songs daraus an diesem Abend.
Nach 45 kurzen Minuten war der stimmungsvolle Einstieg in den Abend auch schon wieder vorbei.
Nach 30 Minuten Umbaupause geht es pünktlich weiter. Das übrigens ist ein Markenzeichen des Montreux Jazz Festival, dass die Konzerte fast ausnahmslos pünktlich beginnen. Die jahrelangen Erfahrung der Crews sind unschätzbar für die Organisation eines solch großen Events.
Meine große Vorfreude auf Daughter und auf das Konzerterlebnis schlägt in Begeisterung um, als die ersten Töne erklingen. Sie bauen einen wohltuenden Kontrast und eine fast intime Konzertatmosphäre auf, Daughter spielen in ihren Songs die lauten wie die leisen Töne konsequent aus. Teilweise werden die Titel mit ihren bewegenden Texten von Elena Tonra a capella beendet und – wie wunderbar – das Publikum ist still bis zum letzten Ton und selbst die Handys bleiben zumeist in den Taschen.
Für Daughter ist dieses Konzert fast ein Heimspiel: neben Elena Tonra und Remi Aguilella ist es Igor Haefeli an den Tasten und Gitarre, der als geborener Schweizer den Kontakt zum Publikum auf Französisch herstellt.
Mit diesem Set sind Daughter in ihrer Dynamik und Variabilität der musikalischen Ausdrucksmittel ein schöner Kontrast zu Hælos. Besonders auch dann, wenn Elena Tonra allein spielt und singt. Insgesamt beherrscht eine melancholische Stimmung den Saal, die Songs der Alben werden etwas rauher umgesetzt und ziehen das Publikum in ihren Bann.
Nach 60 Minuten und ohne Zugabe bin ich begeistert und sicher, eines der berührendsten Konzerte des Jahres erlebt zu haben.
Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass als Headliner des Abends Grimes alias Claire Boucher aus Kanada angekündigt ist. Nach drei Songs habe ich aber den Saal verlassen. Immerhin verdient Claire Boucher Respekt für den Versuch, etwas Eigenes zu kreieren. Eine hyperaktive Tanzcrew, Musik aus dem Computer und eine piepsige Stimme sind leider nicht mein Geschmack.
Konzert: Pixies (& Lush) Ort: Zitadelle Spandau, Berlin Datum: 18.07.2016 Dauer: Pixies gut 90 min, Lush 45 min Zuschauer: knapp 4.000 (nicht ausverkauft)
Einer der beiden Security-Männer am Eingang des Fotograbens schüttelte bei jedem Pixies-Song den Kopf und lachte immer wieder, er fand die Lieder der amerikanischen Band grausam und machte Witze über die euphorischen Reaktionen des Publikums. Daß gerade, als er seinem Kollegen breit grinsend irgendetwas sagte, La la love you mit den Pfeif-Soli startete, machte es den Pixies nicht einfacher, bei ihm zu punkten. Ein paar Sekunden lang versuchte ich, objektiv zu sein und fragte mich, ob er nicht vielleicht recht hatte und wir hier Quatsch feierten.
Bei 50% der Stücke brüllt Frank Black, viele fangen mit "This is a song about..." an. Und dann Indie Cindy! Warum mag ich die Pixies eigentlich so? Sie waren Ende der 80er Jahre wichtiger, manchmal wichtigster Teil meiner musikalischen Sozialisation. Aber deshalb muß ich sie ja heute nicht mehr hören und mögen. "La la love you?" Bitte!
Nach anderthalb Stunden Pixies wusste ich wieder, warum ich die Band aus Boston so liebe. Naja, zumindest, daß ich sie liebe. Unverändert.
Wegen der Pixies wäre ich allerdings nicht nach Berlin gefahren. Das Ticket war schrecklich teuer - und die Band ist immer mal wieder irgendwo zu sehen, auch wenn sie einen großen Bogen um deutsche Konzertsäle macht. Meine Reiseentscheidung fiel erst, als Lush als Support angekündigt wurden. Meine ersten vier Konzerte meiner liebsten Lieblingsband waren brillant und ich hatte bei weitem noch nicht genug. Als wir eine gute halbe Stunde vor Lush im Innenhof der Zitadelle in Spandau ankamen, war peinlich wenig los. Open Air im Sommer bedeutet leider auch, daß die Band noch sieht, wie wenig los ist. Gottseidank füllte es sich noch etwas, sodaß der Innenhof der Befestigungsanlage nicht zu peinlich aussah.
Lush hatten zuletzt 1990 in Berlin gespielt, sagte Miki am Anfang der "4AD reunion." Ich kannte eine Menge Leute, die wegen der britischen Band nach Berlin gereist waren. Es war also für einen guten Teil des Publikums nicht bloß eine lästige Vorgruppe sondern der Hauptgrund, den Abend in Spandau zu verbringen. Seit April habe ich Lush schon viermal gesehen - Nachholbedarf... Jedes der Konzerte war hervorragend. Ich hatte irre hohe Erwartungen an die Band, auf die ich live mehr als zwei Jahrzehnte gewartet hatte. Und die Konzerte liefen nicht bloß glimpflich ab, sie übererfüllten meine Wünsche. Vor der Show in Berlin war ich ein wenig ängstlich, ob die gleiche Setlist auch ein fünftes Mal funktionieren würde. Aber es war wie immer (daß ich das mal bei Lush sagen kann!), ein paar Takte De-luxe und alles war prima!
In dem verkürzten Set gab es keine Überraschungen, also keine neuen Songs, außerdem fehlten ein paar Live-Lieblinge wie Thoughtforms, Etheriel oder Desire lines. Der Rest war neu durchgemischt, klang brillant und funktionierte bei mir auch beim fünften Mal genauso wie seit Jahren auf Platte!
Vor vier Wochen beim Primavera Festival hatte ich Gitarristin Emma und Bassist Phil interviewt und nach ihrer Lush-Planung gefragt. Eine Platte ist das Ziel, aber sie lebten zur Zeit sehr augenblickbezogen. Alle vier - die drei Mitglieder von damals, Emma Anderson, Miki Berenyi und Phil King und der neue Drummer Justin Welch (Ex-Elastica und der beste Freund des Lush-Schlagzeugers Chris Acland) - haben Jobs und Familien. Der wundervolle Spuk kann also schnell wieder vorbei sein.
Auch das Konzert war (Übergang deluxe) viel zu schnell vorbei. Aber ganz ehrlich... das war jede Anreise wert! Kiss chase, Sweetness and light, Light from a dead star, Hypocrite, For love... was für Kunstwerke! Glücklicherweise habe ich noch Lush-Tickets für den Herbst. Die Band wird nämlich immer besser. Besonders fasziniert mich Justin. Der Schlagzeuger mußte nicht nur das ganze Repertoire seiner neuen Band sondern auch den Stil seines verstorbenen Freunds Chris lernen. Ich beachte Schlagzeuger immer viel zu wenig, das ist ihr Schicksal, weil sie hinten sitzen. Justin Welch zuzusehen, war ein riesiges Vergnügen! Ach hätten doch Nirvana nicht den Shoegaze auf dem Gewissen, hätten Lush sicher den Stellenwert, den sie verdienen! Setlist Lush, Zitadelle Spandau, Berlin:
01: De-luxe 02: Breeze 03: Hypocrite 04: Kiss chase 05: Light from a dead star 06: Scarlet 07: Lit up 08: Out of control 09: For love 10: Ladykillers 11: Downer 12: Sweetness and light
Auch die ganz große Karriere der Pixies haben vermutlich Nirvana auf dem Gewissen. Obwohl die beiden Stile Grunge und Pixiestil sehr ähnlich sind, konnte ich mit Grunge nie viel anfangen, während die Pixies immer meine Helden blieben. Daß das auch heute noch gilt, zeigten mir meine letzten Pixies-Shows 2013 und 14. Die 3-EP-Platte Indie Cindy von 2014 mochte ich, gehört habe ich sie aber kaum. Die Konzerte beim Primavera und in Belgien und Luxemburg hatte ich gesehen, weil es schließlich die Pixies sind, hinterher war ich aber jeweils überrascht, wie sehr mich die kauzige Band immer noch begeistern kann.
Auch das Ausscheiden von Kim Deal hat da keinen bleibenden Schaden hinterlassen. Natürlich war das traurig, bei der Neubesetzung der Stelle haben die Pixies aber ein hervorragendes Händchen bewiesen. Erst nahm Kim Shattuck Kims Platz ein und machte das aus meiner Sicht sehr gut. Sie war aber zu sehr Rock'n'roll für die drei älteren Herren neben ihr. Nach einem Sprung ins Publikum (glaube ich), flog sie mit der sehr souverränen Begründung "The Pixies don't do this" wieder raus. Neue Bassistin wurde Paz Lenchantin. Paz hatte vorne am Bass eine Dekoblüte angebracht. Das machen die Pixies offenbar. Oder Frank Black, Joey Santiago und David Lovering sind zu begeistert von der Frau mit dem glücklichen Lachen, daß sie milder werden.
Das Konzert ist eigentlich schnell beschrieben: um 20:15 Uhr trat die Band auf, stimmte Wave auf mutilation an, wechselte alle drei Minuten zum nächsten Riesenhit, ohne Pausen oder Ansagen oder solchen Quatsch und endete nach 30 Liedern mit Debaser. Dann noch flott Planet of sound als Zugabe und das grandiose Konzert war gespielt.
Vom neuen Album, das erst Ende September erscheint, spielten die Pixies vier Songs. Vorher hatte ich keinen von denen gehört. Trotzdem war die bereits vorgestellte Vorab-Single das Stück, das am ehesten hängenblieb: Um chagga lagga. Baal's back ist einer der Schrei-Songs, Classic masher und Head carrier sind nicht genug haftengeblieben beim ersten Mal. Neben dem Jesus And Mary Chain Cover Head on von Trompe le Monde (dessen Original Lushs Phil King als JAMC-Bassist zigmal gespielt hat) spielten die Amerikaner das Instrumental-Stück Velvety (eine Dig for fire B-Seite). Ansonsten lag der Schwerpunkt auf alten Sachen von Doolittle und Surfer Rosa.
Ach, es ist ja doch ein großes Glück, daß man Musik nicht erklären oder seinen hervorragenden Musikgeschmack nicht rechtfertigen muß! Warum 4.000 Menschen so begeistert von dieser komischen Band waren, hätte ich dem Ordner nicht erklären können. Und da pfeife ich drauf! La la love them! Setlist Pixies, Zitadelle Spandau, Berlin:
01: Wave of mutilation 02: Bone machine 03: River Euphrates 04: Break my body 05: Classic masher (neu) 06: Monkey gone to heaven 07: Head carrier (neu) 08: Subbacultcha 09: Hey 10: Gouge away 11: Velouria 12: Snakes 13: Brick is red 14: Indie Cindy 15: Mr. Grieves 16: The holiday song 17: Vamos 18: Where is my mind? 19: Here comes your man 20: La la love you 21: Velvety 22: Head on (The Jesus And Mary Chain Cover) 23: Rock music 24: Baal's back (neu) 25: Um chagga lagga (neu) 26: Tony's theme 27: I've been tired 28: Tame 29: Caribou 30: Debaser
Konzert: Best Kept Secret Festival Ort: Tilburg Datum: 17.-19.06.2016 Dauer: 3 Tage Zuschauer: ca.25.000 Dieses Jahr konnten wir leider doch nicht so ausführlich wie geplant vom "Best Kept Secret" Festival in Tilburg berichten. Eine Grippe ist der Feind jedes Festivalbesuchers. Laute Musik, viele Menschen und kaltes Bier sind da einfach nicht hilfreich. J. Mascis hatte wohl den gleichen Virus und spielte seinen Set auf einem Stuhl. Daher diesmal als Gesamtbericht "nur" eine Fotosammlung. Auch dieses Festival wurde vom Regen nicht verschont, nur am letzten Tag zeigte sich etwas länger die Sonne. Das ist bei einem so nett gestalteten Gelände natürlich doppelt schade. Neu waren die überdachten "Longtable", die in der Mitte des Tisches einen mit Kohle gefüllten Grill enthielten und an denen (Mittags und Abends) zusammen gegessen werden konnte. Und das mitten auf dem Festivalgelände mit Wein, Fleisch, Kartoffel und Brot zu einem Fixpreis. Mit nun fast 25.000 Besuchern ist das Festival an seiner Kapazitätsgrenze angekommen. Bleibt abzuwarten ob es im nächsten Jahr Veränderung gibt.
Fotos: Tag 1 mit DIIV, Minor Victories, Wolf Parade, Beck und Mount Kimbie (DJ) Tag 2 mit Glass Animals, Air, Dinosaur Jr. und Editors Tag 3 mit Half Moon Run, Band of Horses, Yeasayer Asgeir und Two Door Cinema Club Fotos: Michael Graef
Mein Zuhause. Mein Blog. ist als kleines privates Konzert- Tagebuch entstanden. Und weil es zur Zeit musikalisch so spannend ist, wächst unsere Sammlung schnell. Wir schreiben die Berichte spontan, unüberarbeitet und so zeitnah wie möglich. Die Reviews stehen meist noch in der gleichen Nacht online, spätestens jedoch am nächsten Tag. Musik ist für uns vor allem Spaß und keine Wissenschaft.
Wir sind: Oliver Peel aus Paris Christoph aus nicht weit von Köln Julius aus Wien Gudrun aus Karlsruhe Tanita aus Mainz Jens aus Stuttgart Ursula aus Frankfurt Michael aus Chemnitz Dirk aus Mönchengladbach Vielen Dank unseren Gastautoren!
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