Mittwoch, 15. Juli 2015

Phono Pop Festival X, Rüsselsheim, 10. & 11. Juli 2015


Konzert: Phono Pop Festival X
Ort: Altes Opelwerk, Rüsselsheim
Datum: 10. & 11. Juli 2015
Zuschauer: ein paar hundert, es hätten ruhig noch ein paar mehr sein können


Man könnte schon ein bisschen wehmütig werden, wenn man am späten Freitagnachmittag vom Opel-Bahnhof an den Bahngleisen entlang im angenehmen Sonnenschein zum Klinkerbau des alten Opelwerks in Rüsselsheim läuft, die Statue des Firmengründers vor dem Eingang wie einen alten Bekannten begrüßt und kurz darüber nachdenkt, dass dies aller Voraussicht nach das letzte Phono Pop Festival sein wird. Tatsächlich gilt es aber natürlich zuerst noch einmal dieses traumschöne und liebevoll organisierte Festival in vollen Zügen zu genießen und damit dies ungetrübt der Fall sein kann, wartet die diesjährige Ausgabe mit Kaiserwetter und einer extrem gelungenen Bandauswahl auf. 


Mit den fünf Jungs von Yesterday Shop geht’s gleich mal schön poprockig los, phasenweise sogar mit doppeltem Schlagwerk. Die nachzulesenden Coldplay-Einflüsse der mittlerweile aus dem Raum Reutlingen nach Berlin übergesiedelten Band sind nicht ganz von der Hand zu weisen. Live haben die Songs allerdings erheblich mehr Druck und Energie als die Studioaufnahmen. Ein bisschen fehlt vielleicht noch der eine, wirklich hängen bleibende Megasong, aber die Chancen hierfür stehen bestimmt nicht schlecht. Ein sehr schöner Auftakt.  


Sehr haarig schließen sich auf der etwas größeren zweiten Bühne im nächsten Hof einmal um die Ecke die aus Oklahoma stammenden Other Lives an. Ganz gelingt es mir um diese Tageszeit noch nicht mich auf die träumerisch mehrschichtigen durchaus sehr spannenden Klänge der Amerikaner einzulassen. Zusätzlicher Trompeteneinsatz, Orgelklänge, Violinen, ein bisschen Glockenspiel und die etwas klagend klingende Tonlage von Sänger Jesse Tabish haben auf jeden Fall großes Potenzial, einen in ganz andere Welten zu entführen und ich hoffe auch, dass ihnen das bei unserer nächsten Begegnung gelingen wird. 


Erlend Øye sieht ein bisschen aus wie ein zu groß geratenes Bandenmitglied der Kleinen Strolche, auch wenn er dieses Jahr noch 40 wird. Und seine Fröhlichkeit ist unglaublich ansteckend. Er war mir mit seinen musikalischen Projekten stets irgendwie präsent. Die Kings Of Convenience liefern einen nahezu immer geeigneten Soundtrack für einen gemütlichen Abend mit Freunden und The Whitest Boy Alive habe ich leider zweimal live knapp verpasst. Um so schöner, dass es jetzt endlich klappen sollte und das neue leicht reggaeangehauchte Album Legao ist wie geschaffen für diesen angenehm lauen Sommerabend auf dem Fabrikgelände. 
Eine nette Auffrischung des kürzlichen Islandaufenthalts gab’s auch noch. Kaum war mir zu Ohren gekommen, dass der groß gewachsene Mulitinstrumentalist hinterm Keyboard ja übrigens Isländer sei, durfte Siggi auch schon die gesamte Bühne übernehmen und ein Lied in seiner lustig klingenden Muttersprache zum Besten geben. Und weil der Norweger Erlend überwiegend im viel sonnigeren Italien lebt und zwei Bandmitglieder seiner Rainbows Italiener sind, gibt’s auch noch ein bisschen gesungenen Italienischunterricht. Vielen Dank liebe Phono Pop Macher für diesen perfekten Headliner des ersten Abends. 


Meine jährliche Dosis Hip-Hop hatte ich gewissermaßen schon die Woche zuvor auf dem ATP Iceland mit einem packenden Auftritt der Altrapper Public Enemy gedeckt. Was Käptn Peng & die Tentakel von Delphi in Sachen deutschem Hip-Hop gekonnt zusammenreimen, macht ebenfalls Spaß und fehlender Einsatz von Audiosamples, also sozusagen handgemachter Live-Rap, kriegt mich dann auch durchaus ein zweites Mal. Um den Wortwitz nachzuvollziehen, muss ich dennoch bei Gelegenheit, vermutlich unter Zuhilfenahme von Google & Co, noch ordentlich nachlesen & -hören. Das sehr leckere Festival-Sponsoren-Bier zeigte auch schon Wirkung. 


Pünktlich und wieder nüchtern geht’s am nächsten Tag für uns weiter. 


Caroline Keating erzählt uns erstmal wie besonders stolz sie auf ihre tolle orangefarbene Hose heute sei, als sie sich am frühen Mittag an ihr E-Piano setzt. Die Hose schmeichelt ihrem sommersprossigen Teint tatsächlich ausgesprochen und die Kanadierin versteht es außerdem hervorragend ihren entzückenden Charme mit ihrer zarten Musik zu verbinden. Singer/Songwriterin am Klavier klingt ja mal zunächst nicht sonderlich aufregend. Ist es aber. Es war absolut zauberhaft und mir fehlten auch keine Begleitmusiker. Nach eigenem Bekunden arbeitet sie derzeit fleißig an neuem Material auf das man sich bereits freuen kann.


Am Samstag parkt ein Eistruck auf dem Weg zwischen den beiden Bühnen und eigentlich kommt man da nicht ohne ein Eis zu kaufen dran vorbei. Im Adamshof spielt sich John Bramwell , wahrscheinlich etwas besser bekannt als Sänger von I Am Kloot, ganz alleine warm. Der Hof war leer. Ein spannender Anblick beim Eisschlecken. 
Als es dann wirklich losgehen soll, ist der Gitarre zunächst kein verstärkter Ton zu entlocken. Der gute Herr Bramwell war nämlich ohne seine Gitarre in Rüsselsheim gelandet und tat sich mit dem fremden Ding etwas schwer. Und auch seine Setlist und sein Handy waren wohl abhanden gekommen wie er im Lauf des Auftritts erzählt. Weil er daher nicht selbst in der Lage ist ein Erinnerungsselfie zu machen, wurde kurzerhand der am Bühnenrand stehende Fotograf nach oben gezerrt, um einen winkenden Engländer und ein jubelndes Publikum von hinten zu fotografieren.


Nach einem weiteren Lied – die Gitarre funktionierte inzwischen - hüpft er von der Bühne und nimmt einem rauchenden Mädchen die Kippe aus der Hand, um mal kurz einen Zug zu nehmen. Er rauche ja schon länger nicht mehr, aber bei so einem Konzert …! Einmal sei er mit dem neu aufgenommenen Demotape im Autoradio durch die Gegend gefahren und wäre so entzückt von seinem eigenen neuen Song gewesen, dass er vor Rührung kurz habe anhalten müssen. Er lacht. „The sad thing about it, it’s a true story.” 


Ein bisschen selbstverliebt, herrlich britisch, leicht verschroben, einen Zahnarzt könnte er vielleicht auch bei Gelegenheit mal wieder aufsuchen. Aber er ist auch grundsympathisch und ich persönlich mag solche Geschichtenerzähler ausgesprochen gern, vor allem dann, wenn sie auch musikalisch noch zu überzeugen wissen und das tut John Bramwell mit seinem Können an der Leihgitarre und seiner ganz leicht knarzigen, sehr angenehmen Stimme zwischen Blues und Singer/Songwriter-Rock. 



In jedem guten Festival-Lineup sollte eigentlich eine schwedische Band enthalten sein. Am Samstag wird dieser Slot mit der Rückkehr von Rasmus Kellermans Bandprojekt Tiger Lou gefüllt, das mal wieder alles hat, was schwedische Musik häufig ausmacht: poppig, tanzbar, ein bisschen folkig und trotzdem melancholisch, sehnsuchtsvoll und traurig.

 
Schnipo Schranke muss man vermutlich lieben oder hassen. Mir ist das Soundkonstrukt etwas zu eintönig und die Texte treffen ganz und gar nicht meinen Wohlfühlbereich. Zu viel Kopfkino für mich, aber ich kann auch verstehen, dass viele Zuhörer von den rotzigen Ansagen und schamgrenzwertigen Zeilen fasziniert sind. Es ist auf jeden Fall anders und alles andere als gewöhnlich.


Die vier Herren von Okta Logue sind badeseetauglich gekleidet als sie kurz vor 8 die große Bühne betreten. Vielleicht kommen sie ja direkt da her. Sie haben es schließlich nicht weit nach Rüsselsheim, obwohl sie so ganz und gar undeutsch und auch ein bisschen aus der Zeit gefallen klingen mit ihren breiten psychedelischen Soundwänden mit viel Orgeleinsatz. Großartig und schön zu beobachten. Einzige kleine Einschränkung: Im dunklen Club mit einem Hauch Alkohol im Spiel gefallen sie mir noch ein ganz kleines bisschen besser. Da würde ich mich dann auch nicht so sehr an den Äußerlichkeiten aufhalten.


Nach den vielen wunderschönen ruhigen Momenten freuen wir uns nach der Okta Logue Einstimmung sehr auf eine Runde laut und krachig. Eigentlich dürfte ich das als Stuttgarterin ja noch nicht mal laut sagen, aber ich hatte es bis dahin tatsächlich nicht geschafft, die spätestens seit Anfang des letzten Jahres schwer gehypten Die Nerven live zu sehen. Man nimmt ja immer an, dass sich die Gelegenheit in der Heimatstadt einer Band dauernd und immer wieder ergeben wird.


 
Auch war ich noch etwas skeptisch, nachdem ein Freund gemeint hatte, dass er tatsächlich drei Anläufe benötigt hätte, um die drei Jungs richtig gut zu finden. Die wird es für mich tatsächlich nicht brauchen, auch weil die Band zwischenzeitlich vermutlich genug Erfahrung gesammelt hat, um sich nochmal zu verbessern und live schon mit dem ersten Song zu überzeugen. Ich hatte irgendwie mehr Schrammel- Drei-Akkord-Punk erwartet, weil reingehört hatte ich auch noch nicht in der gebotenen Ausführlichkeit. Das allerdings sehr bewusst, denn Die Nerven machen Musik, die mich primär erstmal live kriegen muss.


Bassist Julian Knoth und Gitarrist Max Rieger wechseln sich beim Gesang ab oder singen auch schon mal gemeinsam und das so gut und harmonisch, dass man den dunklen, häufig zornigen Texten durchaus folgen kann. Tausendsassa Kevin Kuhn am Schlagzeug trommelt wie irre und hat eine Mimik, die The Animal aus der Muppet Show alt aussehen lassen. Der Punk klingt durch, aber es ist viel mehr. Schön postrockig düster, laut und tanzbar. 


Leider hatten es Two Gallants nach dem packenden Nerven-Erlebnis ziemlich schwer bei mir. Obwohl die beiden Amerikaner durchaus in der Lage sind, wie eine mindestens 6-köpfige Band zu klingen. Sänger/Gitarrist/Keyboarder Adam Stephens verfügt über eine wahnsinnige Rockröhre und Tyson Vogel versteht sein Handwerk an den Drums ebenfalls bestens . Nach den ersten zwei Liedern kommt die vor bald drei Jahren schon mal erlebte Energie der beiden schließlich doch noch an und auch wenn die neuen Lieder nicht ganz an das ältere Material heranreichen, bleiben die Kalifornier für mich die vielleicht beste Rock-Blues-Folk-Umsetzung im minimalistischen Zweierteam.


Vor den Temples verabschieden sich die drei Macher des Phono Pops tatsächlich unter auffordernd gemeinten Pfiffen und traurigen Buh-Rufen von ihrem letzten Publikum. Es war grandios. Wie erwartet und auch wenn ich nach 8 Stunden Musik und fast so viel Sonne langsam etwas erschöpft bin, sind die Temples mit ihrer retropsychedelischen Musik, deren moderne Anleihen an 60er-Jahre Beatles und Co von den jungen Engländern hervorragend umgesetzt werden, ein gelungener Ausklang dieses ganz und gar gelungenen Festivals.


Weitere Bilder:


 

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