Sonntag, 23. November 2014

Savages & Bo Ningen, Utrecht, 22.11.14


Konzert: Savages & Bo Ningen "Words to the blind"
Ort: Tivoli Vredenburg, Utrecht (Le Guess Who? Festival)
Datum: 22.11.2014
Dauer: 36 min
Zuschauer: ca. 1.500




In Zürich entstand vor etwa hundert Jahren der Dadaismus. Eine seiner damals auftauchende Kunstformen war das Simultangedicht, die gleichzeitige Lesung verschiedener Texte. Bei der ersten Aufführung eines Simultangedichts im Cabaret Voltaire wurden drei Texte in verschiedenen Sprachen vorgetragen. Dies war eine Reaktion auf den gerade stattfindenden Weltkrieg oder eher ein Deutungsversuch für dessen Ursachen. Mehrere Texte werden durch das gleichzeitige Handeln vollkommen unverständlich, es entsteht Chaos!


Savages und Bo Ningen, die englische Frauenband mit französicher Sängerin und die japanische Männerband mit langen Haaren und quietschenden Gitarren, griffen die Idee des Simultangedichts auf und komponierten gemeinsam ein Musikstück Words to the blind, das von beiden Bands bei einem gleichzeitigen Konzert im Mai 2013 in London aufgeführt werden sollte. Words to the blind enthält ein zweites Dada-Kunststück, das Lautgedicht, ein Gedicht, dessen Worte als Text keinen Sinn ergeben. 

Die Idee der beiden Bands wurde umgesetzt und in der Londoner Red Gallery aufgeführt. Ursprünglich als einmalige Performance geplant, fand bisher (mindestens) eine Wiederholung in London statt. Beim Le Guess Who? Festival in Utrecht gab es die dritte Gelegenheit, Words to the blind zu sehen.



Als wir vorher schon kurz bei Baby Dee im Saal "Ronda" des Konzertzentrums waren, wunderten wir uns über den Bühnenaufbau mit zwei Stegen, die ins Publikum ragten. Solche Stege, die Bands wie Coldplay benutzen. Beim Aufbau für Words to the blind wurde deutlich, daß die Brücken einen anderen Zweck erfüllten. Die Bühne bildete ein U, auf dessen beiden langen Seiten sich je eine der Bands aufbaute. Die beiden Schlagzeuger (Fay Milton / Savages und Monchan Monna / Bo Ningen) saßen nebeneinander an der kurzen Seite hinter ihren Instrumenten. Auf den beiden langen Seiten standen zunächst die Gitarristen (Gemma Thompson auf der Savages-, Kohhei Matsuda auf der Bo Ningen-Seite), davor bei Savages Ayse Hassan (Bass) und rechts bei den Japanern Yuki Tsujii und ganz vorne Sängerin Jehnny Beth und Sänger Taigen Kawabe. Alle Musiker guckten nicht nach vorne sondern zur anderen Seite zu ihren Gegenparts. Im Inneren des Us war ein Teil des Publikums, das 270 Grad Unterhaltung geboten bekam.



Es sollte um 19:15 Uhr anfangen. Allerdings lief da gerade erst der Soundcheck, der bei zwei Bands spektakulär aussah. Beim Abstimmen jedes Instruments hoben erst immer alle acht Musiker den Arm und senkten ihn nach und nach, wenn aus den Monitor-Boxen der richtige Sound kam. Es dauerte ewig, die richtige Abstimmung zu finden, da aber alle acht Musiker auf ihren Laufstegen standen, umringt von Zuschauern, war auch dies unterhaltsam. Als Kohhei Matsuda um ein paar Gitarrentöne gebeten wurde, legte er eine sagenhaften Metal-Einlage hin, Ayse Hassan brach beeindruckt in Lachen aus! 

Irgendwann ging es dann vor vollem Haus los. Weil Bo Ningen Sänger Taigen Kawabe auch Gitarre spielt, Jehnny Beth aber nicht, hing dieses Extra-Instrument wie ein Windspiel hinter dem Steg auf der Savages-Seite des Bühne. Aber die ersten Minuten waren ausschließlich instrumentfrei. Jehnny las einen französischen Text, Taigen einen japanischen vor. Auch wenn ich theoretisch den französischen zumindest zum Teil hätte verstehen können, funktionierte das Konzept so, wie es sich Dadaisten 1916 ausgedacht haben, es klang nach Text, es war aber nichts konkret auszumachen.

Dann setzten die anderen Musiker ein, allerdings nur mit abgehackten Geräuschen, ganz ohne Melodien. Es waren nur sphärischen Klänge, die die Gedichte untermalten. Oder störten, was eher dem Konzept entspräche. Diese erste extrem sperrige Phase dauerte rund zehn Minuten, danach begannen zunächst die Schlagzeuge in eindrucksvoller Synchronität Struktur zu bringen. Obwohl der Versuch, ein dadaistisches Stück deuten zu wollen, vermutlich absurd ist, kam mir diese aufkommende Ordnung wie ein Ausweg aus der ursprünglichen Verständnislosigkeit vor. Gegen Ende klangen die Sänger fast wie Sänger. 

Words to the blind besteht aus fünf Teilen. Ich tat mich ein wenig schwer damit, die Setlist mitzuschreiben (hatte meinen Kuli vergessen und musste einen Edding benutzen), bin aber sehr sicher, daß alle fünf auch in Utrecht gespielt wurden, wegen des Improvisations-Charakters aber vielleicht durchaus abgewandelt zur Uraufführung in London.

Es war etwas Besonderes, Words to the blind sehen zu dürfen. Aber mir wird es nicht nur im Gedächtnis bleiben, weil es wenige Chancen gibt, dies zu sehen, sondern weil das Stück eindrucksvoll und spätestens nach zehn Minuten sehr gut war. 

Setlist Savages & Bo Ningen, Words to the blind, Utrecht:

01: The voice is humanity, the voice is demons
02: The noise is the world
03: The voice versus the world
04: Silence / harmony
05: Chaos and destruction

Links:

- aus unserem Archiv:
- Savages, Köln, 20.11.13 
- Savages, Den Haag, 16.11.13
- Savages, Larmer Tree Gardens, 30.08.13
- Savages, Frankfurt, 19.05.13
- Savages, Paris, 23.02.13





 

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