Montag, 24. November 2014

The Vaselines, Utrecht, 22.11.14


Konzert: The Vaselines
Ort: De Helling, Utrecht (Le Guess Who? Festival)
Datum: 22.11.2014
Dauer: 55 min
Zuschauer: 150 bis 200



Im Zeitalter der Romantik war Deutschland* eines der Zentren der europäischen Kultur, vermutlich sogar die Gegend mit dem besten Musikgeschmack. Denn nur da, wo ihr Wirken geschätzt wird, können Musiker erfolgreich arbeiten und andere Musiker inspirieren. Mehr Künstler fördern wieder den Geschmack, guter Geschmack lockt wiederum andere Musiker an. Umgekehrt funktioniert das leider auch. Wenn man hiesige (Mainstream-) Radios anhört, stellt man schnell fest, daß wir uns in Deutschland in einer kulturhistorischen Phase der Musikverweigerung befinden, vermutlich in der schlimmsten, die es bisher gab. 

Man muß nur über die Grenzen schauen, um gezeigt zu bekommen, wie es auch funktionieren kann. Ein Tagesausflug nach Utrecht zum Le Guess Who? Festival ließ uns erneut merken, wie ernst das nicht schrecklich große Nachbarland Kulturförderung nimmt. Als wir mittags schon einmal in der Festivalzentrale im Tivoli Vredenburg waren, staunten wir nicht schlecht. Das Konzertgebäude ist riesig hoch und verfügt über fünf Säle, zahllose Sitzecken, Cafés, Theken. Insgesamt können rund 8.000 Zuschauer dort Konzerte sehen. Über unzählige Roll- und normale Treppen gelangt man höher und höher durch eine atemberaubende Architektur. Das Gebäude hat 150 mio Euro gekostet und dient ausschließlich Kulturveranstaltungen. In einer Stadt mit 330.000 Einwohnern! Wundervolle Niederlande!

Aber nicht nur in diesem eindrucksvollen Gebäude (neben dem Haus, auf dem eine monstergroße Teekanne steht, das aufregendste in Utrecht) fanden Konzerte beim Le Guess Who? statt. Unsere beiden letzten Veranstaltungen waren in dem kleinen Club The Helling, auf der anderen Seite der Stadt angesetzt. Den Abschluß (und Hauptgrund) unseres Ausflugs bildeten die Vaselines aus Glasgow, für die ich gerne in Kauf nahm, erst um vier wieder zu Hause anzukommen.

Die Vaselines bestehen seit Mitte der 80er Jahre. Nach einem Album und ein paar EPs lösten sie sich allerdings schnell wieder auf. Erst seit 2006 spielten die beiden Gründer Fran McKee und Eugene Kelly wieder sporadisch Konzerte. 21 Jahre nach dem Debüt Dum Dum erschien 2010 mit Sex with an x das zweite Studioalbum. Die Vaselines spielten das von Belle & Sebastian gestaltete Bowlie 2 und einige (sehr) wenige Deutschland-Termine im Winter 2010 / 2011, die ersten Konzerte in Deutschland überhaupt.

Vor einigen Wochen erschien das dritte Album des Duos, V for Vaselines, meine Lieblingsplatte des Jahres! Zwar führte die kleine Tour die Schotten auch nach Deutschland, allerdings nur mit einer Station in Berlin. Deutschland ist für Indiebands einfach nicht mehr relevant. Ausverkauft werden die Clubs in anderen Ländern viel eher. Wenn das erste deutsche Konzert gerade mal 70 Zuschauer anlockt, ist es kein Wunder, daß Bands einen großen Bogen um uns machen und nur des Prestiges wegen Berlin besuchen. Aber das haben wir selbst verbockt, weil wir nur den Mist hören, der im Radio läuft. Verfluchte Bouranisierung!

Voll war das De Helling auch nicht. Nach Ought, die vorher spielten, gingen viele wieder aus dem kleinen, etwas abseits gelegenen Club weg. Die Vaselines begannen um 23:30, nachdem sie den Aufbau selbst vorgenommen hatten. Begleitet wurden Frances und Eugene diesmal nicht von Belle & Sebastian Mitgliedern. An Stelle von Bobbie oder Stevie spielten drei, recht jung aussehenden Musiker, die ich nicht kannte. Drei Gitarren, Bass, Schlagzeug sind eine wuchtvolle Untermalung der Melodien der Vaselines, zumal die neue Platten nur noch wenig von den rohen Songs der ersten Bandphase haben. Aber es passte ausgezeichnet! Das Konzert war vorzüglich!

Die fünf Musiker wirkten eingespielt und routiniert, aber nur im guten Sinne. Erstaunlich, wei wenig man Eugene und Fran die im Verhältnis zur Bandgeschichte kleine Bühnenerfahrung anmerkt. Gerade die (wie wir hinterher feststellten erschreckend wenig gealterte) Sängerin ist eine ausgewachsene Rampensau. Sie teilte zwar deutlich weniger verbale Tiefschläge als bei meinen ersten beiden Vaselines-Konzerten aus, war aber auch in Utrecht extrem unterhaltsam. Vor der Bühnenmitte standen eine Handvoll sehr junger und sehr betrunkener Fans, die ihr abwechselnd Heiratsangebote und sonstige Liebesbekundungen machten. Frances ging darauf ein und flirtete mit. Als Eugene Sex with an x ankündigte und daraus ein kleiner Dialog der beiden entstand, sagte sie, sie habe andere Pläne. "I save myself for the young man!" Bei Son of a gun schmachteten zwei der Groupies sie tanzend an, was sie mehrfach lachend aus dem Konzept brachte. Normalerweise sind überalkoholisierte Radaubrüder sehr anstrengend, die hier machten Spaß.

Die Mischung des Konzerts war wundervoll! Natürlich fehlten etliche Riesenhits, Aber eine Band, bei der fast jedes Lied genial ist, kann in 55 Minuten eben nicht mehr als 20 Knaller spielen. Montag bei Morrissey wäre es mir recht, wenn der Schwerpunkt nicht unbedingt auf dem aktuellen Album läge. Bei den Vaselines hätten es ruhig nach einige Lieder mehr davon sein dürfen. Von den neuen Stücken gefiel mir live das düstere Earth is speeding ganz besonders. Neben den vielen Evergreens auf der Platte, ist es mir beim normalen Hören weniger aufgefallen.

Es war jedes Gähnen wert, bis tief in die Nacht einer unbekannten Glasgower 80er Band zuzugucken! Hoffentlich fasst mal einer der zahlreichen deutschen Festivalveranstalter Mut und bucht die Band! Sie zahlen es mit Billanz und einem guten Stück Musikgeschichte zurück!

Setlist The Vaselines, De Helling, Utrecht:

01: Oliver twisted
02: High tide, low tide
03: I hate the 80s
04: The day I was a horse
05: Monsterpussy
06: One lost year
07: Such a fool
08: Molly's lips
09: Sex with an x
10: Crazy lady
11: The devil's inside me
12: Earth is speeding
13: Jesus wants me for a sunbeam
14: Sex sux
15: Slushy
16: Ruined
17: Son of a gun
18: Dying for it

Links:

- aus unserem Archiv:
- The Vaselines, Offenbach, 30.01.11
- The Vaselines, Minehead, 12.12.10

Mehr Fotos später!

* (das es damals natürlich nicht als Staat gab)


 

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