Sonntag, 30. März 2014

Pelle Carlberg, Stuttgart, 26.03.2014


Konzert: Pelle Carlberg
Ort: Ein Wohnzimmer, Stuttgart
Datum: 26.03.2014
Dauer: 114 Minuten (exklusive Pause)
Zuschauer: 45-50 

Alle Fotos: David C. Oechsle

Schwedischer Folk-Pop ist schwermütig, düster und stimmungsvoll. Das gängige Klischee trifft zu, dachte man nach den eindringlichen Wohnzimmerkonzerten der hervorragenden tapete-records-Künstler The Grand Opening im November und Christian Kjellvander vor wenigen Wochen. Pelle Carlberg schlägt einen anderen Weg ein, scheut sich nicht vor fröhlichen Akkorden und verpackt selbst Sentimentales farbenfroh.  

„Als Kind war ich der einzige Junge in meiner Klasse, der Abba mochte. Die Jungs standen alle auf Kiss, ich war da eher wie ein Mädchen“, gesteht der 44-Jährige Schwede angelehnt an den Kühlschrank in einem Gespräch nach dem Konzert und verdeutlicht seine Herangehensweise. In Verbindung mit der tiefen Verehrung Morrisseys und der Smiths, deren „Frankly, Mr. Shankly“ dem Heranwachsenden einst lehrte, dass Songs richtige Geschichten fernab vom Boy-meets-Girl-Topik erzählen können, erschließt sich das künstlerische Selbstverständnis eines der großartigsten Popmusikers, die Schweden in den letzten zwanzig Jahren hervorbrachte. „I don't wanna be a fireman / I just wanna blow out candles“, singt Carlberg. Der Einstieg gerät intensiv: „Oh no! It's happening again“ vom Solo-Debüt „Everything. Now!“ ist in der unverstärkten, dezent reduzierten Präsentation die passende Eröffnung eines ruhigen Wohnzimmerkonzerts voller feiner Momente.  

„Entschuldigt, dass ich nicht so laut singe. Christian Kjellvander hat da schon eine viel voluminösere Stimme“. Das Understatement ist sympathisch, die Ausstrahlung des einstigen Frontmanns der schwedischen Indie-Hoffnung der späten 90er, Edson, füllt den Raum mit Leichtigkeit. Als schon mit „Musikbyrån makes me wanna smoke crack“ der zweite Song den Ausnahme-Songwriter und Storyteller zum Vorschein bringt, deutet sich ein denkwürdiger Abend an. „It was a wednesday night“, beginnt Carlberg in einer solchen und verzaubert daraufhin mit der beispiellosen Schilderung eines traurigen Fernsehmoments. Die bemerkenswerte VH1-Doku von Billy Bob Thornton über den Krebstod Warren Zevons nutzt der Schwede für Reflexionen über sein eigenes Leben, sein künstlerisches Schaffen, seinen Nachlass und Freunde: „Warren had many friends / Springsteen was one of them“, stellt er fest, um anschließend traurig zu schließen: „I thought about my friends / regular busy friends / I wonder if they would come / If I was dying from some kind of strange disease“. Carlbergs lyrische Umsetzung interessanter Gedanken gelingt mit außergewöhnlicher Finesse. Während er auf der einen Seite mit geschicktem Wortwitz und grandioser Komik brilliert – wie in „Fly me to the moon“ und „Go to hell, Miss Rydell“, seinen Abrechnungen mit Ryan Air und einer Kritikerin, die das letzte Edson-Album in der größten schwedischen Tageszeitung verriss –, gelingt es ihm an anderer Stelle auch Melancholie und Ausweglosigkeit mit einem Lächeln zu begegnen. 


Wohnzimmerkonzerte würden ihm, der bisher nur vereinzelt solche spielte, den Raum geben, Songs vertieft zu erklären, Gedanken zu äußern, für die in einem Rockclub keine Zeit sei. So werden hier und da Anekdoten geliefert, deren Schilderung mehr Zeit in Anspruch nimmt als das darauffolgende Lied. Mit enormer Aufmerksamkeit hängen fast 50 Zuschauer an seinen Lippen. 
Nachdem ich Carlbergs letztes – und bisher einziges – Stuttgart-Konzert im Herbst 2011 im Club Zwölfzehn verpasste, weil es mir vor dem riesigen Fan-Ansturm zum DJ-Set des gerade durch die Decke gegangenen Bielefelder Rappers Casper beim „Geek Chic“ im direkten Anschluss an das Konzert graute, erfülle ich mir heute Abend einen Traum. Carlberg tänzelt umher, blickt um sich, bewegt sich immer wieder auf die Zuschauer um ihn herum zu. In seiner Kindheit in Uppsala war der spätere Bestseller-Autor Håkan Nesser einer seiner Lehrer am Gymnasium, der seinen Sinn für Sprache und sein Interesse an Literatur mit Ausflügen und gutem Unterricht weckte. Die damals entfachte Leidenschaft blüht noch heute in den starken Songs auf.

Direkt vor der Pause spielt er beispielsweise „Pelle Carlsberg“, seine pointierte Verarbeitung eines skurrilen Konzerterlebnis in Kuala Lumpur, zum zweiten Mal. Nach der Live-Premiere in Montabaur zwei Tage zuvor wird sein Song über die Kürzung seines Namens auf Konzertplakaten zu „Ex-Edson Pelle“, weil dem Tour-Sponsor – die Brauerei Tiger Beer – die scheinbare Nähe seines Nachnamens zum dänischen Bierriesen zu eng erschien, besonders gefeiert. Während der Song seinem Label nicht ernst genug war, sodass er es nicht auf das letzte Album schaffte, quittiert große Begeisterung heute Abend seine Klasse. 
Zwischen all den großartigen Texten, der Erwähnung des „Law of Jante“ und wichtiger philosophischer Strömungen in Skandinavien, klärt der Mitinhaber einer Stockholmer Herren-Boutique das Stuttgarter Konzertpublikum über die Historie des Kleidungsherstellers „Merz b. Schwanen“ auf. Die schwäbische Arbeitermarke habe in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts besonders gute – weil nahtfreie und beständige – Unterhemden hergestellt, deren Produktion heute wiederaufgenommen worden sei. Nach dem Hinweis, dass er sich in Schwaben befände und Freiburg zu Baden zähle, folgen auf kollektives Lachen weitere großartige Songs. 


Mit Brille und Siebentagebart unterstreicht der stilvolle Mitt-40er gleichzeitig die Relevanz popkultureller Dresscodes. Während des eindringlichen, zweigeteilten Sets kommen zwischen Perlen aller drei Soloalben auch einige neue Stücke zu Gehör, mit denen der bisher beim etablierten schwedischen Indie-Label Labrador Records veröffentlichende Künstler klarstellt, woran heute keiner zweifelt, nämlich, dass er schon längst ein Star sein oder zumindest bekannter sein müsste. Derzeit auf Labelsuche, steht schon jetzt fest, dass sein kommendes, viertes Album großartig wird  (Tapete Records, wäre das nicht etwas für euch?). 

Als die melodiöse Qualität der Stücke mit „Riverbank“ und dem unübetrefflichen, auf einem Natalie-Portman-Zitat beruhenden „Clever Girls Like Clever Boys Much More Than Clever Boys Like Clever Girls“ endgültig offenbar wird, blickt man in durchweg strahlende Gesichter. Mit Understatement, Stil, starken Songs und jeder Menge Witz veredelt Pelle Carlberg einen gewöhnlichen Mittwochabend, den man zum Glück nicht vor dem Fernseher verbringt. Der poppige Chor der Zugabe „Pamplona“ wird schließlich leidenschaftlich mitgesungen, sogar rhythmisch korrekt, was den Sänger zu aufrichtigem Lob verleitet. Mit ironischer Überbetonung entlässt Carlberg das Publikum daraufhin mit einem Cover von „I Believe In A Thing Called Love“ von den augenzwinkernden Glam-Posern The Darkness in die gemütliche Aftershow-Party. In die Kopfstimme verfallend, konterkariert er noch einmal die dünne Linie zwischen Hardrock und übertriebenen Popauswüchsen, zwischen Kitsch und Pomp und – wenn man so will – zwischen Kiss und Abba. Das Gute hat endgültig gewonnen und Pelle Carlberg mit großer Leichtigkeit einige Dutzend neuer Fans. 
Im November wird es vermutlich ein Wiedersehen in unserer Wohnzimmerreihe geben, diesmal mit Band. Die Vorfreude wächst. Bis dahin dürfen wir im Geiste weiter singen: I need a matador's hat, I need a moustache... Nanananana.


 

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