Freitag, 9. August 2019

Camera Obscura, Glasgow, 05.08.19


Konzert: Camera Obscura
Ort: Saint Luke's & The Winged Ox
Datum: 05.08.2019
Dauer: Camera Obscura 85 min, Carla J. Easton 35 min
Zuschauer: 600 (ausverkauft)




Nach dem Tod ihrer Keyboarderin Carey Lander im Oktober 2015 spielten Camera Obscura keine Konzerte mehr. Ein wenig erinnerte die Situation an Lush nach dem Tod von Drummer Chris. Lush stellte alle Aktivitäten ein und verkündete Jahre später die Auflösung. Ich war sehr sicher, daß das die Band aus Glasgow auch irgendwann machen würde. Tracyanne Campbell hatte mit Tracyanne & Danny eine neue Band, nichts deutete darauf hin, daß CamObs zurück kämen.

Als vor einigen Monaten das Lineup der Belle & Sebastian Indiepop-Kreuzfahrt bekanntgegeben wurde, tauchte aber neben Tracyanne & Danny auch Camera Obscura im Programm auf, kurz danach wurde eine Warmup-Show in Glasgow angekündigt. Eine Woche nach dem Indietracks, wie praktisch! Vor dem Konzert ihres neuen Projekts in Köln sprach ich die Sängerin auf die Bootstour an. Sie sagte damals, daß sie nicht einschätzen könne, wie es für die Band sein werde, wieder als Camera Obscura auf der Bühne zu stehen. Man werde abwarten müssen, was passiere.

Da meine bisherigen Camera-Obscura-Konzerte immer einen faden Beigeschmack hatten und die Band auf der Bühne mißgelaunt wirkte, hatte sie bei mir nicht den Ruf einer gute Liveband. Das - und das Risiko, daß die Situation die Musiker vielleicht emotional überfordern könnte - war eigentlich keine gute Voraussetzung für zu viel Vorfreude. Erstaunlicherweise stiegt die aber in Schottland von Tag zu Tag. Trotz so großer Konzerte wie dem der Primitives oder der Vaselines, war ich restlost überzeugt, daß es eine gute Idee war, nach Glasgow zu fahren.


Das Saint Luke's ist eine im 19. Jahrhundert gebaute Kirche im Glasgower East End. Das schlichte Gebäude hat eine Empore, eine Orgel, zwei Kirchenfenster und bietet wohl 600 Menschen Platz. Da das Konzert seit vielen Wochen ausverkauft war, waren wir früh da. Gottseidank! Denn so sahen wir den spannenden Support, der 30 min nach Einlass begann. "Das ist doch die Keyboarderin von den Vaselines!" Die schottische Indiepop-Szene ist wirklich nicht klein, die Frau hinter dem Keyboard hatten wir aber zwei Tage vorher bereits in Aberdeen als Bandmitglied der Vaselines gesehen. Diesmal durfte Carla J. Easton mit ihrer eigenen Musik auftreten.



Carla wurde von zwei Musikern begleitet, Callum ("guitar") und Paul ("acoustic guitar and glitter"). Carlas aktuelle Platte Impossible stuff ist als Scottish Album of the Year nominiert, obwohl es in allen Glasgower Plattenläden prominent vertreten war, kannte ich ihre Musik vor dem Konzert noch nicht. Der Auftritt gefiel mir sehr gut. Carlas Stimme erinnert mich an Kate Bush, stilistisch kann ich das nicht richtig greifen. Der Auftritt war aber spannend und damit der erste gute Support der kleinen Indiepop-Reise. Richtig toll wurde es auch zwischen den Liedern. Nach dem Vaselines-Konzert hatten wir die Sängerin für sehr schüchtern (oder von Frances' Humor eingeschüchtert eingeschätzt. Als Band-Leaderin taute sie kräftig auf und redete viel mit einem wunderschönen schottischen Akzent. Sie saß auf ihrem linken Bein hinter dem Keyboard. So sitze sie immer. Eine Frau habe sie einmal mitleidig darauf angesprochen, ob sie nur ein Bein habe. Als Carla ein neues Lied ankündigte, tat sie das mit "jetzt kommen die beiden schlimmsten Worte bei jedem Konzert: 'new song!'" Wir sollten nach Camera Obscura noch zum Merch-Tisch kommen. "I'm not a horrible person! No, I think I'm not a horrible person." Ihr Ex-Freund sei aber vielleicht anderer Meinung.

Als die Bühne für Camera Obscura bereitet wurde, fragten wir uns, ob Carla vielleicht auch bei der Hauptband am Keyboard spielen würde. Das erschien eine pragmatische Lösung zu sein, weil sie ja schließlich durch den Job bei den Vaselines ohnehin auf dem Schiff sein würde.

Nachdem er alles vorbereitet hatte, schrieb der Roadie Gitarrist Kenny McKeeve noch "smash it!" auf die Setlist. Ein normaler Konzerttag war das nicht.


Camera Obscura kamen zu sechst auf die Bühne. Tracyanne, Kenny, Bassist Gavin, Schlagzeuger Lee, Percussionist und Trompeter Nigel (denke ich) und Keyboarderin Donna Maciocia, die uns Tracyanne sehr früh vorstellte. Wenn die Band Zweifel hatte, waren die spätestens nach dem ersten Lied weg. Auf Let's get out of this country folgte minutenlanger Applaus, der den Grundton für den Abend festlegte. Das Heimspiel und das Publikum, das zum großen Teil aus Freunden und Familien-Mitgliedern zu bestehen schien, waren sicher eine große Hilfe. Daß die Band sich musikalisch nichts beweisen musste, wurde bei jedem der zahllosen Hits deutlich. Aber hier ging es nicht ums Eingerostetsein, es ging darum, mit den Gedanken zurechtzukommen, die ganz sicher bei jedem Blick zum Keyboard in den Köpfen der Band arbeiteten. Nach außen gingen Tracyanne und die anderen damit sehr stilvoll um. Die Sängerin erzählte irgendwann, daß alle Erlöse rund um die Konzerte an das The Prince & Princess of Wales Hospice in Glasgow gingen, den Ort, an dem Carey ihre letzten Tage verbracht habe. Auch wenn man ihr da den Kloß im Hals anmerkte, hatte der Abend einen enorm fröhlichen Grundton. Gerade Tracyanne wirkte gut gelaunt, sie lachte oft und schien es zu genießen, mit ihrer Band zurückzusein. Der Eindruck, den ich bei meinen früheren Camera-Obscura-Konzerten immer wieder hatte, daß es der Band keinen Spaß mache, aufzutreten, wäre ja vielleicht an diesem besonderen Abend berechtigt gewesen, davon war aber so gar nichts zu spüren! Es war ein Konzert mit viel Lachen, mit glücklichen Gesichtern auf und vor der Bühne.


Nicht zuletzt war es ein Abend mit fantastischen Liedern! Hätten wir vorher eine Wunschliste abgeben dürfen, sie wäre nah an der echten Setlist gewesen. Camera Obscura spielten alle Hits, hätte ich fast geschrieben, die Band hat aber so viele davon, daß ich heute noch im Saint Luke's stehen würde, wenn sie das getan hätte. Trotz alter Kirche klang das Konzert glasklar, jeder Keyboard-, Gitarren- oder Trompeten-Ton.

Es war unbedingt eine gute Idee, den Urlaub so zu verlängern, daß das Konzert noch reinpasste. Ein perfekter Ort, grandiose Lieder, ein Publikum, das nach mehreren tausend Leuten klang und eine überaus sympathische Band. Ich wüsste nicht, was verhindern sollte, daß das das beste Konzert des Jahres war! Höchstens vielleicht doch noch eine Teilnahme an dieser verdammten Kreuzfahrt im Mittelmeer, auf der Camera Obscura noch zweimal auftreten.

Setlist Camera Obscura, Saint Luke's, Glasgow:

01: Let's get out of this country
02: Do it again
03: Teenager
04: Tears for affairs
05: Swans
06: Desire lines
07: The sweetest thing
08: This is love (feels alright)
09: Forests and sands
10: James
11: French Navy
12: Come back Margaret
13: Troublemaker
14: Lloyd, I'm ready to be heartbroken
15: If looks could kill

16: Cri du coeur (Z)
17: Honey in the sun (Z)
18: Razzle dazzle Rose (Z)




 

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