Freitag, 15. März 2013

Tocotronic, Stuttgart, 12.03.13


Konzert: Tocotronic
Vorband: It's A Musical
Ort: LKA Longhorn
Zuschauer: 1.400 
Datum: 12.03.2013 
Dauer: Tocotronic 110 Minuten / It's A Musical 31 Minuten 


von Jens aus Stuttgart


Lachend hält Dirk von Lowtzow Daphne, das neue Plüschmaskotchen der Band, vor das Mikrophon. Kuscheltiere haben bei Tocotronic Tradition. Eine Konstante, die sich durch nunmehr zwanzig Jahre Bandgeschichte gezogen hat. So mussten sie sich bereits Mitte der 90er süffisante Fragen zu ihren Bandmaskotchen in Bernd Begemanns damaliger NDR-Fernsehsendung „Bernd im Bademantel“ gefallen lassen.  Schon damals hielt von Lowtzow eine Ente in die Luft – und auch Daphne ist fraglos ein entenähnliches Wesen. Niedlich, keine Frage. Als der Frontmann einen Knopf drückt beginnt es seltsame Töne auszustoßen. Noch niedlicher. „Karl-Heinz Stockhausen, meine Damen und Herren“, sagt der 41-jährige Sänger und sein Lachen breitet sich aus. 


Tocotronic waren schon immer eine prätentiöse Band, das aber auf eine äußerst sympathische Art. Im LKA Longhorn im Industriegebiet Stuttgart-Wangens müssen von Lowtzow, Jan Müller (Bass), Arne (Zank) und Rick McPhail (Lead-Gitarre, Orgel, Harmonien) noch nicht einmal die Bühne betreten, um diesen Ausnahmestatus in der deutschen Bandlandschaft zu verteidigen. Es reicht ein wenig Stockhausen vom Band, um einsehen zu müssen, ja, diese Band hält sich für intellektuell, sie hält sich für avantgardistisch, aber all das immer mit einem Augenzwinkern versehen. Zur elektronischen Soundcollage von „Gesang der Jünglinge“ aus den 1950ern sieht man, wie sich Irritation in Teilen des Publikums ausbreitet. Ein fantastischer Moment, der mit der Erwähnung Stockhausens im Maskottchen-Kontext noch an Klasse gewinnt.


Als die Band schließlich die Treppe zur Bühne hinabgestiegen kommt, bricht tosender Applaus aus, der große Auftritt gelingt. Dirk von Lowtzow, – wie so oft – im rosa Hemd, die Ärmel bis zu den Ellbogen aufgerollt, hat gute Laune und begrüßt Stuttgart frenetisch, während sich die übrigen Bandmitglieder positionieren. 

„Wie wir leben wollen“, das neue, eher durchwachsen rezipierte aktuelle Album der erfolgreichsten Band der Hamburger Schule, mochte mir bisher auch nicht wirklich gefallen, wobei ich dem fast 80-minütigen Opus auch etwas Reifezeit zugestehe, sodass ich gespannt war, wie mir die neuen Songs wohl live zusagen werden. 


Wenig verwunderlich beginnt der Auftritt mit dem Opener des neuen Werks. „Im Keller“, das mit seiner ungezwungen Selbstironie und dem ungewohnten Popappeal, beim ersten Hören bereits keinen schlechten Eindruck hinterließ. Mit sonorer Stimme gibt es herrliche Zeilen zu hören, die nur auf dem ersten Blick naiv wirken können: „Hey hey hey, ich bin jetzt alt / Hey hey hey, bald bin ich kalt / Im Keller wartet schon der Lohn.“ Während „Eure Liebe tötet mich“, der erste Track des letzten Albums „Schall und Wahn“ noch in seiner Soundästhetik an Neil Young & Crazy Horse erinnerte, ist es an dieser Stelle der Text, der an den großen, alten Mann aus den kanadischen Bergen erinnert. „Hey, hey, my, my“ und so weiter, „It's better to burn out than to fade away“, bei Tocotronic heißt es dann, „Hey hey hey, ich hab mich nie bemüht / Hey hey hey, jetzt bin ich verblüht“. Das ist dann gar nicht einmal sonderlich subtil – dafür aber schön. Live passt es umso besser, auch wenn von Lowtzow bei den hohen Tönen seine Schwierigkeiten hat. Die Probleme bleiben auch beim zweiten Song des Abends, „Ich will nüchtern für dich bleiben“. Eine mediokre Nummer, bei der allerdings immer wieder der Lowtzow'sche Zynismus aublitzt, während im Hintergrund das „Straight-Edge-X“ über die Leinwand flackert. 


Dass man bei bei Tocotronic-Konzerten keine gesanglichen Großleistungen zu erwarten hat, ist hinreichend bekannt, und fällt auch nicht störend ins Gewicht. Erst recht nicht, wenn man den Gesang in der Gegenwart mit jenem auf „Digital ist besser“, anno 1993, vergleicht. Besonders deutlich wird das bei „Meine Freundin und ihr Freund“, der ersten Single, ein echter Klassiker, die Freude ist deutlich zu spüren. Meine Lieblingszeilen des Songkanons gröhle ich beglückt mit: "Und im Leben geht's oft her wie in einem Film von Rhomer. / Und um das alles zu begreifen / wird man was man furchtbar hasst, nämlich Cineast, / zum Kenner dieser fürchterlichen Streifen.“ 


Im vorderen Bereich wird wild gepogt, Fäuste werden gereckt, während Rick McPhail Orgel spielt. Was wäre diese Band heute nur ohne diesen großartigen Richard Arthur McPhail, der seit Mitte der 00er Jahre offizielles Bandmitglied ist. Der Amerikaner ist fraglos der musikalische Großmeister der Band, dem man zutrauen könnte, ganz alleine für den großen musikalischen Wandel seit „Pure Vernunft darf niemals siegen“ von 2005 verantwortlich zu sein. Ich bin sicherlich nicht der einzige, der sich vorstellen kann, dass McPhail alle Instrumentalparts der „Berliner Trilogie“ und des aktuellen Albums selbst eingespielt hat. Aber Verschwörungstheorien sind in diesem Kontext vollkommen unnötig. Danach gibt es „Vulgäre Verse“, das genauso prätentiös und langweilig ist, wie der Titel vermuten lässt. Dirk von Lowtzow spielt akustische Gitarre und ich frage mich, ob er Song in seinem operettenhaften Klang nicht besser in das Nebenprojekt Phantom/Ghost gepasst hätte, jenem Duo aus von Lowtzow und Thies Myther von Superpunk. 

„This Boy is Tocotronic“ erhöht wieder die Stimmung und legt nahe, dass mehr alte Songs, dem Konzert gut tun würden. Am Ende sind elf von 20 gespielten Songs vom aktuellen Album, die meisten davon funktionieren live leider überhaupt nicht wie auch „Warte auf mich auf dem Grund des Swimmingpools“, „Abschaffen“ oder „Wie wir leben wollen“, das es als letzten Song des ersten Zugabenblocks gibt. „Die Revolte ist in mir“ hinterlässt einen weit besseren Eindruck. Ein vorantreibender Rocker, der unter anderem bei Morrissey abkupfert und sicherlich die Gedanken einiger alter Weggefährten aus der Anfangsphase der Band ausdrückt: „Erfolgreiche Freunde / Geißel der Menschheit / Erfolgreiche Freunde / Pest der Existenz“. Auch die Single „Auf den Pfad der Dämmerung“ funktioniert einigermaßen. Zumindest langweilt sie nicht unnötig.  

Höhepunkt des regulären Sets werden so folgerichtig ältere Songs aus der „Berliner Trilogie“. „Sag alles ab“, das bedauerlicherweise das einzige Stück vom Überalbum „Kapitulation“ bleiben sollte und „Aber hier leben, nein danke“ glänzen direkt hinter einander in ihrer ganzen Qualität. Tocotronic waren schon immer höchst politisch, was sich heute Abend bereits im „Pro Asyl“ - Imagefilm zeigt, den es bereits vor dem Intro zu sehen gab. „Aber hier leben, nein Danke“ wird wieder als Kampfsong gegen „alles Reaktionäre“ angekündigt. Linke Fäuste werden gereckt. Es ist das gleiche Feindbild, das auch in „Freiburg“ besungen wird, wie mir scheint. Auch der Klassiker, den es erst in den Zugaben gibt, ist eine wütende Ode gegen Reaktionärismus – und aktuell wie eh und je. 

Jan Müller post in altbekannter Manier im blauen Fred-Perry-Poloshirt, während McPhail unfassbar filigrane Gitarrenarbeit leistet und Harmonien singt, wie sie einst der Band gelangen, die sein T-Shirt schmückt: Crosby, Stills, Nash & Young. Von Lowtzow stümpert mit eleganten Verrenkungen an seinen tot chicen E-Gitarren umher, stampft mit Doc Martens – Boots auf den Boden. Die Wut ist echt. Arne Zank trommelt sich die Seele aus dem Leib, das buntkarierte Hemd ist schon früh Schweiß durchdrängt. 

Zu „Exil“ werden Ella Blixt und Robert Kretzschmar auf die Bühne gebeten, die als Electro-Pop-Duo It's A Musical im Vorprogramm in einer halben Stunde eine fähige Show abzogen, die angesichts der Musik des Hauptacts jedoch ein wenig deplatziert wirkte. Blixt erwähnte, dass der erste Stuttgart-Auftritt des deutsch-schwedischen Projekts letztes Jahr als Support von The Whitest Boy Alive stattfand, was mit Sicherheit besser passte und vermutlich nicht von störenden Publikumsverhalten erschwert wurde. 

Überhaupt ist das Publikum heute Abend anstrengend. Prolls, die in jeder Pause zwischen zwei Liedern „Hi, Freaks“ fordern und diesen großartigen Song, dann leider auch tatsächlich bekommen. Es sind dieselben, die sich während des It's A Musical Auftritts schlecht benahmen. Ein Steve van Zandt Lookalike von Anfang 30, barfuß, und mit Piratenkopftuch verhält sich besonders aggressiv und hüllt sich dabei in großes Fantum. Es gibt es sie tatsächlich, jene Tocotronic-Ultras, die auf Konzerten nerven. 

Aber so ist das eben. Als Zugaben gibt es neben dem erwähnten „Freiburg“ den Klassiker „Ich bin viel zu lange mit euch gegangen“ und das enttäuschende „Wie wir leben wollen“. 

Als die Band zum zweiten Mal zurückkehrt folgt „17“, „ein Song über den Tod“. Der zehnminütige Song ist der einzige, den es vom fantastischen Album „K.O.O.K“ heute Abend gibt. Die lange Nummer wird zur großen Rick McPhail – Show, während sich der Rest der Band verausgabt. Hier ist sie wieder, die intensive Kraft, die live in Deutschland kaum eine Band zustande bringt. Darf ich vorstellen, Neil Young & Crazy Horse.

Setlist Tocotronic, LKA Longhorn, Stuttgart: 

01. Intro (Gesang der Jünglinge) 
02. Im Keller 
03. Ich will für dich nüchtern bleiben 
04. Meine Freundin und ihr Freund 
05. Vulgäre Verse 
06. This Boy Is Tocotronic 
07. Sag alles ab 
08. Aber hier leben, nein danke 
09. Warte auf mich auf dem Grund des Swimmingpools 
10. Abschaffen 
11. Alles wird in Flammen stehen 
12. Auf dem Pfad der Dämmerung 
13. Die Revolte ist in mir 
14. Exil 
15. Jackpot 
16. Hi, Freaks 
17. Warm und grau 

18. Freiburg (Z) 
19. Ich bin viel zu lange, mit euch mitgegangen (Z) 
20. Wie wir leben wollen (Z) 
21. 17 (Z) 

Links:

- aus unserem Archiv
- Tocotronic, Wien, 29.03.10
- Tocotronic, Köln, 04.03.10
- Tocotronic, Köln, 07.06.08
- Tocotronic, Hohenfelden, 17.08.07


 

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