Konzert: Die Nerven
Ort: Keller Klub, Stuttgart
Datum: 06.09.2013
Dauer: 32 Minuten
Zuschauer: vllt. 100
Noise-Punk kann Spaß machen. Sogar den Protagonisten. Den Nerven aus Esslingen ist es gelungen, großer Haltung große Klasse folgen zu lassen. Nachdem schon der Auftritt beim Klinke24 Eröffnungskonzert Anfang August endlich große Worte rechtfertigte, erspielt sich das Trio mit einem halbstündigen, rotzigen Set inmitten einer fröhlichen Indie-Disco im Keller Klub am Rotebühlplatz meine volle Sympathie.
Vorbei sind die Zeiten, in denen Publikum und Mischer mit arroganter Miene und Herablassung konfrontiert werden. Max Rieger bedankt sich - ein Paradigmenwechsel: „Nichts Neues“ wird gespielt und jede Menge neuer Titel. „Mir ist langweilig“, die Schonungslosigkeit der Zeitgeistkritik verstört immer wieder, „Facebook hab' ich schon gecheckt / Nichts neues“. Kevin Kuhn, dessen Drumset von einer Hommage an das Tier aus der Muppet-Show geziert wird, treibt mit seinem stumpfen Beat das Mantra auf die Spitze, die Nerven sind der spannendste Stuttgarter Liveact dieser Tage.
Um 00.45 Uhr stehen Rieger (Gitarre und Gesang), Kuhn (Schlagzeug) und Julian Knoth (Bass und Gesang) - im Shirt der befreundeten Band Die Selektion - vor der tanzende Menge im Club.
Es ist FluxFriday, junge Hipstermädchen tanzen zu verträumten Indiepophits, dann folgt Noiserock, anfänglich Interesse, später Verstörung, schließlich Ekstase in jugendlichen Gesichtern. „Ich bin mit Satan, George Michael und 666 andern hier“, singt Rieger, erschütternde Schreie folgen, kompromissloser Punk unterstreicht jede einzelne Zeile. Die Nerven sind für die hedonistische Facebook-Generation so etwas wie die frühen Tocotronic für die MTV-Kids der mittleren 90ern waren: Projektionsfläche, Befreiung und Gegenmodell in einem.
Man kann die junge Band sicher für ziemliche Poser halten, ihnen den Nihilismus nicht abnehmen, dabei ist die Authentizitätsfrage gänzlich nebensächlich, solange der zynische Gruß an polierte Hochglanzpopper wie Cro in Plüschform auf der Bühne steht und man selbst atemberaubende Liveshows spielt. Dass Tocotronic-Mitglieder selbst Fans sind, liegt Nahe, Auftritte mit Turbostaat stehen an. Nach wenigen Songs haben Die Nerven das Publikum in der Hand. „So wie damals im Westen suchen wir nach Gold / So wie damals im Westen suchen wir nach Glück!“ Es sind Slogans wie diese, schonungslos und schön zugleich, die der große Trumpf der Gruppe sind. Immer wieder werden Zeilen wiederholt - „So wie damals die Kommunisten“ -, um den Welthass im zynisch gerotztem „Gib mir doch dein Geld" enden zu lassen.
Mit den kontrovers besprochenen Werken „Asoziale Medien“ und „Fluidum“ (beide 2012) haben sich die wütenden, jungen Männer in die Redaktionen von Musikzeitschriften wie große Feuilletons gespielt. Der Ruhm ist gerechtfertigt und wirkt ungewollt konsequent.
Mehrere neue Songs werden der nun pogenden Meute im Keller Klub präsentiert, es riecht nach Bier, man wandelt über Scherben, während „Irgendwann geht’s zurück“ mit kühlen Versen, Pavement-haften Riffs Emotionen raubt. „Und was war eigentlich nochmal gestern / Und was wird morgen sein? / Mir egal wohin du gehst / Dir egal wohin du gehst“, Rieger und Knoth toben, wechseln immer wieder den Leadgesang.
Der Rolling Stone versah Die Nerven vor nicht allzu langer Zeit mit dem Etikett der spannenden Liveband und liegt goldrichtig. 10 Songs in 32 Minuten, darunter schmutzige Juwelen wie "Der Letzte Tanzende", sind die Bilanz des Abends.
Am Ende bin nicht nur ich erschöpft, verschwitzt, mit Bier begossen und mir sicher eine der großartigsten Noise-Bands dieser Zeit gesehen zu haben.
Max Rieger dankt, dann ist Schluss, Lächeln in vielen Gesichtern, fröhliche Indiegitarren vom Plattenteller setzen ein - die Disco geht weiter, dabei fühlt man sich nach dem Konzert eher wie Morrissey in "Panic!".
Am Freitag spielen Die Nerven zu später Stunde in den Waggons unweit der Wagenhallen, wo ich vorher Cocorosie sehen werde, es muss schon vieles geschehen, dass ich mir die Esslinger in der passendsten Location der Stadt – kurz vor deren Schließung – entgehen lasse.
Setlist Die Nerven, Stuttgart:
01: Nichts neues
02: Im Westen
03: George Michael
04: Eine Minute schweben (NEU)
05: Irgendwann geht’s zurück
06: Hörst du mir zu? (NEU)
07: Die Bösen
08: Für Jahre
09: Der letzte Tanzende
10: Angst (NEU)
Links:
- aus unserem Archiv:
- Die Nerven in Stuttgart, 01.08.2013
*Fotos wurden freundlicherweise von Fabian vom großartigen Blog Gefuehlsbetont bereit gestellt.
2 Kommentare :
01: Nichts neues
02: Im Westen
03: George Michael
04: Eine Minute schweben(NEU)
05: Irgendwann geht’s zurück
06: Hörst du mir zu? (NEU)
07: Die Bösen
08: Für Jahre
09: Der letzte Tanzende
10: Angst (NEU)
Merci!
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