Dienstag, 13. August 2013

Haldern Pop Festival, erster Festivaltag, Rees-Haldern 08.09.13



Konzert: erster Tag des Haldern Pop Festivals
Ort: alter Reitplatz Haldern, Spiegeltent, Beergarden Stage
Datum: 08.09.2013



Es ist schon ein ziemlich krasser Gegensatz, wenn man aus der hektischen Metropole Paris ins beschauliche Haldern am Niederrhein kommt. Statt die überfüllte U-Bahn zu nehmen, fahren die Leute hier Fahrrad, selbst wenn einige dabei aussehen, wie der vielzitierte Affe auf dem Schleifstein. In Eile scheinen sie hierbei nicht zu sein, manche kriechen in Zeitlupentempo voran. "Wer langsam fährt kommt sicher ans Ziel" mag wohl ihr Leitspruch sein. Entschleunigung ist Trumpf, selbst bei denjenigen, die diesen neumodischen Begriff noch nie gehört haben. Hier am Niederrhein wirkt es in Bilderbuchstädtchen wie Xanten, als sei die Zeit stehen geblieben und noch Helmut Kohl Bundeskanzler. Die Rentner (die gerade von ihrer Fahrradtour kommen) frequentieren die Strassencafés in der blitzsauberen Altstadt und essen Eis, als würden 40 Grad im Schatten herrschen. Modisch dominieren nach wie vor weisse Tennissocken in Sandalen, dieser Klassiker ist einfach unverwüstbar. Junge, trendige Leute sieht man kaum, die sind wohl alle nach Köln, Düsseldorf oder gleich nach Berlin gezogen. Oder sie sind gerade beim Haldern Pop Festival! 


Das feiert nämlich gerade seine 30. Ausgabe und war auch schon wieder Monate im Voraus komplett ausverkauft. Es liegt auf einem dieser malerischen Maisfelder, von denen es so viele in der landschaftlich herrlichen Region gibt. Wenn man in Haldern mit dem Auto (nun ich konnte ja schlecht die Anreise über die Autobahn mit dem Fahrrad antreten!) über die Gleise fährt, erreicht man es, indem man die kleine Stadt Haldern passiert, an der inzwischen auch für das Festival genutzten Haldern Pop Bar vorbeifährt (oder am Donnerstag gleich da bleibt, um sich dort ein intimes Konzert anzusehen), auch die Kirche hinter sich lässt (oder ebenfalls gleich da bleibt... klar, um Konzerte zu sehen!), dann ein Stück Landstrasse entlangfährt, bevor man links in die Felder einbiegt. Gleich rechts steht ein kleiner weisser Kiosk, der die Profis (wir Blogger nehmen uns wichtig, wir haben ja sonst nichts zu Lachen im Leben) mit den wichtigen grünen oder goldenen Vip- Presse, oder Artist Bändchen ausstattet. Ging auch in diesem Jahr wieder schnell, höflich und problemlos. Jetzt braucht nur noch meine Frau (ihr blaues) Bändchen, welches das Fussvolk um das Handgelenk gekettet bekommt. Bei ihr dauert es auch nur fünf bis zehn Minuten, wer meckert, diese Prozedur würde zu lange dauern, ist ein Miesepeter. 


Nein, kein Grund zur Klage und auch die Menschen hier auf der Anlage sind nett und herzlich. Grosstädtische Arroganz ist dem Publikum (darunter viele sehr blonde und sehr hübsche Mädels) bei diesem Familienfestival fremd. Allerdings muss ich gestehen, dass es auch hier, wie in der gesamten Bundesrepunlik anscheind normal ist, jemanden anzurempeln und sich nicht dafür zu entschuldigen. In Paris bin ich es gewöhnt, dass sich Leute für die kleinste Berührung gleich mehrfach entschuldigen ("pardon pardon pardon") Der Niederrheiner ist in dieser Hinsicht leider nicht besser als der deutsche Durchschnitt. 



Amüsanterweise heisst das Motto der diesjährigen Jubiläumsausgabe dann auch: "Be true, not better." "True", also wahrhaftig und authentisch sind sie sicherlich die Leute und die Macher des Festivals. Die Programmgestaltung bleibt nach wie vor handverlesen, individuell und geschmackssicher. Man lässt sich weder von überhippen Events wie dem Pitchfork (oder dem Berlin Festival?) beeinflussen, noch will man zu einem grossen Massenfestival (etwa durch Ankauf der Nachbaräcker) mit mainstreamigen Ekelheadlinern wie Muse oder den Toten Hosen werden. Nein, Haldern bleibt seinen Grundsätzen treu und das ist auch gut so. 


Auch an dem heissgeliebten Spiegelzelt wird festgehalten, obwohl das ein paar Leute erzürnt, weil man so lange anstehen muss, um reinzukommen und weil es drinnen manchmal so heiss ist wie in einem Pumakäfig. Aber auch da hat man in den letzten Jahren Abhilfe geschaffen. Die Beergarden Stage gleich neben dem Zelt hat sich am Donnerstag bewährt und durch das Stattfinden von Konzerten in der Kirche und in der Haldern Pop Bar am ersten Festivaltag wurde das Gedränge vor dem Tent etwas weniger. Zu This Is The Kit, die als Erste mit ihrer Band um 17 Uhr 30 in der runden Konzertlocation spielt, kommt jeder relativ zügig rein. Ich selbst freilich mit mindestens 25 Minuten Verspätung, weil es auf der Autobahn gleich nach Köln einen üblen Stau gab (und auch weil Autos in der Nähe von Haldern einen Traktor nicht überholen wollten und konnten, so viel zum Thema Entschleunigung). Meine Verspätung ärgert mich in diesem Fall besonders, weil ich die Engländerin Kate Stables, die hinter dem Projektnamen This Is The Kit steckt, aus Paris her gut kenne. Sie und ihr in ihrer Band spielender Ehemann Jesse D Vernon (sein Soloprojekt heisst Morningstar) sind fast richtige Freunde geworden, obwohl man in der schnellebigen, nomadenhaften Konzertgängerszene aus Zeitgründen meistens nur gute Bekanntschaften pflegt. 


Und Rozi Plain, die heute bei This Is The Kit den Bass zupft, kenne ich auch ziemlich gut. Sie ist eine tolle Solokünstlerin mit zwei feinen Alben, wohnt aber im Gegensatz zu Kate und Jesse nicht in Paris, sondern im englischen Bristol, wo auch der heutige Drummer Jamie lebt. "Paris und Bristol" müsste man also als Herkunftsort für This Is The Kit ins Programmheft schreiben. 

Das Quartett spielt ein wirklich bildhübsches Set, das viel druckvoller und facettenreicher klingt, als ich es gewohnt bin. This Is The Kit habe ich unzählige Mal live gesehen, aber oft bestritt Kate das Programm auch ganz alleine und reduziert an ihrer grünen E-Gitarre und auch am Banjo. Heute sorgt vor allem der Drummer für einen ordentlichen Wumms und Jesse spielt herzerweichend Geige, manchmal auch zweite Gitarre. Im Vordergrund aber wie immer, die aussergewöhnlich liebliche und naturreine Stimme von Kate. Sie übermittelt eine ganz spezielle Form der Güte, der Aufrichtigkeit und Warmherzigkeit. Natürlichere und liebere Menschen als Kate und ihre Freunde kann ich mir kaum vorstellen. Entsprechend liebevoll und ungekünstelt klingt dann auch ihre Folk/Kammerpopmusik. 

Performt werden überwiegend Stücke vom zweiten tollen Album Wriggle Out The Restless, aber auch Neulinge, die auf ein drittes Werk drauf kommen werden. Da das The National Label Brassland Records This Is The Kit beherbergt, kann man sich der Mitarbeit der Dessner Brüder und der vollen Unterstützung der Sensations Band aus Brooklyn (bzw Ohio) gewiss sein und auch auf einen längst verdienten Karriereschub hoffen. 

Der Auftritt beim diesjährigen Haldern wird mit Sicherheit dazu beitragen, This Is The Kit bekannter und erfolgreicher zu machen. Allein der traumhafte Song Spinney, der an vorletzter Stelle kam, machte die Verpflichtung der vier Engländer lohnenswert. Er brillierte mit allen Stärken dieser Truppe, war herrlich melodisch, innig und sanft. Ganz ganz gross eben. 


Hinterher treffe ich Kate, Jesse, Rozie und Jame noch Backstage. Wir plauschen entspannt, schiessen noch ein paar Erinnerungsfotos vor den gemütlichen Wohnwagen, in denen die Künstler untergebracht sind, werden aber jäh getrennt, weil ein andere Fotograf die Band draussen ablichten will. 


Die vier Briten möchten übrigens zum Konzert von Jehrek Bischoff in der Kirche, das schon angefangen hat und schaffen es auch noch zumindest drei Lieder mitzuerleben. Ich selbt bin zu unentschlossen und bleibe mit meiner Frau auf dem Gelände, wo gerade Mikal Cronin auf der Leinwand läuft. Das Ganze ist musikalisch etwas belanglos und gibt uns die Möglichkeit, uns zu stärken. Herrlich politisch inkorrekt gibt es hier einen Essensstand, auf dem ein ganzes Schwein vor den Augen der Leute gegrillt wird. Den Vegetariern im Publikum zieht sich bei diesem Anblick wahrscheinlich der Magen zusammen, uns aber lockt diese Köstlichkeit. Auch wenn die Speise dann nicht ganz so gut mundet, wie sie aussieht, sind wir halbwegs satt und haben eine relativ gute Grundlage, um ein paar Bier zu trinken. Der Hopfensaft stammt hier in Haldern von König Pils und ist bitterer als das Leben. Franzosen würden ein solch herbes Zeug nie trinken, die Leute hier scheint das aber nicht weiter zu stören. Wenn ich mal meckenr darf: ich hätte lieber wieder ein schönes Diebels Alt, das ist doch viel besser. 

Mit zwei Bier im Magen sehen wir dann, nachdem wir uns den nicht üblen Florian Ostertag auf der Leinwand angeguckt haben, die wilden Schotten We Were Promised Jetpacks

Deren Ungestümtheit und jugendlichen Überschwang kannte ich schon von einem Pariser Clubkonzert her, dass es so chaotisch und aufgepeitscht werden würde, hatte ich allerdings nicht gedacht. Schon beim zweiten Lied, der Hitsingle Quiet Little Voices wird wild Pogo getanzt. Irgendwann ist das schon fast nicht mehr lustig, denn mit über vierzig und seiner geliebten Kamera in der Hand fliegt man halt eben nicht mehr so gerne von links nach rechts. Zusammen mit meiner Frau begeben wir uns an die Seite und überlassen den jungen Rabauken das Tanzen. 



Die Schotten mit dem fülligen und hochdynamischen Sänger auf der Bühne nehmen etwa 45 Minuten lang den Fuß nicht einmal vom Gaspedal. Rotzig frech, hymnisch und melodiös schmettern sie ihren brachialen Indierock und sorgen für eine sensationelle Stimmung. Die sympathischen Raubeine haben neben Quiet Little Voices noch andere Hits auf Lager und so gibt es wenig Hänger und Längen im Set. 


Am Ende des Konzerts geht die Sonne langsam unter und erfreut uns mit den schönsten Farben. Sie schimmert gelb, rosa und violett und die jubelnden Hände der Festivalbesucher zeichnen sich wunderbar vor diesem Farbenmeer ab. Das sind Momente, die man geniessen muss. Das ist Glück. Wenn alles passt so wie hier. Fetzige Musik, fröhliche feiernde Menschen und ein Himmel, der zu jubilieren scheint. Dabei herrschte im Vorfeld wieder grosse Sorge um das unberechenbare Wetter. Von heftigen Regengüssen, Stürmen, kühlen Temperaturen war die Rede, aber als es dann am Donnerstag losging, war das alles nur Schwarzmalerei. 


Stellt sich hinterher eigentlich nur noch die Frage, wer denn jetzt die beste der drei jungen schottischen Bands auf dem Ausnahmelabel Fatcat Records (Sigur Ros, Mice Parade, Animal Collective, Nina Nastasia...) ist. Die düsteren The Twilight Sad, die stadionlastigen Frightened Rabbits (die ebenfalls schon einmal beim Haldern am Start waren), oder eben We Were Promised Jetpacks? Ich mag alle drei, muss das aber zum Glück auch nicht am heutigen Tage entscheiden. 

Auch wenn ich mir nun ansehen will, muss ich nicht entscheiden, denn Julia Holter tritt um 21 Uhr 30 konkurrenzlos im Zelt auf. Klar, dass da die Schlangen vor der Tür richtig lang sind und einige sicherlich das Spiegeltent verfluchen. Ich geniesse allerdings das Privileg, an den Menschenmassen vorbei problemos von der Seite reinzukommen und mich schnell nach vorne durcharbeiten zu können. Es ist knackig voll hier, die Plätze auf den Bänken sind ohnehin immer schnell weg, aber auch wer im inneren Kreis das Ganze erleben will, darf sich glücklich schätzen. Verwöhnt werden wir Musikfans von feinstem Kammerpopfolk, den der Rolling Stone als die modernste Folkmusik unserer Zeit beschrieben hat. Die elektronische Komponente, auf die man in den Studioalben trifft, ist in der heutigen Livevariante allerdings stark zurückgedrängt, es klingt alles weniger experimentell verhuscht und auch organischer. Die wundervolle Stimme von Julia steht sowiesso über den Dingen und auch das Buntfaltenkleid der mysteriösen Kalifornierin ist klassisch elgant und geschmackvoll wie die Künstlerin selbst. 


Holter wird untertstüzt von vier männlichen Begleitmusikern an Geige, Cello, Saxophon und Schlagzeug, die einen wunderbar warmen und stimulierenden Sound kredenzen. Ich bin nicht nur von der klasse Frau, die mich optisch an die junge PJ Havey (allerdings in hübscher) erinnert, sondern auch von der Musikerin Julia Holter begeistert. Sie tritt so dezent, unpratentiös und dennoch so charismatisch auf, dass man wirklich nur angetan sein kann. Und hinter der scheuen Lady scheint eine kesse Persönlichkeit zu stecken. Als ein Fan nach einem Song "Julia Holter" rief, guckte sie nur ganz cool und meinte: "ja, das bin ich." 


Verdammt schade, dass man nach dem absolut gelungenen Gig (den meine wenig musikbegeisterte Frau allerdings nur passabel fand) noch nicht ihre dritte CD bzw. LP erwerben konnte. Sie erscheint erst in zwei Wochen, so dass sich das Publikum mit dem Erwerb der ersten beiden als teilweise sperrig bezeichneten Alben zufrieden geben musste. Auf diesen setzt sie auch einen Stimmverzerrer, einen Vocoder, ein, den sie beim Haldern Liveauftritt nicht benutzte. Erstaunlich, dass sie ihre komplizierte und unkonventionelle Musik auf der Bühne so gut rüberbringen kann. Schon jetzt scheint klar, dass der Aufstieg der Julia Holter gerade erst begonnen hat. Die spielt bald in grösseren Venues, dessen bin ich mir sicher. 


Nach Holter performen dann die Kanadier Suuns auf der Beergarden Stage. Der Sound ist laut, psychedelisch, experimentell. Meine Frau sagt sofort: "Was ist das denn für ein Kram, das klingt ja komisch?!" Sie ist kein grosser Musikspezialist, mag lieber eingängigere Sachen und pachtet für sich die Ehrlichkeit von Laien. Die sagen einfach geradeheraus, ob ihnen was gefällt oder nicht. Der genaue Gegensatz zu Musikkritikern, die alles mehrfach abwägen und im Zweifel komplizierte und sperrige Musik für das Non plus ultra halten. Ich selbt habe angesichts der späten Stunde auch so meine Probleme mich zu konzentrieren und tue mich auch damit schwer, von Julia Holters Klängen sofort auf den Sound von Suuns umzuschwenken. Kurzum, ich komme nicht richtig rein in dieses Konzert, obwohl ich Suuns deutlich mehr abgewinnen kann als meine Frau. Die Arrangements sind interressant und clever gemacht, das Wechselspiel zwischen laut und leise spannend, die erschaffene Atmosphäre kann rauschhaft wirken. So sieht man dann auch einige Zuschauer wie in Trance, völlig in der Musik aufgehend. Diesen Zustand erreiche ich heute leider nicht mehr. Ich gebe schliesslich auch dem Quangeln meiner Frau nach (immer diese wehleidigen Weiber!), die ins Hotel (fürs Zelten sind wir zu alt oder zu verweichlicht, wie auch immer) will und muss deshalb den Auftritt des ehemaligen Czars Sängers John Grant knicken. Der schwermütige Musiker, der eine ganze Weile in Deutschland gelebt und auch mit den famosen Midlake zusammengearbietet hat, dürfte den Besuchern sicherlich ein feines und berührendes Konzert geboten haben. Nach ihm spielt im übrigen noch Gold Panda auf der Beergarden Stage. Da waren wir allerdings schon längst im Hotel in Xanten, wo ich das erste Album von Julia Holter auf dem hauseigenen Ghettoblaster laufen liess. Ein schöner Ausklang dieses ersten Haldern Tages. Die Umstellung von der Hektik der Grosstadt auf die Besinnlichkeit des Niederheins war mir gut gelungen. Ich lechzte nach mehr, ging aber erst einmal pennen.


Foto Suuns: Archiv (Phono Pop Festival)



1 Kommentare :

Dirk Langen hat gesagt…

Ich fand das Suuns und Grant den alten Auftritten beim Haldern nichts neues, besseres hinzufügen konnten. Suuns damals im Zelt und Grant auf der Bühne mit Streichern war beides bewegender als dieses Jahr. Ob das Haldern einen Act wie Gold Panda braucht weiss ich auch nicht, zumindest dort der Sound top und man konnte sich von der hüftsteifen Moll-Musik erholen und einfach mal tanzen....

 

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