Montag, 17. Dezember 2012

ATP curated by The National, Camber Sands, 07. bis 09.12.12


Festival: ATP Festival curated by The National
Ort: Camber Sands, Südengland
Datum: 07. bis 09.12.2012
Zuschauer: perfekte Festivalgröße, mit wohl etwas über 3000 Leuten ausverkauft


von Claudia aus Stuttgart


Als Belle & Sebastian vor zwei Jahren ihr zweites Bowlie veranstalten durften, bin ich zum ersten Mal über den Londoner Veranstalter „All Tomorrow’s Parties“ kurz ATP gestolpert. ATP lädt seit vielen Jahren Musiker/Bands ein als Kuratoren ihrer kleinen feinen Festivals zu fungieren. Die beauftragten Künstler haben dabei wohl ziemlich freie Hand und es scheint eine gewisse Ehre zu sein, dies zu tun. Leider konnte ich für Belle & Sebastian keine ähnlich von der Band und auch der Idee begeisterten Mitstreiter finden. Als dann im Januar dieses Jahres bekannt gegeben wurde, dass The National im Dezember ein ATP-Festival betreuen würden, stand der winterliche Englandtrip zusammen mit zwei Freundinnen dann aber umgehend fest. Aufgrund vertraglicher Probleme mit dem ursprünglich geplanten Veranstaltungsort in Somerset an der Westküste wurde das Festival im Sommer in das deutlich kleinere Seaside Resort Pontins in Camber Sands an die Südküste verlegt. Glück für uns: Camber ist nur etwa zwei Stunden von London Heathrow entfernt. Kleiner bedeutete weniger als 3000 Gäste und damit noch ein bisschen familiärer. Das Festivalticket beinhaltete 3 Tage Musik und 3 Nächte im Resort. Tagestickets oder Tickets ohne Übernachtung gab es nicht. Das ganze fühlte sich ein bisschen an wie die Sommerfreizeit mit 16 und mit The National als Ferienbetreuer.

The National: Die Kuratoren der Veranstaltung sind natürlich so immens wichtig, dass sie ihren eigenen Bericht kriegen.

Das Lineup: Es liest sich fast wie das „Who is who“ der weltweiten Indieszene mit Schwerpunkt Brooklyn, gespickt mit etwas (moderner) Klassik (Nico Muhly, The Kronos Quartet, Hauschka) und hochgeschätzten Pionieren (Michael Rother, Boris). Als Freundin des Folkrock und gerne auch der ruhigeren Töne, nicht zu vergessen als Hardcore-The- National-Fan gab es natürlich genügend Bands ganz nach meinem Geschmack, so dass ich dann doch nicht in die Entstehungsgeschichte der elektronischen Musik eingestiegen bin. Einige Bands kannte ich schon ganz gut (Sharon van Etten, Wye Oak) oder zumindest ein bisschen (My Brightest Diamond, Kathleen Edwards, Richard Reed Parry, This Is The Kit, Hayden), andere galt es ganz neu für mich zu entdecken (Menomena, Luluc, Bear In Heaven, Local Natives) und ein paar fielen dann auch dem Zwangsaussortieren auf einem Festival zum Opfer (The Antlers, Dark Dark Dark, Lower Dens, Owen Pallett, Deerhoof und leider noch einige mehr). Für die Musiker muss es sich wie eine Art Klassentreffen angefühlt haben: Freunde, Verwandte, Bekannte, die The National in den letzten Jahren begleitet hatten. So beklagte sich etwa Jenn Wasner (Wye Oak) darüber, dass sie ja immer noch so im Jetleg stecken würde, musste dann aber zugeben, dass sie daran natürlich selbst schuld sei, da an Schlaf bei all den netten Freunden hier, einfach nicht zu denken sei. 

Und Kathleen Edwards war ganz im Glück, dass sie nach langer Zeit Hayden mal wieder getroffen hatte, der sich in den letzten fünf Jahren ganz von der Bühne zurückgezogen hatte.

Die Stages: Die eigentliche Veranstaltung beschränkte sich auf das Hauptgebäude der in die Jahre gekommenen Ferienanlage Pontins Camber Sand scheint irgendwie für sein gutes Entertainment im Sommer berühmt zu sein und verfügt über zwei große Säle, die überwiegend schön gemütlich und versifft mit Teppichboden ausgelegt sind, feste Bars beinhalten und im großen Saal auch eine Hotdogbude; Stage 1 mit einer Kapazität für ca. 3.000 Leute und Stage 2 immerhin noch 900 Zuschauer fassend. Der Sound in Stage 1 ließ leider manchmal etwas zu wünschen übrig. Bei Stage 2 hat eigentlich immer alles hervorragend geklappt und tatsächlich kam es auch nicht einmal zu einem Engpass. Für keinen einzigen Auftritt musste man mehr als 5 Minuten vorher da sein, um sogar zumeist noch einen Platz im vorderen Drittel zu bekommen. Für weitere Unterhaltung sorgte im Hauptgebäude noch ein ziemlich abgerockter Amusement Park, der durchaus seine Freunde fand und dann noch ein gemütlicher, wenn auch leer geräumter Pub für die After-Show-Partys und ein bisschen Entspannung zwischendurch. Letztlich waren wir aber von dort aus auch in 3 Minuten in unserer (alp)traumhaften Ferienwohnung. 

Die Security: Es geht also auch anders: keine grimmigen Blicke, kein Möchtegernmachogehabe, keine Taschenkontrollen und Leibesvisitationen! Ganz entspannt und immer freundlich ging es hier zu. Nach zwei Tagen begrüßte man sich bereits fröhlich, die Eingangstüren wurden einem aufgehalten und Bonbons verschenkt. Ganz abgesehen davon gab es auch keine separaten und abgesperrten Künstlerbereiche. Genau so stelle ich mir die perfekte Festivaltmosphäre vor.


Die Chronologie meiner Musik: Gleich zu Beginn hat es mit Nico Muhly und uns nicht so richtig geklappt. Zu anstrengend für die Ohren. Den ersten richtigen Festivaleinstieg verschaffte uns der kanadische Singer/Songwriter Hayden Desser, der sich unglaublich freute nach fünf Jahren zum ersten Mal wieder auf Tour zu sein und mit ein paar neuen (das Album ist für Februar angekündigt) und ein paar alten Songs ein folkiges, rockiges und wirklich schönes erstes Set ablieferte.


Nach kurzer Pause ging es in Stage One mit ein paar sehr guten Eindrücken vom zeitgenössische Klassik spielenden New Yorker Kronos Quartet weiter, bevor wir uns wieder aufmachten, um die zweite Hälfte von Luluc anzuhören. Luluc sind ein Duo aus Melbourne, die wohl überwiegend in New York leben. Eine meiner absoluten Neuentdeckungen: großartige weibliche Stimme im sehr klassischen Songwriterstil. Im Publikum lauschte Matt Berninger, dessen Anwesenheit sich auch an den folgenden Tagen als guter Indikator im Hinblick auf meinen persönlichen Musikgeschmack erweisen sollte. 


Von den Brooklynern Bear In Heaven hatte ich irgendwie schon mal gehört, konnte ihnen aber keine Musik zuordnen. Es stellte sich als sehr stimmiger, zur Stimmung perfekt passender Synthiepop verstärkt durch ordenentlich Gitarenrums und einen sehr guten Drummer heraus, der den Freitagsausklang bilden durfte. 


Richard Reed Parry, der Multiinstrumentalist bei Arcade Fire, spielte am Samstag sein zweites von drei Sets, eine hübsche, naturverbundene Folkshow.

Auf Stage One hatten sich derweil Lower Dens aus Baltimore in fast vollkommene Dunkelheit gehüllt, auch mal eine interessante Variante des Shoegazing. Beim Lauschen von Jana Hunters Stimme und Betrachten ihrer spärlich beleuchteten Erscheinung bin ich mir ein Weile sehr unsicher, ob nicht ein sehr kleiner Mann vor uns steht. Lower Dens sind spannend, aber es ist noch etwas zu früh am Nachmittag. 


Das Highlight dieses zweiten Tages: This Is The Kit. Kate Staples und ihre Band hatten beste Laune. Ich liebe Ihre Stimme und diesen vollkommenen Wohlfühlsound. Laut Programmheft hat Aaron Dessner für das neue 2013er Album die Produzentenrolle übernommen und so ist es nicht verwunderlich, dass er für drei Lieder mit auf der Bühne erscheint. 


Die Kanadierin Kathleen Edwards sieht eigentlich ganz brav aus, vor allem, wenn sie zur Geige greift, benutzt aber in jedem zweiten Satz das F-Wort und erzählt fröhlich von ihrem Londoner Totalabsturz, bei dem sie in der Badewanne eingeschlafen ist und nach über einer Stunde von ihrem Longtimetourroomie (ihr Keyboarder) gerettet werden musste. Ein launiger, guter Auftritt zum Abschluss ihrer Voyageur-Tour 2012. 

Sharon van Etten hatte keinen optimalen Tag erwischt. Sie machte auch keinen sonderlich fröhlichen Eindruck und wirkte auch nicht besonders frisch, obwohl es sich Aaron Dessner natürlich nicht nehmen ließ seinen Schützling bei „Ask“ persönlich zu begleiten. Der Stage One Sound machte erhebliche Probleme. Tramp bleibt trotzdem eines meiner Alben des Jahres und ich warte, dass SVE sich an einem besseren Tag endlich auch mal nach Süddeutschland begibt. 

Schön sperrigen, fett instrumentalisierten Indierock gab’s dann zum Schluss den Samstags noch von Menomena aus Portland. Sehr faszinierend wie gut einer der beiden Sänger parallel zum Gesang sein Schlagzeug bedient. 

Den Sonntag eröffneten My Brightest Diamond für uns. Einfach nur wow! 

The Philistine Jr., die Band von The National Produzent Peter Kadis und seinem Bruder Tarquin sind witzig und etwas später Perfume Genius klangvoll, aber eher langweilig. 

Besonders gefreut hatte ich mich auf Wye Oak. Die rocken, machen Spaß und es ist unglaublich, zu welchen musikalischen Explosionen eine Band fähig sein kann, die nur zwei Mitglieder hat. 

Vor The National standen dann noch die Local Natives aus LA auf der großen Bühne, die perfekte Vorband: Psychfolk, Wahnsinnssdrums, tolle Neuentdeckung und wieder hat Aaron Dessner seine Finger drin. 


Das Devendorfsche D.J.-Set: Lange haben wir am ersten Abend nicht mehr durchgehalten. The National Rhythm Section bestehend aus Scott und Bryan Devendorf sollte auflegen. Ob Bryan überhaupt noch aufgetaucht ist, können wir leider nicht sagen, denn als bereits beim vierten Lied klar war, dass die prophetische Vorhersage von Depeche Mode Fan Anni, dass ihre Lieblingsband auf jeden Fall Teil eines DJ-Sets ihrer zweitliebsten Band sein würde, mit Enjoy The Silence in Erfüllung ging, konnten wir zum ersten Mal die geschotterten Matratzen testen gehen. 

Der emotionalste Moment: Shara Worden aka My Brightest Diamond widmet ihr solo vorgetragenes Lied „I Have Never Loved Someone“, das sie für Ihren Sohn geschrieben hat, den hochgeschätzten Kuratoren. Gesang, Melodie und vor allem der bestens verständliche Text legen irgendwelche bis dahin nicht gekannten Schalter in mir um und ich kann die Tränen minutenlang nicht zurückhalten. 

Die Bars: Engländer sind geduldig und trinken viel. Und auch die Künstler durften sich an der Bar anstellen. So konnte es passieren, dass Aaron Dessner plötzlich neben einem steht oder Hayden verzweifelt murmelt, dass er an einer Bar einfach immer unsichtbar sei. Wenigstens hatte er auf unsere Nachfrage hin eine werthaltige 20-Pfund-Note dabei. Während seines Auftritts hatte er nämlich voller Bedauern erzählt, dass er vor seiner Abreise noch jede Menge englisches Geld von lange zurück liegenden Touren gefunden hatte, das sich in London leider als wertlos erweisen sollte. 

Karaoke: Jeden Abend wurde der Queen Victoria Pub zur Showbühne. Eigentlich wollten wir nur ganz kurz mal reinschauen, aber ehe wir uns versahen, grölten wir mit 50 Indienerds und Hipsterchicks voller Inbrunst Bonnie Tylers Total Eclipse Of The Heart, Bob Dylans Like A Rolling Stone oder gar Stevie Wonders I Just Called To Say I Love You. Selbst die Security konnte nicht an sich halten und so konnte es auch passieren, dass wir The Antlers einfach The Antlers sein ließen und ein weiteres Pint an der Pubbar bestellten. 

The Chalets (englische Aussprache: Scheleys): Gemeinsam in kleinen sehr, sehr spartanisch ausgestatteten Apartments untergebracht zu sein, die man nicht mal seinen Kids im Feriencamp wünschen würde, verbindet ungemein. Matt Berninger (Sänger bei The National): „Mit viel Liebe haben wir hier alles für Euch vorbereitet und die Matratzen, die haben wir extra von Hand für Euch genäht und sie dann mit Schotterkies und kleinen Holzstückchen und so gefüllt.“ Wenn ich so darüber nachdenke, klingt das sogar ziemlich realistisch. Noch nie hatte ich bei einschlägigen Hotelbewertungsforen so ungemein schlechte Bewertungen gelesen. Tatsächlich konnte es von daher nur noch besser werden und immerhin war es einigermaßen sauber, die Bettwäsche war frisch (gebügelt und zum Selbstbeziehen) und in unserer Wohnung war der Stromzähler defekt, so dass wir unbeschränkt die Umgebung heizen konnten und es nach der ersten Nacht auch kuschelig warm war. Unglaublicher Weise muss der Strom nämlich unter Zuhilfenahme von an der Rezeption gekauften Wertmarken, die man in den Zähler schiebt zu je einem Pfund vorab bezahlt werden, um Licht, heißes Wasser und Heizung zu haben. Auch unser Problem nur eine Badewanne mit getrennten Wasserhähnen in kalt und kochendheiß ohne separaten Duschkopf zu haben, konnte schwesterlich gelöst werden. Haarewaschen funktionierte eben nur zu zweit, indem die zweite Person einen Topf mit angenehm temperiertem Wasser füllte und sich quasi als Duschkopf zur Verfügung stellte. „Ich komm mir vor wie im 18. Jahrhundert“! Richtig gut brachte es auch Jenn Wasner von Wye Oak auf den Punkt: „Living in those chalets … it’s like a childhood dream … gone wrong.“ Das Pontins Camber Sands Mantra: Alles besser als Zelt, alles besser als Zelt, alles besser als Zelt … 

Der Strickpulli: Der britische Hipster trägt um diese Jahreszeit einen mit vorweihnachtlichen Motiven versehenen Strickpulli. Die Modelle variieren zwischen glitzernden eingestrickten Schneeflocken, abstrakten 80er-Jahre Mustern und niedlichen Rentieren. Es bleibt nur zu hoffen, dass es dieser Trend niemals auf den Kontinent schaffen wird. Kathleen Edwards drückt sich da in einer aktuellen Twitternachricht noch etwas deutlicher aus: “Just wanted to mention that all you dudes in England sporting the 'ironic Christmas sweater' look, you look like a bunch of assholes.“ 

Das Festivalkino: Auf der gegenüberliegenden Straßenseite außerhalb des Resorts liegt die Camber Sands Memorial Hall, wohl so eine Art Gemeindesaal, in dem mit Leinwand und Beamer während der drei Tage hochwertigestes Filmmaterial gezeigt wurde, das die Kuratoren ausgesucht hatten. Die gut gebildeten und schwer intellektuell angehauchten Herren von The National hatten sich da ein ganz schön anspruchsvolles Programm ausgedacht. Spannend, dass es mit „Das Leben der Anderen“ und einer Dokumentation über den Maler Gerhard Richter gleich zwei deutsche Filme auf den Spielplan geschafft hatten. Zeitlich passte uns der Richter-Film am Sonntagmittag gut ins Konzept, es gab keine Sprachprobleme und er war wirklich interessant. Außer uns fanden das aber in diesem Augenblick nur noch eine Hand voll anderer Festivalbesucher. 

Der Sandstrand: Ein Traum! Wenn doch England nur für stabiles Sommerwetter bekannt wäre! 

Rhy: Das nächst gelegene Städtchen von Camber aus gesehen, ist das wunderschöne Rhy mit seiner mittelalterlichen Pflastersteininnenstadt, einer trutzigen Kirche und einem schnuckeligen typisch englischen Lädchen am anderen. Allemal einen Samstagvormittagsausflug bei strahlendem Sonnenschein wert. 

London Heathrow: Die Gates werden erst wenige Minuten vor dem Boarding vergeben und sämtliche Passagiere internationaler Flüge starren gebannt auf die Anzeigetafeln der riesigen Wartehalle. Ausgerechnet in dieser Halle begegnen mir drei weitere Musiknerds, die sich ebenfalls auf dem Heimweg vom unglaublichsten Festivalwochenende ihres Lebens nach Stuttgart befinden. 


1 Kommentare :

Gudrun hat gesagt…

Liebe Claudia, was für tolle Berichte aus Südengland. Dann muss ich nicht so traurig sein, es verpasst zu haben... Vielen Dank, dass Du Dir die Zeit genommen hast, um Deine Eindrücke mit uns zu teilen.

 

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