Mittwoch, 11. Juni 2008

Radiohead, Paris, 10.06.08


Konzert: Radiohead (Bat For Lashes)

Ort: POPB, Paris-Bercy
Datum: 10.06.2008
Zuschauer: ausverkauft
Konzertdauer: 2 Stunden 10 Minuten (nur Radiohead), Bat For Lashes circa. 45 Minuten


Was mache ich eigentlich hier bei Radiohead im riesigen Palais Omnisport von Paris-Bercy?

Ich wollte doch gar nicht hier sein, da ich riesige Hallenveranstaltungen nicht sonderlich schätze und ich mich zudem mit Radiohead, einer meiner Lieblingsbands de neunziger Jahre seit langem nicht mehr beschäftigt habe. Aber eine Bekannte wollte unbedingt noch ihre überschüssige Karte loswerden und mir fiel es schwer, sie zu enttäuschen. Da stehe ich nun, zwischen all diesen jungen, verschwitzten und teilweise ungepflegt aussehenden Menschen, die ebenfalls auf die glorreiche Idee kamen, bei herrlichstem Sommerwetter in einer dunklen und stickigen Mehrzweckhalle den manisch-depressiven Anfällen von Herrn Thom Yorke beizuwohnen.

Es herrscht eine Luft wie im Gewächshaus und meine unmittelbaren Nachbarn riechen ziemlich streng unter den Achseln.
Man kann zwar kaum atmen, aber trotzdem halten sie es für passend, die Luft durch Tabak-und Marihuana Rauch weiter zu verpesten. An Rauchverbote halten sich doch nur Spiesser! Einer nach dem anderen steckt sich einen Glimmstengel an und da stehe ich dummerweise genau dazwischen und bekomme ein übles Gras in die Nase geblasen. Links und rechts von mir stehen zwei Mädchen, deren Haupt wunderschöne und 2 Kilogramm schwere Rastazöpfe zieren. Eine von den beiden klebt so nah an mir, dass ich ihre Haarpracht ständig an meinem Arm spüre. Es fühlt sich an, als würde mir ein Kamel seinen warmen, schweren Schwanz über die Glieder pinseln. Mich überkommt ein Würgereiz, der noch dadurch verschlimmert wird, dass die andere Rastalady hektisch in ihren Kunsthaaren gratzt, als hätte sie Flöhe. Ob mich meine Kappe davor schützt, dass die Viecher auf meine Kopfhaut rüberspringen?

Kurze Zeit später kriege ich von einem anderen Mädel den Tabak in die Nase geblasen. Mir wird es jetzt zu bunt, ich bitte sie höflich, die Kippe auszumachen. Sie guckt ganz angesäuert und bringt den Spruch des Tages: "Moment mal, Alter, wir leben doch hier in einer Demokratie!" Was sagt man dazu? Am besten gar nichts mehr! Wenn sie wenigstens gesagt hätte: "Hör zu, es widerspricht dem Punk- und Indiespirit, Gesetze einzuhalten", hätte ich ihr noch beigepflichtet, aber das sie mir hier mit Demokratie kommt, ist der Gipfel der Frechheit. Weiss sie überhaupt, dass Demokratie von dem griechischen Wort demos= das Volk kommt?

Sie scheint ohnehin ignorant zu sein und ihre Freundinnen auch.
Schon bei der wundervollen Vorgruppe Bat For Lashes hatten sie genervt, ständig geplappert und auf ironische Weise lautstark gejubelt als Natasha Khan das letzte Lied ihres Sets angekündigt hatte. Sie kannten die Band nicht und waren auch nicht im Geringsten neugierig darauf, vorher Unbekanntes kennenzulernen.

Ein konzertbegeisterter Bekannter, den ich zuvor in der Metro getroffen hatte, hatte dieses Szenario schon treffsicher vorausgesagt: "Für die Vorgruppe wird sich in Bercy eh keiner interessieren, auch wenn die toll ist". Leider hatte er recht behalten und schon mit dem Namen, waren Typen hinter mir überfordert. "Jetzt spielt wohl erst "Lashes is bad", oder so ähnlich...

Oder so ähnlich, auch der zweite Versuch des ahnungslosen Jünglings, seinen Freunden zu erklären, wer denn das Vorprogram bestreite, misslingt, selbst wenn er diesmal näher dran war: "Bad Lashes", nennt er das Projekt von Natasha Khan jetzt.

Ich überlege kurz, ob ich aufklärerisch tätig werden soll, lasse das aber lieber bleiben, weil ich befürchte, ansonsten noch den Banausen erklären zu müssen, welchem Musikstil Bat For Lashes zuzurechnen ist. Das ist nämlich auch gar nicht so einfach.
In welche Schublade(n) könnte man das stecken? Indie, Alternative, (Freak)-Folk? Oder ist Natasha Khan etwa eine Singer/Songwriterin mit angeschlossener Band? Wahrscheinlich ist das von allem ein bisschen, aber hauptsächlich schon das Projekt von Fräulein Khan. Die könnte aber nie und nimmer ihre Lieder alleine auf der Gitarre vortragen, wie z.B. eine My Brightest Diamond, mit der sie manchmal verglichen wird. Um ihren Stilmix hinzubekommen, bedarf es vieler Instrumente und anderer talentierter Künstler, die (oft sich untereinander abwechselnd) an Geige, Harfe, Klarinette, Trommel und sogar singender Säge (!) agieren. Bisher steuerte eine rein weibliche Begleitband diese Parts bei, heute aber war auch ein Mann an der am hinteren Bühnenrand befindlichen Harfe zu Werke.

Bei Bat For Lashes klingt alles mystisch und geheimnisvoll, vor allem aber düster-melancholisch. Ihre Musik ist eigentlich der ideale Soundtrack für einen gruseligen Nachtspaziergang durch einen dunklen Wald.
Aber auch die Schönheit und Romantik wird nicht vergessen, sowohl in musikalischer als auch szenischer Hinsicht. Die Kostüme von Natasha und ihrer Band sind stets ungewöhnlich und extravagant und auch die Bühnendekoration ist wichtiger Bestandteil. Ob allerdings die Tibet-Fahne zu Bat For Lashes, Radiohead, oder beiden Acts des heutigen Abends gehörte, blieb mir ein Geheimnis. Miss Khan hat pakistanische Wurzeln, das weiss man und auch ihr Vater war politisch aktiv, aber ob sich seine Tochter für Tibet einsetzt, will ich nicht ungeprüft behaupten.

Bleiben wir also lieber bei der Musik, denn die ist unbedingt erwähnens -und empfehlenswert. "Horse & I", z.B., der Knüller mit der singenden Säge, soll auch ein Lieblingslied von Thom Yorke sein. "The Wizard" und "Trophy", ebenfalls glänzend. Und zu meiner (nicht unbedingt der meiner Nachbarn) Freude gab es auch drei nagelneue Lieder im Set.
Leider kann ich hier noch keine Songtitel präsentieren, aber vor allem das erste davon war überragend. Die stimmliche Nähe zu Kate Bush, die Natasha oft nachgesagt wird, nicht aber immer gegeben ist, kam hier recht deutlich zum Ausdruck. Ein Hammer, der eigentlich nur durch das abschliessende "What's A Girl To Do" getoppt wurde zu dem das Publikum endlich auch mal ein wenig mitging!

Auszüge aus der Setlist von Bat For Lashes:

- intro
- Trophy
- Horse And I
- The Wizard
- I Saw A Light
- Prescilla
- What's A Girl To Do

+ 3 neue, sehr gute Lieder!

Danach war eine quälend lange Pause angesagt, die ich mir dadurch vertrieb, dass ich über die Schultern meiner Vorderfrau die Zeitung mitlas. Wie eigentlich immer in der Presse war Sarkozy der Sündenbock für alles. Erst konnte ich lesen, das Nicolas immer mehr Zulauf von der rechtsradikalen FN erhalte, dann war er auch noch für Mängel im Gesundheistsytem verantwortlich (Spitzname hier: Dr. Sarko) und wurde mit dem Satz zitiert: "Ihre Aids-Erkrankung ist psychosomatisch". Das erinnerte mich an eine kürzliche Taxifahrt, bei der der Fahrer mir wutschnaubend erklärte, Sarkozy habe ihm seine Rente versaut, er könne jetzt seine Lizenz, die mal so viel wert gewesen sei, nicht mehr verkaufen. Ich fragte mich gedanklich ganz kurz, ob Sarkozy (dessen Anhänger ich keineswegs bin) wohl auch für ein mögliches frühes Ausscheiden der Fussball-Nationalmannschaft verantwortlich gemacht werde, bekam aber jetzt - wie oben erwähnt - den Zigarettenrauch meiner Nachbarin in die Nase gepustet. Gibt es nicht so etwas wie ein Rauchverbot seit dem 1. Januar 2008? Hmm, eigentlich ja schon, aber da man wohl Sarkozy für das Gesetz verantwortlich macht, das sein sozialistischer Kollege Evin schon 1991 vorbereitet hat, hält sich keiner dran...

Na ja, Nicholas kann mit seiner mangelnden Popularität ganz gut leben, der hat ja jetzt auch die schöne Carla zum Trösten und den Friedensnobelpreis wollte er ja auch nie gewinnen. Thom Yorke würde sich aber bestimmt über eine solche Auszeichnung freuen, oder nicht? Kämft er nicht schon zusammen mit Bono und Chris "Coldplay" Martin um diesen Titel? Die drei könnten da schon ein gutes Team bilden, Bono, der Blutgrätscher, Chris, der schnelle Flügelflitzer und Thom, der Wadenbeisser, vereint in dem Bestreben eine bessere Welt zu erschaffen.

Thom hat ja schon die Musikwelt revolutioniert, da seine Band als allerallererste ein Album ins Netz stellte und zum Gratis-Download freigab (ähh, hatten das nicht längst kleinere Bands ohne grossen Rummel vorher getan?),
da muss er jezt auf anderen Feldern tätig werden. Der gelbe Poncho und der andere Merchandising - Kram sollen 100 % Fairtrade sein. Finde ich gut, ganz ehrlich! Meine Turnschuhe sind auch solche Fairtrade- Treter und den Kaffee kaufe ich auch immer im Bioladen um die Ecke und hoffe, dass ich damit eine gute Tat tue. Aber hatten nicht schon Razorlight vor zwei Jahren Fair-Trade Shirts verkauft? Ach so, ich vergas, Johnny Borell mag ja keiner, da hat sich die gesamte Musikpresse darauf geeinigt, dass das ein arroganter Sack ist und seine Musik gekünstelte Kacke!

Thom aber ist ein Held, seine Musik revolutionär und das letzte Album "In Rainbows" wieder einmal ein Meisterwerk. Journalisten streiten nur noch darum, ob "OK Computer" noch besser war, oder ob die genannten Geniestreiche eigentlich Platz 1 und 2 der besten Alben aller Zeiten belegen müssen,
dicht gefolgt von "The Bends". Nur Nirvana als andere relativ "neue" Band, die nicht wie die Beatles und Bob Dylan schon uralt sind, können in solchen Listen mit Radiohead mithalten. Beste Single aller Zeiten? Wenn es nicht irgend eine Scheusslichkeit von den Beatles (die ich eigentlich mag), Bob Dylan oder den Stones (die ich nie mochte) ist, dann totsicher "Karma Police", "Paranoid Android", oder - wenn der Jorunalist kreativ sein will - "Fake Plastic Trees". Gut, es wird oft auch "Smells Like Teen Spirit" erwähnt, aber es geht ja hier nicht um Nirvana, sondern um Radiohead!

Solche Lobpreisungen schreien natürlich geradezu nach Überprüfung. Wieder einmal, denn 2003 stand ich schon einmal in der Allzweckjacke von Paris-Bercy und habe von Radiohead vor allem unerträglich laut jaulende Gitarren in Erinnerung.

Wie "Paranoid Android" heute auf mich wirken würde, kann ich nicht beurteilen. Es wurde nämlich schlicht und einfach nicht gespielt, genausowenig wie "Creep"! Lediglich die hartgesottenen Fans, die zwei Tage hintereinander (9. und 10. Juni) ins POPB kamen, können da mitreden, denn am 9. Juni gehörte das Stück zur Setlist. Am 10. also heute und nicht am 9.,
gab es allerdings die Bat For Lashes gewidmete Zugabe "Karma Police" und die war nach wie vor vorzüglich. Und ob das jetzt die beste Single aller Zeiten ist, muss ich nicht beurteilen, zumal da bei mir sowieso viele Sachen von Joy Division rangieren würden.

Als hervorragend empfand ich auch den Klassiker "Fake Plastic Trees" von The Bends und einige neue Stücke vom letzten Album vor allem "Nude" und "Weird Fishes /Arpeggi", wohingegen an Liedern wie "Just", oder " Airbag" irgendwie der Geruch der Neunziger hängen geblieben ist.
Insofern kann ich durchaus beipflichten, wenn gesagt wird, dass sich die Band im Laufe der Jahre immer weiter entwickelt hat und "In Rainbow" sehr modern klingt, ohne die Wurzeln zu verleugnen. Oft kam bei mir die Assoziation zu Portishead in den Kopf, auch dort gibt es eine sehr prägnante Stimme an der Spitze, ein Tüfteln mit elektronischen Klängen, ohne dass das Ganze zu experimentell wird und auch die Bühnenschau wies Ähnlichkeiten auf. Es gab nämlich bei Radiohead auch diesen Gimmick, dass man auf der rückwärtigen Leinwand die Band in leicht verzerrter Form in Aktion sah. Oft blickte man deshalb auf den weitaufgerissenen Schlund von Thom Yorke, der greinte und winselte wie eh und je. Seine Bandkollegen, also die Greenwoods, Ed O'Brien und Drummer Phil Selway, waren da natürlich unauffälliger, aber eine One-Man Show war es in gar keinem Fall, dazu ist der Sound der Gruppe zu komplex. Wenn Thom wie ein Rumpelstilzchen tanzte oder am Piano sass, waren aber natürlich alle Blicke auf ihn gerichtet. Und wer wissen will, was der schmächtige Mann gesagt hat, bitteschön:

- ça va Johnny (welchen Johnny meinte er?)
- Take it nice and easy in the front now. Don't squash anyone.
- Merci. Cool beans. Fucking Hell Man!
- ça va?

Nicht viel also und ansonsten gab er bezüglich zwei neuer Lieder,
"Bangers And Mash" und "Super Collider" den Hinweis: "You can get this song on the internet".

Richtig so, keine grossen Reden schwingen, sondern die Musik sprechen lassen! Diese verstummte nach ziemlich genau 2 Stunden und 10 Minuten Spielzeit. Ich hatte ein insgesamt recht gutes Konzert gesehen,
bei dem es aber auch ein paar regelrecht langweilige Passagen gab. Meinen Nerv trifft eine meiner Lieblingsbands der Neunziger nur noch vereinzelt, auch wenn einige Songs nach wir vor glänzend sind, genau wie im übrigen die wunderbare Lightshow mit den gletscherartigen Lichtstäben.


Die Setlist von Radiohead vom 9.06.2008 von Paris Bercy (die Band hat zwei Tage hintereinander gespielt) findet man hier, bei meinem Bekannten von photosandgigs.com

Setlist Radiohead, POParis-Bercy, 10.06.2008:

01: 15 Step
02: Bodysnatchers
03: All I Need
04: Airbag
05: Nude
06: Pyramide Song
07: Weird Fishes/Arpeggi
08: The Gloaming
09: Dollars And Cents
10: Faust Arp
11: Videotape
12: Optimistic
13: Just
14: Reckoner
15: Everything In It's Right Place
16: Fake Plastic Trees
17: Jigsaw Falling Into Place

18: House Of Cards
19: There There
20: Bangers And Mash
21: The National Anthem
22: How To Disappear Completely

23: Super Collider
24: You And Whose Army?
25: Karma Police
26: Idioteque


Links:

- mehr Fotos von Radiohead
- mehr Fotos von Bat For Lashes




3 Kommentare :

Jotter hat gesagt…

haha, nett und unterhaltsam zu lesen.

E. hat gesagt…

mit dem bat for lashes album konnte ich im letzten jahr nicht so viel anfangen. wurde aber immer wieder belehrt, dass es das aber tun müsste. nun, ich habe es dann aber auch nicht mehr verzweifelt versucht. mittlerweile ist ordentlich zeit ins land gegangen, ein neuerlicher versuch wäre es wert.
der auftritt von radiohead liest sich gut. das neue album konnte mich immer wieder begeistern, restlos überzeugen jedoch nicht.

Oliver Peel hat gesagt…

Vielleicht solltest Du bei Bat For Lashes auf das zweite Album warten, Eike. Die neuen Lieder sind vielversprechend!


In Rainbows von Radiohead ist wirklich ein gutes Album. Ob es wirklich ein epochales Meisterwerk ist, muss man hingegen abwarten.

@ jotter:

Vielen Dank!

 

Konzerttagebuch © 2010

Blogger Templates by Splashy Templates