Sonntag, 8. Juni 2008

Alina Simone, Paris, 08.06.08


Konzert: Alina Simone
Ort: La Villette (Kiosque Électrique), Paris
Datum: 08.06.2008
Zuschauer: ca. 30-40
Konzertdauer: 30 Minuten


Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.

Bei diesem Spruch handelt es sich um eine deutsche Redensart, die inhaltlich soviel bedeutet wie: man soll niemandem die Fehler, oder die schlechten Eigenschaften vorwerfen, die man selbst hat. Auch im Englischen gibt es eine entsprechende Lebensweisheit mit "Glashouse", im Französischen allerdings nur die ähnliche Redensart, bei der es um das "Kehren vor der eigenen Haustüre" geht.

Und im Russischen? Alina Simone stammt aus der Ukraine, also wäre es interessant zu wissen, ob es in der Muttersprache der Künstlerin (ukrainisch ist wohl russisch sehr ähnlich) auch solch ein Sätzlein mit Glashaus gibt.

Wiktionary gibt folgende Übersetzung an: "Kto sidit w stjekljannom domje, tomu nje sljedujet brosat kamni". Nicht, dass ich das verstehen würde, aber wozu lernt meine Frau russisch? Sie behauptet auf jeden Fall, dass die russische Version der deutschen Redensart entsprechen würde.

Wozu ich mir diese Fragen im Zusammenhang mit dem Glashaus stelle? - Na, weil Alina Simone in einem solchen ein Konzert spielte! Genauer gesagt musizierte sie sitzenderweise in einem Glaskasten, der auf einer Wiese des riesigen Geländes des Parc de la Villette verankert war! Kurios, so etwas hatte ich noch nie gesehen und auch für die Sängerin mit Wohnort Brooklyn war es eine neue Erfahrung!

Mit einiger Mühe hatte ich rechtzeitig den Teil der Wiese gefunden, auf dem sich der Glaskasten befand. Den sog. "Kiosque Eléctronique kannten noch nicht einmal Helfer des Festivals La Villette Sonique, die ich zuvor nach dem Weg gefragt hatte. Der Auftritt von Alina gehörte zu jenem Festival, lief allerdings unter der Überschrift "Showcase",
war also gratis, allerdings leider auch nur eine halbe Stunde lang.

Kurz bevor es losging, sah ich Alina noch gutgelaunt bei einem Plausch auf der Wiese, eine Dose Bier in ihrer Hand. Es war heiss heute in Paris, da musste die Kehle noch ein wenig geölt werden. Dann riss sich die dunkelhaarige junge Dame los und machte sich auf den Weg in ihren "Glasbunker".

Aber was war los? War das hier ein Stummfilm, ähh, ich meine ein "Stummkonzert"? Alina riss den Mund auf und ich hörte...nichts! Wie denn auch, ohne Kopfhörer, die auf dem Boden lagen und mit dem Glashäuschen verbunden waren, ging das auch gar nicht! Das Problem war allerdings, dass kein einziger der begehrten Headphones frei war. Etwas sehnsüchtig schaute ich auf die Glücklichen, die die schwarzen Teile auf ihren Öhrchen hatten und der wunderbaren Stimme und den melancholischen Kompositionen der Folksängerin lauschen durften.

Nach dem ersten Lied bekam ich meine Chance; ein Mädchen zog es vor, lieber dem Rauschen der Bäume zuzuhören und liess ihre Kopfhörer an der Seite liegen. Ich bedankte mich, pflanzte mich auf eines der ausgelegten Sitzkissen und stülpte die Kopfhörer über. Ich vernahm ein wunderbares, auf englisch gesungenes Lied. "Saw Edged Grass" (vom Debütalbum "Placelessness"), so der Titel des Stückes, kam druckvoll rüber und stellte textlich die interessante Frage: "Why are the brilliant ones always so crazy?"...

Passend wäre es heute aber auch gewesen, über ein anderes Thema zu sinnieren: "Why do the brilliant ones always die so young?" Passend deshalb, weil die russische Punk-Sängerin Yanka Dyagileva 1991 mit nur 24 Jahren starb und Alinas neues Album "Everyone Is Calling Out To Me, Beware" samt und sonders aus Coverversionen dieser früh dahingeschiedenen Künstlerin besteht. Den Songtiteln merkt man das aber interessanterweise äusserlich nicht an, da die Versionen von Fräulein Simone englische Namen tragen. Eine Kostprobe dieser Coversongs bekam man mit "Special Reason", einem wunderschönen Lied, das von einer feiner Gitarrenmelodie und der wehleidigen Stimme von Alina getragen wird. Wenn die Wahl-New Yorkerin in die melancholischen "ahahahaha"-Klagegesänge einstimmt, könnte ich immer in Tränen ausbrechen, slawische Schwermut geht mir eben sehr nahe, auch wenn ich kein Wort des Textes verstehe. Auch bei "From Great Knowledge" musste ich manchmal schwer schlucken, aber in dem Stück steckt neben der Depressivität auch so viel profunde Schönheit, dass es eine Wonne ist. Schmerzen und Leiden zu artikulieren, hat zudem eine äusserst befreiende Wirkung und in den Cover Versionen von Dyagileva steckt auch eine solch unbeschreibliche Nostalgie, dass vor meinem geistigen Auge Bilder des Berliner Mauerfalls abliefen und ich wildfremde Menschen sah, die sich vor Glück weinend in den Armen lagen. Lange ist das her, aber die Lieder von Dyagileva sind genau in diesen Wendejahren, in Russland Glasnost genannt, entstanden und versetzten mich wieder zurück in jene aufwühlende Zeit...

Das Album "Everyone Is Calling Out To Me Beware" wird übrigens im August offiziell erscheinen,
käuflich kann man im Moment nur eine Art "Eigenbootleg" von Alina erwerben und dies auch nur bei einem Besuch ihrer Konzerte. Erhältlich ist aber bereits das rein englische Album "Placelessness", von dem der abschliessende Song "Nightswimming" stammte. Die talentierte Musikerin trug diesen mit einem für mich exotisch wirkenden Instrument vor, das ich noch nie zuvor gesehen hatte, aber herrliche Töne erzeugte. Es war gitarrenählich, hatte aber einen extrem langen Stiel und einen winzigen Resonanzkörper. Der Name: Strumstick. Wer neugierig geworden ist und wissen möchte, wie so etwas aussieht schaue sich diese Internetseite an.

Achso, woher ich weiss, wie das Instrument hiess? Alina, die in den kurzen dreissig Minuten Auftrittszeit die ihr in dem Gaskasten zur Vefügung stand, restlos überzeugt hatte, verriet mir das in einem Interview, dass ich im Anschluss veröffentlichen werde.

Mit Steinen hat sie übrigens nicht geworfen, nur mit Pfeilen geschossen. Und die gingen direkt in mein Herz!

Setlist Alina Simone, La Villette Sonique, Paris:

01: Beautiful Machine
02: Saw - Edged Grass
03: For A Rainy Day
04: Special Reason
05: From Great Knowledge
06: Nightswimming (kein R.E.M. Cover!)




1 Kommentare :

E. hat gesagt…

tolle geschichte!
auch die geschichte um diesen glasauftritt. man könnte meinen, dass die idee einer extrovertierten künstlerseele entspringt, aber denkste.

 

Konzerttagebuch © 2010

Blogger Templates by Splashy Templates