Konzert: iLiKETRAiNS * ( Vorgruppe: One Night Only)
Ort: Le Nouveau Casino, Paris
Datum: 08.04.2008
Zuschauer: zu 2/3 ausgelasteter Club
Paris, Metrolinie 8, Richtung Republique: Auf meinen Kopfhörern läuft auf voller Lautstärke "Ice Age" von Joy Division. Ian Curtis schreit und nörgelt "I've seen the real atrocities buried in the sand stockpiled for safety, while we stand holding hands, I'm living in the ice age, I'm living in the ice age..." - "I've seen the real atrocities" . Ich habe die wahren Grausamkeiten gesehen. Da läuft es mir kalt den Rücken runter und der Bass poltert hundsgemein durch das Lied. Am liebsten würde ich jetzt Pogo tanzen, aber darauf hätten die anderen Fahrgäste sicherlich keinen Bock. Um mich herum stehen junge, hübsche Pariserinnen. Wie schlank sie sind, obwohl die eine der beiden gerade Kekse in sich reinstopft. Wie machen die Französinnen das? Darüber wurden bereits Bücher geschrieben. Ein Phänomen. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn ich jetzt einen epileptischen Anfall vortäuschen würde, wie sie Ian Curtis immer wieder erleiden mußte. Würden mir die süßen Girlies helfen? "Love makes me feel higher" ("The Sound Of Music") keift der Joy Division - Sänger auf meinen Kopfhörern. "Higher, Higher!"
Aber ich bin verheiratet und treu. "The Only Mistake?" fragt Ian textlich und ich muß schmunzeln, weil ich kürzlich im NME ein poppiges T-Shirt gesehen habe, auf dem ein Brautpaar zu sehen ist und darunter der Satz: Big Mistake. Ich habe (bisher) Glück , meine Hochzeit würde ich sciherlich nicht als Fehler bezeichnen. Wenn es einen Fehler gab in meinem Leben, dann ist es die Tatsache, daß ich nie ein Konzert von Joy Division gesehen habe. Ich war zu jung damals. Ian Curtis nahm sich am 18. Mai 1980 mit einem Strick das Leben. Aber seine Musik lebt durch seine musikalischen Erben weiter. Und die Briten iliketrains, die ich heute abend anschauen werde, gehören definitiv zu dieser Erbengeneration.
Anschaulicher als durch eine auf eine Videoleinwand projezierte Schlinge kann man die depressive Gesinnung von iliketrains wohl kaum deutlich machen. Der Schlagzeuger der Band sitzt vor dem Strick. Man könnte glauben, das Tau sei um seinen Kopf gelegt. Makaber. Am 18. Mai 1980 nahm sich Ian Curtis mit einem Strick das Leben...
Zunächst einmal ist jedoch "Happy-Hour" angesagt im Nouveau Casino. Die jungen Hüpfer von One Night Only dürfen für die Zugliebhaber eröffnen. Für die grünschnäbeligen Bengel ist es der erste Gig außerhalb des UK überhaupt, darauf sind sie natürlich ein wenig stolz. Vielleicht haben ihnen ihre Eltern vorher nicht erlaubt, ins Ausland zu reisen, wer weiß? Der Keyboarder ist 18, das weiß ich, weil er es mir und dem von dem Konzert völlig entzückten Philippe hinterher erzählt hat (und die anderen dürften auch nicht viel älter sein). Meine Begeisterung hielt sich hingegen in Grenzen. Natürlich war das Ganze wieder flott und zackig dargeboten und die Burschen machten in ihren engen Jeans und den Unterhemdchen auch eine gute Figur. Aber deshalb eine neue Sensation ausrufen? Wo war das neuartige Element in ihrem Stil, der stark nach den üblichen Verdächtigen Kooks und Razorlight klang? Nun, da mußte man schon genauer suchen. Vielleicht sind es die drei Singleauskopplungen ihres Debütalbums, die Philippe so überschwenglich lobte?!
Wie auch immer, das erste Opus der Engländer ging auf der Insel schon 70.000 mal über die Ladentheken und wird sich sicherlich auch in Deutschland und Frankreich ordentlich verkaufen. Und in Germany kommt man - wenn man denn möchte - schon sehr bald in den Live-Genuß der Girlie-Lieblinge.
Hier sind die Konzerttermine von One Night Only in Deutschland:
- 11.04.2008 Atomic Café, München
- 16.04.2008 Magnet Club. Berlin
Und am 13. 04.2008 in der Schweiz und zwar im Mascotte in Zürich.
Setlist One Night Only, Le Nouveau Casino, Paris:
01: Nintendo
02: He's There
03: You & Me
04: Stay At Home
05: Do You Know What I Mean
06: Start Over
07: It's About Time
09: Hide
10: Just For Tonight
Danach wird's düster, iliketrains sind an der Reihe. Die Mid-Twenties aus Leeds installieren erst einmal in aller Ruhe ihren Videoprojektor und auf der Wand sieht man zunächst nur ein Standbilder. Kurze Zeit später lernen aber die Bilder laufen. Der Opener "Twenty Five Sins" mit seinem gruseligen Text "This town is burning down" wird ironischerweise mit Aufnahmen vom Eifelturm und dem Invalidendom visuell begleitet. Ein schlechter Scherz? Paris is burning? Nicht unbedingt, die Melancholiker aus England sind nun einmal zynisch, desillusioniert und pessimistisch. Welche andere Band singt schon Textzeilen wie " And I do not think, that we can hope for any better things now?" ("Terra Nova")...
Bei "A Rook House For Bobby" geht es um Schach: "All I ever wanted to do is playing chess with you", und Bobby ist hierbei der Schachgroßmeister Bobby Fischer. Wenn man genau hinguckte, konnte man sehen, wie sich die Schachfiguren ab und zu bewegten. Ein glänzender Effekt!
Ich könnte jetzt fortfahren und jede einzelne Geschichte der Lieder erzählen, die alle auf eindrucksvolle Weise bebildert und illustriert wurden, aber das hat Christoph in seinem Kölner Konzertbericht (November 2007) schon umfassend und informativ getan . Deshalb fülle ich lieber die Lücke, die mein Partner gelassen hat. Er hat nämlich gesagt, daß ihm zur Musik nicht viel einfiele, außer daß sie traumhaft gewesen sei. Aber was ist das Traumhafte daran? - Ganz klar die epischen Gitarrenwände, die sich systematisch aufbauen, bis sie irgendwann die schwindelerregenden Höhen des Himmalaja erreicht haben. Dazu die Grabesstimme von David Martin und die depressiven Texte und die Gänsehaut ist perfekt. Gruselig-schön, daß Ganze! "Melodramatischer Pop-Song" kann man auf der MySpace Seite lesen und das trifft es schon sehr gut. Viele Leute sind dermaßen in den Bann gezogen, daß sie ihre Augen schließen und sich davontragen lassen (den Typen an der Bar, der wirklich eingenickt ist, lasse ich an dieser Stelle mal außer Betracht). Ja, es steckt viel Schönheit und Ästhetik in den filigranen Kompositionen der Briten, auch wenn die Texte und Inhalte immer wieder todtraurig sind. Bei "We All Fall Down" geht es um den Pestausbruch in einem Dorf in England ("Eyam Derbyshire" 1666) und hierzu wurden makabrerweise sämtliche Namen der Verstorbenen eingeblendet, die dahingerafft wurden, erschütternd!
Auch gänzlich neues Liedmaterial wird bei dem vierten Auftritt von iliketrains in Paris geboten, "Snake" wurde noch nie zuvor live gespielt. "It's like a work in progress", scheint sich der schüchtern wirkende David Martin fast zu entschuldigen, aber das braucht er gar nicht, denn der Song ist gewohnt stark. Auch die Tatsache, daß die Band seit einiger Zeit nicht mehr auf der Bühne stand ("We are quite nervous because of that"), fällt nicht weiter auf. Im Gegenteil, noch nie habe ich die Gruppe (es ist mein drittes Mal) professioneller erlebt. Alles flutscht und ich habe fast ein bißchen Angst, daß die Typen zu gut, zu perfekt, werden könnten. Aber es bleibt trotzdem noch genügend amateurhafter Charme und mit ihrem Musikstil werden sie wohl eh nie wirklich massentauglich werden. Dann bleiben jaimelestrains (so haben sie sich ernsthaft vorgestellt) halt eben etwas für Kenner und Genießer, auch schön! Und die neue Single "We Go Hunting" ist wirklich ein Kracher! Man kann sie später auf Vinyl erwerben und da lasse ich mich auch nicht zweimal bitten. Schon der Anfang ist grandios, das Schlagzeugspiel hochexplosiv, der Song von Anfang an treibend. Das ist nicht immer so bei iliktrains. Oft beginnen die Lieder schleppend und steigern sich dann fast auf orgasmische Weise. Post-Rock nennt man so etwas und es ist immer wieder ein Vergnügen, die Köpfe der Beuscher wild im Takt hüpfen zu sehen und die Band beim wilden Abrocken auf der Bühne zu beobachten. Besonders beim langen und epischen Spencer Perceval ( 1812 ermordeter britischer Premier Minister) lässt das Quintett die Gitarren aufheulen und die blütenweißen Hemden mit dem schwarzen Trauerflor dürften einige Schweißflecken abbekommen haben. Danach ist vorläufig Schluß, aber es gibt zum Glück noch zwei Zugaben, darunter eine B-Seite von "The Deception" (ich denke es war "Joshua") und die allererste Single der Truppe namens "Before The Curtains Close". Nach diesem Knüller fällt wirklich der Vorhang und ich habe die Gewissheit bekommen, daß ich zuvor eine der talentiertesten Bands Englands erlebt hatte.
Setlist iliketrains, Le Nouveau Casino, Paris:
01: Twenty Five Sins
02: A Rook House For Bobby
03: The Deception
04: We All Fall Down
05: Victress
06: Death Of An Idealist
07: The Voice Of Reason
08: Snake
09: We Go Hunting
10: Terra Nova
11: Spencer Perceval
12: Joshua
13: Before The Curtains Close
- Fotos von den Lieblingen der 16 jährigen Mädchen One Night Only
- Fotos von iliketrains
* Im Text der Einfachheit halber gänzlich klein geschrieben, aber richtig wäre es, immer ein kleines i zu setzen und den Rest groß zu buchstabieren.
Ausgewählte Konzertermine von iLiKETRAiNS :
- 13.04.2008: B72, Wien, Österreich
- 14.04.2008: Brotfabrik, Frankfurt
- 15.04.2008: Gleis 22, Münster
- 17.04.2008: Rotown, Rotterdam, Niederlande
- 19.04.2008: Polsslag Festival, Belgien
- Danach Termine im UK
- 30.05.2008: Immergut Festival bei Berlin
Service: Video zu "We Go Hunting". Angucken!
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