Konzert:Kashmir & Chapeau Claque (TV Noir #9)
Ort:Wagenhallen, Stuttgart
Datum: 12.09.2013
Dauer: 130 Minuten ohne Pause
Zuschauer: einige hundert (fast ausverkauft)
Das Konzept der TV Noir Touren gefällt mir. Der Charme eines Wohnzimmerkonzerts wird mit der Wärme und Optik spießiger Wohnungen der 50er Jahre auf der Bühne versucht in Clubs und kleinere Hallen der Republik zu bringen.
Die ehemals reine Internetsendung ist mittlerweile eines der hipsten Musikprogramme in der deutschen Medienlandschaft. Seit geraumer Zeit finden mehrmals im Jahr Touren des Berliner Formats statt, die Musikliebhaber in ganz Deutschland an dem erstaunlich populären Konzertkonzept teilhaben lassen.
Durch den nasskalten Abend fährt die oberirdische U-Bahn uns in die unmittelbare Nähe der Wagenhallen am Stuttgarter Nordbahnhof. Das ungemütliche Wetter schlägt auf die Laune, beim Eintreten in die wohlige Atmosphäre des bestuhlten Veranstaltungsortes weicht diese wieder der Vorfreude auf einen vielversprechenden Abend.
Der Saal ist gut gefüllt, offensichtlich fast ausverkauft. Neben dem Stuttgarter Kulturpublikum, das man zu großen Teilen von Konzerten im Kulturzentrum Merlin, das auch den heutigen Abend ausrichtet, kennt, sieht man jugendliche Fans der etablierten Fernsehsendung. Auch Florian Ostertag, junger wie populärer Stuttgarter Liedermacher und Teil der allerersten TV Noir - Tour macht sich vor Ort ein Bild der aktuellen Auflage.
Kurz nach acht beginnen Kasper Eistrup und Henrik Lindstrand als auf akustische Gitarre und Klavier reduziertes Duo mit „Piece Of The Sun“ vom aktuellen Album „E.A.R.“ mit entspanntem, entschleunigtem Pop.
Eistrup - bärtig im blauen Hemd und mit stilvoller schwarzer Mütze - singt mit leicht brüchiger Stimme Strophen mit hauchzart gezeichneten Naturbildern. Im weiteren Verlauf entpuppt sich der schüchterne Frontmann der dänischen Indie-Institution als charismatischer Sänger, der nicht nur optisch an den unübertrefflichen Michael Stipe erinnert.
Kashmir waren stets eine wichtige Band, von Kritikern und Fans geliebt, auf den großen Festivals gefeiert und doch außerhalb ihres Heimatlands nie auf dem Weg überlebensgroße Stars zu werden. Im Vorfeld hegte ich Zweifel, ob es Eistrup und Lindstrand gelingen könnte im reduzierten, fast akustischen Gewand die immense Energie der eigentlich als Quartett auftretenden Band zu erzeugen. Spätestens nach „The Curse“ und „Graceland“, nach denen die Bühne zum ersten Mal für Chapeau Claque geräumt werden sollte, verstreuen sich alle zweifelnden Gedanken in ehrliche Bewunderung. Besonders der Klassiker „Graceland“ entfaltet auf seine Knochen entblößt eine fast beängstigend intensive Wirkung. Die Melodie der 1999 veröffentlichten Single wurde mal recht deutlich von Coldplay zitiert, überhaupt braucht die Band um Eistrup Vergleiche mit Genregrößen nicht scheuen, ist sie doch selbst eine.
Mit angenehmer Klangfarbe in der Stimme, perfekt gestreutem Hintergrundgesang des schwedischen Pianisten Lindstrand, gelingt es Kasper Eistrup eindrucksvoll sich als erstklassiger Popsänger hervorzutun. Nonchalance ist das Geheimnis der Tiefenwirkung seiner Performance. Dass die akustischen Versionen immer wieder an The National erinnern, dürfte zum Kalkül gehören, die signifikant im Vordergrund stehende Stimme hingegen weist Eistrup als besseren Tom Smith aus. Nach der Enttäuschung um das letzte Album der Editors frage ich mich, ob Kashmir die immer größer werdende – und viel später gegründete – Band aus Birmingham eine Klasse hinter sich lässt.
Zu jedem TV Noir Konzert gehören regelmäßig wechselnde Abschnitte, in denen jeder Act zwischen zwei und drei Liedern zur Verfügung hat. Eistrup und Lindstrand nehmen auf dem großen Ledersofa am hinteren Bühnenende Platz, Chapeau Claque übernehmen und eröffnen mit „Fingerhüte“. Die thüringische Band, die vor ein paar Jahren sechste bei Stefan Raabs unsäglichen Bundesvision Songcontest wurde, löst melancholischen Akustikrock mit - auf Keyboard und Cello neu arrangierten - Electropop ab.
Maria Antonia Schmidt trägt ein Minikleid mit Katzenmotiven zu gepunkteter Strumpfhose und führt vom ersten Takt mit breitem Lächeln auf breitem Mund einen Ausdruckstanz auf. So überfrachtet wie die Performance erscheinen mir auch Musik und Text, was daran liegen mag, dass ich sowohl mit Tanztheater als auch mit Mia.-esken Electro-Pop wenig anfangen kann.
„Man nennt es Ideologie oder auch zweifelhaft“, singt Schmidt, bevor sie „ein Feuerwerk unter meinen Fingernägeln“ beschwört und von „annoncierter Sehnsucht“ spricht.
Zu „Unsere Liebe, ein Storch“ geht der stetige Tanz in Storchbewegungen über. Äußere Ähnlichkeiten zu BOY-Sängerin Valeska Steiner fallen ins Auge, mein Versuch musikalische Parallelen zu finden, ist hingegen zum Scheitern verurteilt.
Das Publikum nimmt das Ganze äußerst gemischt auf, frenetischer Applaus und skeptische Gesichter gehen miteinander einher. Zum Ende des ersten, drei Songs umfassenden Sets mag mir dann „Zeit zu gehen“ doch ein wenig gefallen. Treibender Rhythmus und das sehr sympathische Spiel der Cellistin Isabel machen Zeilen wie „Mein Blut war noch nie so rot“ wett. Keyboarder Peer Kleinschmitt ist für sein hintergründiges Spiel auch nicht zu verurteilen. Sogar der Refrain („Wenn es am schönsten ist, sagt man sich, soll man gehen“) versprüht einen gewissen, angenehm naiven Reiz, der jedoch von an Overacting grenzender Gestik und Mimik der jungen Sängerin überdeckt wird.
Bodenständig, ließe sich die Aura des Kashmir-Auftritts treffend umschreiben. Im sonoren Bariton singt Eistrup das folkige „Still Boy“, während der hohe Backroundgesang Lindstrands die dem Song angemessene Harmonie verleiht.
Ohne Frage handelt es sich bei „Peace In The Heart“ um das beste, in seiner emotionalen Entfesselung herausstechenden Lied des jüngsten Albums. Bittersüße Verse werden zur eingängigen Melodie mit großer Eleganz gesungen, der Pianist übernimmt die zweite Stimme. Gemeinsam steuern die beiden schon im ersten Drittel des Abends einen seiner schönsten Momente, einen echten Höhepunkt an.
Daran können Chapeau Claque nur bedingt anknüpfen. Nichtsdestotrotz gelingt der für die aktuelle Tour zum Trio geschrumpften Band ihr stärkster Moment im direkten Anschluss. „Ich habe dieses Lied vor vielen Jahren geschrieben, als ich unsterblich in einen viel älteren Mann verliebt war“, kündigt die Sängerin mit dem noch immer jugendlichen Gesicht „Reykjavik“ lächelnd an. Ihr weißes Gebiss blitzt auf, bevor Schmidt mit exzellenter Bandbegleitung ihr bestes Stück spielt. Natürlich ist auch das prätentiös, aber für fünf Minuten stört das gar nicht, gefällt sogar. In Griechenland landeten die Erfurter damit einen Hit, in Deutschland lässt der große Erfolg in dem von Mia. abgesteckten Feld auf sich warten.
Zum Mitsingen werden die Zuschauer beim letzten Stück vor der Pause aufgefordert, dabei mag Schmidt selbst Mitsingspiele auf Konzerten überhaupt nicht: „Ich hasse es, wenn ich auf einem Konzert bin und man dann so Spiele mitmachen muss“. Das hält sie jedoch nicht ab, selbst diesen Weg der Pop-Dompteure einzuschlagen, während sie sich immer wieder in einer misslungenen Kate Bush - Imitation zu üben scheint.
Nach viertelstündiger Unterbrechung dürfen Chapeau Claque zwei weitere Stücke spielen. Dann beginnt die große Glanzstunde der Dänen. Mit starken Coverversionen und wunderschönen eigenen Stücken, nimmt mich das Duo endgültig für sich ein. Dass ich mir Kashmir wie zuvor bei einigen Festivals oder Clubauftritten in der Nähe zukünftig entgehen lasse, wird mit großer Wahrscheinlichkeit nicht vorkommen. Lächelnd dankt Eistrup Chapeau Claque für die ersten Lieder nach der Pause, bittet Cellistin Isabel auf die Bühne, um zum ersten Mal in der Bangeschichte den als Evergreen Roberta Flacks bekannt gewordenen Klassiker „The First Time Ever I Saw Your Face“ zu spielen. „Ich wünschte, ich hätte den Song geschrieben!“, merkt der charismatische Frontmann nach einer gelungenen, harmonischen Version des Stücks auf Englisch an.
Immer wieder macht er sich augenzwinkernd Vorwürfe, im Deutschunterricht nicht genug aufgepasst zu haben, so sei „Rocket Brother“ der einzige Song in der Bandgeschichte, der es auf den Soundtrack eines Kinofilms geschafft habe. „It's a German movie. What it's called?“ Isabel muss aushelfen und wirft den Namen eines Til Schweiger - Films ein, den Eistrup akustisch nicht versteht. „Keinohrhase“, ruft die Cellistin erneut, Eistrup versucht es zu wiederholen, hat die Lacher auf seiner Seite.
Zwei weitere Stücke Chapeau Claques folgen, von denen zumindest „Zusammen im Kreis“ einen positiven Eindruck hinterlässt. Es ist nicht vermessen festzuhalten, dass es Chapeau Claque in der zweiten Hälfte fraglos besser gelang qualitativ zu punkten.
Mit den letzten beiden Songs des regulären Sets begeben sich Kashmir selbstbewusst auf Folk-Pfade. „The Aftermath“, dessen Text mich an Bob Dylans herzzerreißende Zeile „Behind every beautiful thing there's been some kind of pain“ in „Not Dark Yet“ erinnert, berührt fast schmerzlich – und das ist gut so. In Freiburg habe er sich am Vortag eine Mundharmonika gekauft, sagt Eistrup, und verstärkt den folkigen Eindruck durch die Wahl des mit Klischees beladenen Instruments.
Draußen setzt Regen ein, man hört das hemmungslose, monotone Prasseln großer Tropfen auf das Dach des einstmaligen Bahnhofsgebäudes. Die äußeren Bedingungen harmonieren mit der Musik. „It's dry in here, it's very wet outside now. So it's good for you to be here“, kommentiert der Kashmir-Sänger mit freundlich funkelnden Augen die zusätzliche Geräuschkulisse.
Mit einem Neil Young - Cover kann man so vieles falsch machen. Zahllose Bands traten mit Versionen Young'scher Evergreens ins Fettnäpfchen, folglich reagiere ich mit Skepsis auf die Aussicht, dass man nun einen Young-Song spiele. „Everyone needs a little Neil Young in a while“, rechtfertigt sich Eistrup, als er die viel zu unbekannte Perle „Ambulance Blues“ vom 1974er Meisterwerk „On The Beach“ ankündigt.
Erneut unterstützt die Chapeau Claque Cellistin das skandinavische Duo. Als Zuschauer genießt man die formschöne Neuinterpretation des heimlichen Klassikers mit den ikonischen Versen, „And I still can hear him say: / You're all just pissin' / in the wind / You don't know it but you are.“, die leider eine Spur zu ironisch ausgespuckt werden. Wenige Künstler haben sich bislang an dem Stück versucht, meine Recherche stieß nur auf eine gemeinsame Version des Stücks durch R.E.M. mit dem großen kanadischen Musiker persönlich. Kashmirs Cover ist dem Meister würdig.
Als erste Zugabe gibt es im Anschluss „Schöner Moment“, das vielleicht bekannteste Chapeau Claque - Lied, das den würdigen Abschluss eines Auftritts darstellt, der bedauerlicherweise gänzlich an mir vorbei ging, meinen Musikgeschmack überhaupt nicht treffen konnte.
Kashmir haben glücklicherweise das letzte Wort und führen das Konzert mit „Seraphina“ und einem kollektiv singenden Publikum zu einem glänzenden Ende. Zufrieden verlässt man die Wagenhallen, es hat aufgehört zu regnen:
Wen kümmern da noch Licht und Schatten, qualitative Unterschiede zwischen den beiden Bands.
Setlist Kashmir & Chapeau Claque, Stuttgart:
01: Piece Of The Sun [Kashmir]
02: The Curse [Kashmir]
03: Graceland [Kashmir]
04: Fingerhüte [Chapeau Claque]
05: Unsere Liebe, ein Storch [Chapeau Claque]
06: Zeit zu gehen [Chapeau Claque]
07: Still Boy [Kashmir]
08: Peace In The Heart [Kashmir]
09: Reykjavik [Chapeau Claque]
10: "Wir wollen Freunde, wir wollen Bewegung" (?) [Chapeau Claque]
PAUSE
11: ? [Chapeau Claque]
12: "Hörst du mein Herz..." (?) [Chapeau Claque]
13: The First Time Ever I Saw Your Face [Kashmir mit Isabel am Cello] (Roberta Flack - Cover)
14: Rocket Brothers [Kashmir]
15: "Krieger in meinem Kopf erbarme dich" (?) [Chapeau Claque]
16: Zusammen im Kreis [Chapeau Claque]
17: The Aftermath [Kashmir]
18: Ambulance Blues [Kashmir mit Isabel am Cello] (Neil Young - Cover)
19: Schöner Moment [Chapeau Claque] (Z)
20: Seraphina [Kashmir] (Z)
Links:
- aus unserem Archiv:
- Kashmir & Chapeau Claque in Dresden, 04.09.2013
2 Kommentare :
wunderschön berichtet, ich konnte leider nicht dabei sein.. vielen Dank! und ja, ein Hoch auf Kashmir! :-)
Danke für den Bericht.
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