Freitag, 31. Mai 2013

LUAI, Stuttgart, 29.05.2013

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Konzert: LUAI
Ort: Ein Wohnzimmer in Halbhöhenlage, Stuttgart
Datum: 29.05.2013
Zuschauer: 25
Dauer: eine Stunde 

What Is Love“ von Haddaway, diesen unfassbar penetranten 90s Eurodance-Hit, mochte ich als Kind tatsächlich, klingt ja auch wie ein elektronisches Kinderlied. Dass mir der Song Anno 2013 wieder gefallen könnte, hätte ich noch vor einer Woche nicht für möglich gehalten. Saaramaija Markkanen alias LUAI macht genau das möglich. Ihre hauchzarte, entschleunigte Akustikversion begeistert das Wohnzimmerkonzertpublikum spielend. Die stimmgewaltige 29-jährige Finnin trotzt ihrer Erkältung eindrucksvoll und hat die Stuttgarter Zuschauer schnell in der Hand.

Neben genannten Song und einem schönen Björk-Cover erzählt die blonde Sängerin mit den interessanten Holzohrringen in Vogelform angenehme Geschichten aus der skandinavischen Natur oder von ihrem Leben in Berlin, wo sie seit wenigen Jahren lebt. „It's difficult to learn German in Berlin because everybody speaks English there!“, die Lacher hat die junge Frau stets auf ihrer Seite. Ausnahmsweise hält draußen das Wetter am heutigen Abend, während LUAI so etwas wie den Soundtrack dieses Frühlings spielt; gleich mehrere Regensongs gibt es beim Wohnzimmerkonzert zu hören. Lieder wie „If I Was Rain“ werfen ein geradezu romantisches Licht auf den Regen, jedes Lied ist autobiografisch, wie die studierte Musikerin mehrmals anmerkt. Schöne Erinnerungen an Peter Dohertys melancholisches „I Am The Rain“ werden in mir geweckt, wie auf dessen Soloalbum, ist dieser Regensong der Finnin einer ihrer schönsten.

Mit Amy Schmidt gut befreundet, gefällt mir ihr Auftritt noch besser als der der jugendlich wirkenden Amerikanerin aus Nebraska, auch wenn dieser ebenfalls auf fabelhaften Niveau stattfand.

Unverstärkt singt LUAI gegen ihre Krankheit an, nur einmal übermannt sie ein heftiger Hustenanfall, der von lautem Applaus überdeckt wird. Über die gescheiterte Beziehung zu ihrem estischen Freund, der immer zwischen Helsinki und Tallinn pendelte und eines Tages nicht aus Estlands Hauptstadt zurückkam, berührt ehrlich, ohne jemals auf die Tränendrüse zu drücken. „No Man Is An Island“, „Song One“, kein schlechtes Lied wird es heute Abend zu hören geben.

Besonders anmutig gelingen die beiden Stücke auf Finnisch. Wie Isländisch klingt Finnisch für das ungeübte Ohr wunderbar exotisch, fremd und Interesse weckend. Am Ende fordert LUAI die Zuschauer tatsächlich bei einem der Songs in ihrer Muttersprache zum Mitsingen auf. Die 25 Besucher folgen begeistert, ein anderer der finnisches Lieder handelt – wer hätte das gedacht? - vom Regen.

Tripper“ gefällt mir ausgesprochen gut. Mit 1,62m sei sie für deutsche Verhältnisse winzig, merkt Saara strahlend an, um dann „She Is So Small“ zu spielen.

Am Schluss gibt es „There Should Be Cake“ als Zugabe. Selten habe ich einen passenderes Ende eines Wohnzimmerkonzerts erlebt, einige signierte Platten später, bedient sich LUAI am reichhaltigen Buffet. Es gibt auch Apfelkuchen. Ein gelungenes, ein rundes Ende. "And yes, there should be cake!"

* Bilder folgen in Kürze! 

Links:
- aus unserem Archiv:
- LUAI, Karlsruhe, 27.05.2013 



The Breeders, Barcelona, 24.05.13

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Konzert: The Breeders (performing
Ort: Primavera Sound Festival, Barcelona
Datum: 24.05.2013
Zuschauer: tausende
Dauer: 60 min


"Die Breeders waren live immer schrecklich. Es klang immer schlimm." Gute Voraussetzungen für einen Freitagabend!


Als jemand, der in den 90er Jahren einen großen Bogen um Konzertbühnen gemacht hat, hatte ich auch die Breeders bisher nicht live gesehen, obwohl ich ein riesiger Pixies-Fan war (und immer noch bin) und folglich natürlich auch das Kim Dealsche Nebenprojekt verschlungen habe. In meiner wilden Depeche Mode Phase vorher hatte ich schließlich auch alles gekauft, was aktuelle oder ehemalige Bandmitglieder erzeugt hatten. So macht man das eben als Fan. Man nimmt dann ja auch gerne hin, daß die Nebenaktivitäten musikalisch nur selten ähnlich spannend wie das eigentliche Werk sind. Die Pixies / Breeders sind dafür ein gutes Beispiel.

Trotzdem war "The Breeders perform Last Splash" natürlich eines der Konzerte, auf das ich mich besonders gefreut hatte, obwohl der Freitag des Festivals ohnehin vollgestopft mit Höhepunkten war.

Vorher waren wir bei Django Django an der Hauptbühne, konnten das Konzert aber wegen einer doofen Überscheidung, des erwarteten Andrangs bei den Breeders und den fünf bis zehn Minuten Fußmarsch zwischen den Bühnen nicht bis zum Schluß verfolgen. Wie bei allen Künstlern war auch jetzt der Vorplatz vor der Primavera gerammelt voll. Wir hatten noch einen recht guten Platz am Rand bekommen, waren dafür aber auch schon frühzeitig da. Konzerte aus 100 m Entfernung zu sehen, macht mir keinen Spaß. Das Livegefühl nimmt mit zunehmender Entfernung rapide ab, daher (nicht alleine deswegen) verstehen Leute, die einmal alle paar Jahre zu einem Stadionkonzert gehen, unter Livemusik etwas ganz anderes als wir. Jedenfalls standen wir noch nah genug dran an den Breeders, um die schlechte Qualität ihrer Auftritt hautnah zu erleben.

Daß Kim Deal nach ihrem Erscheinen noch einen Minisoundcheck machte, verstärkte noch einmal die Angst vor einer schlimmen Demontage.

Die blieb allerdings aus. Es klang gut. Die Pixies Bassistin lächelte vor sich hin und spielte - immer wieder nett kommentierend - ihr bestes Album chronologisch und komplett - und mit dem obligatorischen Hinweis an der Stelle, an der die A-Seite beendet war. In den letzten Jahren erlebt man diese "wir spielen eines unserer Alben" Konzept ja immer wieder. Auch die Pixies waren mit Doolittle (und leider nicht auch mit Bossanova) auf Tour. Man kan an dieses Vorhaben ganz unterschiedlich rangehen, die Breeders wählten einen konservativen Weg und spielten alles, von Beginn an und in der richtigen Reihenfolge - was im Falle von Last Splash gewisse Probleme bereitete. Zum einen ist einer der Hits früh auf dem Album vertreten (Cannonball ist das zweite Lied), zum anderen sind auf der Platte einige Stücke, die man wohl sonst als Band nie spielte. 

Als sie nach 45 min mit Last Splash durch waren, hatten wir fast damit gerechnet, daß damit Schluß sein würde. Wir wollten schließlich eilig zu den nächsten alten Menschen, zu The Jesus and Mary Chain. Wieder ans andere Ende des Geländes.

Die Breeders hatten das anders geplant. "A couple of songs" sollten noch als Quasi-Zugabe kommen, eigentlich also zwei in Bandsprache. Es wurden fünf von den beiden EPs rund um Last Splash, darunter die beiden Cover Shocker in Gloomtown (Guided By Voices) und Happiness is a warm gun (The Beatles). 

Ich hatte keine - zumindest keine guten Erwartungen an diesen Auftritt, hatte aber Spaß. Es war deutlich besser als gedacht. Auch Kim Deal und ihre drei Begleiterinnen (darunter Schwester Kelley) und ihr Schlagzeuger schienen sich hervorragend zu amüsieren. Da war es auch nicht mehr schlimm, daß wir ihren Secret-Gig am Mittwoch vor kleinem Publikum verpasst hatten.

Setlist The Breeders, Primavera Sound Festival, Barcelona:

01: New year
02: Cannonball
03: Invisible man
04: No Aloha
05: Roi
06: Do you love me now?
07: Flipside
08: I just wanna get along
09: Mad Lucas
10: Divine hammer
11: S.O.S.
12: Hag
13: Saints
14: Drivin' on 9
15: Roi (Reprise)

16: Shocker in Gloomtown (Guided By Voices Cover)
17: Head to toe
18: Happiness is a warm gun (The Beatles Cover)
19: Safari
20: Don't call home



Donnerstag, 30. Mai 2013

Prag, Köln, 28.05.13

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Konzert: Prag 
Datum: 28.05.2013 
Ort: Werkstatt, Köln 
Zuschauer: Ca. 150 
Dauer: Ca. 105 Minuten 


von Ursula von neulich als ich dachte


Seit letztem Freitag bin ich Besitzerin einer Bahncard 100, was mich dazu befähigt, ohne weitere Kosten ein Jahr lang innerhalb Deutschlands jeden Zug zu nehmen. Das befähigte mich, vorgestern nach dem Büro mal eben in den Schnellzug nach Köln zu steigen und dort in der Ehrenfelder Werkstatt ein Konzert der Band Prag zu besuchen. 

Prag sind vor allem dafür bekannt, dass ihr prominentestes Mitglied die Schauspielerin Nora Tschirner ist. Leser des Konzerttagebuchs konnten sich aber schon in nicht weniger als drei positiven Rezensionen darüber informieren, dass die Band nicht nur ein Promi-Vehikel ist. 

Kennt man diese Berichte, stellt man fest, dass am Dienstag vieles "wie sonst" war, insbesondere die Setliste, die ist nämlich bei allen Konzerten der aktuellen Tournee gleich. Los ging es also auch in der Werkstatt mit dem Instrumentalstück "Leisetreter", für das zunächst eine aus drei Streichern (Geige, Bratsche, Cello), einem Trompeter, einem Keyboarder, einem Schlagzeuger und einem Bassisten bestehende, komplett schwarzweiß gekleidete Band einlief, dann auch die drei Protagonisten Erik Lautenschläger, Tom Krimi und Nora Tschirner. 

Nach dem ersten Lied mit Text, "Zeit", forderte Nora Erik auf, jetzt mal etwas
zum Publikum zu sagen, worauf wir kurz angeleuchtet wurden, damit die Band uns sehen konnte. Nora erzählte, in Köln habe es letztes Jahr bereits ein Prag-Konzert gegeben, und forderte die Besucher, die dort gewesen waren, auf, sich zu melden - was drei auch taten. 

Bei dem recht ausführlichen Geplänkel, vor allem von Nora, zwischen den einzelnen Liedern blieb es den ganzen Abend lang, was dazu führte, dass Prag es trotz ihres übersichtlichen Gesamtwerks auf eine Spiellänge von ca. 105 Minuten brachten. So ging es auch viel um einen Stuhl, den die ziemlich fortgeschritten schwangere Nora vorsorglich auf die Bühne gestellt bekommen hatte, und zu dem sie erklärte, sie habe ihn zwar ursprünglich haben wollen, er stehe aber eigentlich bloß im Weg. So bekam das Publikum den Stuhl ausgeliehen, um ihn abwechselnd zu nutzen, den frei gewordenen Platz nutzte Nora dann demonstrativ zum Tanzen. Erst für die erste Zugabe ("Einkauf") wurde er dann, wiederum mit vielen Scherzen, kurz zurück gefordert. 

"Wieder gut" wurde - auch das kann man bereits in anderen Berichten lesen - in einer neuen Countryversion dargeboten, von der Erik erzählte, sie sei von Tom arrangiert worden, um ein für alle Mal einen Streit mit Nora zu gewinnen - sie sei nämlich der Meinung, das Lied sei traurig gemeint, während Tom überzeugt sei, das der Text positiv zu verstehen sei. Was nun stimmt, verriet der Liedautor Erik nicht, allerdings meinte er scherzhaft, so, wie es jetzt klinge, sei das Lied sicher nicht gemeint gewesen. 

Extra für den Country-Teil setzte Nora einen Cowboyhut auf, und zwei Kölner Gäste fühlten sich dazu inspiriert, vor der Bühne besonders wild zu tanzen - auch zu "Warten", das sich ohne Unterbrechung anschloss. Diese Kölner! Sobald man irgendwo den Hauch einer Verkleidung sieht, denken sie, es sei Karneval! 

Der Band gefiel das Gehopse sehr gut, später gesellte sich Nora sogar kurz zu den vor der Bühne Tanzenden - um danach allerdings festzustellen, dass diese Begegnung hinsichtlich der selbst und vom Publikum empfundenen Peinlichkeit irgendwie wie "Schuldisco unter Fünfzehnjährigen" gewesen sei. Auch der Rückweg auf die Bühne fiel etwas beschwerlich aus, nachdem die Bandkollegen mit dem Kommentar "Nun sieh zu, wie du da wieder hoch kommst!" ihre Mithilfe verweigert hatten. 


Ein weiteres Kompliment erhielt Köln dann, als vor "Und jeder hält die Luft an" von Erik festgestellt wurde, die Bar am Rande des Publikums sei ungewöhnlich leise. Normalerweise nutzt die Band wohl das Gläserklirren als Einleitung zum Song ("Sie steht dort an der Bar und nippt kühl an ihrem Wein"), was angesichts der Abwesenheit von typischen Bargeräuschen nicht so recht klappen wollte. 

Bereits ein Klassiker der aktuellen Tournee ist die Einleitung zum letzten Lied
des Hauptteils, "Argumente 1000fach". Anscheinend war das kurze Intro, das Nora bei diesem Lied auf der Gitarre spielt, so ziemlich das erste, was sie für die Band eingeübt hatte, und sie beherrschte es lange Zeit perfekt. In letzter Zeit hat sich aber eine Blockade eingeschlichen, so dass sie versucht, sich während des Spielens abzulenken, damit sie es nicht verpatzt. Und so wurde das Publikum gebeten, Vorschläge zu machen, wen Nora während des Intros nachmachen könnte. Wir erfuhren auch, dass in den vergangenen Tagen bereits Angela Merkel und Farin Urlaub verwendet worden seien. Til Schweiger lehnte sie ab, weil sie keine Freunde imitieren wolle. Letztlich versuchte sie es mit Helge Schneider - und verhaute das Solo dennoch. Also wurde ein neuer Vorschlag gesucht, und mit Louis de Funes klappte es dann doch noch. 

Bereits vor Ende des Hauptteils war uns auch gesagt worden, dass die Band in jedem Fall für Zugaben zurückkehren werde, wenn wir es auch nur ein kleines bisschen wollten, schließlich seien die Lieder eingeübt - und so kam es dann auch, nach nur einigen Sekunden Pause ging es weiter mit "Einkauf", dem neuen Lied "Kein Abschied" und einer Coverversion der französischen Chansonistin Barbara, die angeblich zwischen Ace of Base und Dr. Alban auf Noras iPod vertreten ist. 

Als allerletzten Abschluss - auch das ist ein regelmäßiges Feature bei dieser Tour - wurde das Publikum darauf trainiert, für das Lied "Schicht im Schacht" eben diese Worte zu singen. Wie hier zwischen den Männer- und Frauenstimmen letztlich ein Kanon entstehen sollte, hat sich für mich zwar nicht wirklich erklärt, auch sonst würde ich den Song nicht gerade als Highlight bezeichnen - dennoch blieb ein positiver und unterhaltsamer Gesamteindruck des Abends zurück. Tatsächlich gefällt mir mittlerweile auch Prags Debütalbum immer besser. Sowohl musikalisch als auch unterhaltungstechnisch ein gelungener Abend und ein guter Einstand für meine Bahn-Dauerkarte. 

Setlist Prag, Die Werkstatt, Köln:

01: Leisetreter 
02: Zeit 
03: Sie ham's ja so gewollt 
04: Sophie Marceau 
05: Zweiter 
06: Einfach 
07: Ende 
08: Wieder gut 
09: Warten 
10: Vögel 
11: Und jeder hält die Luft an 
12: Drehbuch 
13: Bis einer geht 
14: Einfach ist gar nichts 
15: Argumente 1000fach 

16: Einkauf (Z)
17: Kein Abschied (Z)
18: Wenn schon sterben (Z)

19: Schicht im Schacht (Z)

Links:

- aus unserem Archiv:
- Prag, Frankfurt, 13.05.13
- Prag, Tübingen, 11.05.13
- Prag, Köln, 17.10.12



Mittwoch, 29. Mai 2013

Bruce Springsteen & The E-Street Band, München, 26.05.2013

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Konzert:  Bruce Springsteen & The E-Street Band
Ort: Olympiastadion, München
Datum: 26.05.2013
Zuschauer: 43.000
Dauer: 175 Minuten


Immer wieder richte ich meinen besorgten Blick nach Draußen, nach Unten, hinab zum Stadion. Ich sitze in der Aussichtsplattform des Münchner Olympiaturms, lese, während sich die Schleusen des Himmels öffnen und der Regen an die Fensterscheibe prasselt. Vor dem Stadion wartet bereits Stunden vor Beginn ein lange Schlange auf den Einlass, ich wärme mich lieber auf, bevor ich kurz vor Toröffnung vor der historischen Sportstätte stehe. 

Mehrere Stunden im Dauerregen bei Temperaturen von fünf Grad Celsius erwarte ich mein erstes Bruce Springsteen Konzert. Seit Jahren überfällig, war es der Tod des Big Man, des Saxophonisten Clarence Clemons, 2011, der mir auf schmerzliche Weise vor Augen führte, dass ein ständiges Verschieben keine Option sein könnte. Im letzten Jahr verpasste ich dennoch alle Deutschland-Konzerte und freute mich umso mehr, dass die „Wrecking Ball“-Tour verlängert, auch um weitere Europa-Konzerte bereichert wurde. Meine Wahl fiel auf München: Dass das Konzert unter derart widrigen Umständen stattfinden würde, konnte man beim Ticketkauf nicht ahnen, zahllose Kartenbesitzer traf man so vor dem Stadion an, Karten verramschend. Caipirinha ist Standard bei Open Air Konzerten, bezeichnenderweise wird heute auch Glühwein angeboten.
 
Um 19.15 Uhr erschallt tosender Applaus, der Boss betritt die Bühne. Ein paar Töne auf der Mundharmonika spielend, lächelt der muskulöse 63-jährige ins offiziell ausverkaufte Rund, begrüßt das Publikum auf Deutsch: „Servus, wie geht’s. Gluckwunsch zur Championship“, die Bezugnahme auf den Championsleague-Sieg des FC Bayern am Vortag lässt viele der Regenjacken tragenden Zuschauer das Wetter vergessen, umso stolzer hüllen sie sich in ihre Vereinsschals.

Ohne E-Street Band spielt Springsteen eine reduzierte Akustikversion des Creedence Clearwater Revival – Songs „Who'll Stop The Rain“. Darauf hätte man wetten können, so unberechenbar für gewöhnlich auch seine Konzerte sind. Der Regen wird zu keiner Minute enden, Jacken und Regencapes schützen nur bedingt. John Fogerty beschrieb einst seine Woodstock-Erlebnisse in der Hymne, dort war es zumindest wärmer. Sich nahtlos in dessen Tradition stellend wird es mit „Rockin' All Over The World“ gegen Konzertende ein zweites Stück aus der Feder des Kaliforniers geben, über dessen Band Springsteen einmal sinngemäß sagte, „CCR waren nie hip, aber sie waren die Größten“. Hip ist er selbst im Deutschland der Gegenwart wohl auch nicht mehr, aber wen kümmert das. Es ist egal, dass unter den 43.000 im Olympiastadion viele sind, die man wohl auch bei Bon Jovi oder Peter Maffay, dem er äußerlich immer erschreckender ähnelt, antreffen würde. Es ist egal dass Die Toten Hosen auf überdachten Tribünenplätzen zuschauen. 

Es gibt nichts besseres als Konzerte von Bruce Springsteen mit E-Street Band: Zu „Long Walk Home“ steht das fast 20-köpfige Ensemble dick eingepackt in wärmender Kleidung auf der Bühne, gleich dieser zweite Song wird auf Wunsch des Publikums gespielt. Der gradlinige Rocker von „Magic“, jenem letzten großartigen Ausrufezeichen der E-Street Band aus dem Jahr 2007, reißt mit, zeigt, dass Stadionrock eine gute Sache sein kann, die niemand besser beherrscht als der Boss. Springsteens Bühnenverhalten ist ehrlich, die Songs Weltklasse, alles andere sind Trittbrettfahrer oder Epigonen: Von Bon Jovi über Steve Earle bis zu The Gaslight Anthem, Mumford & Sons und Arcade Fire, so sehr ich sie zum Teil verehre. Ein klassischer Rock n' Roller ist der Mann aus New Jersey fraglos, aber auch ein begnadeter Storyteller, ein Songwriter von schier Dylan'schen Format. 
    
Vom epischen Hitalbum „The River“ wird nur „Out In The Street“ gespielt, mitgegrölt aus zehntausenden Mündern, da ist mir selbst das arrhythmische Geklatsche eines nervigen Nebenmanns völlig egal. Was ist die E-Street Band doch für eine unfassbare Truppe: Ganz in schwarz gekleidet steht eine Formation, die viel mehr ist als eine Backingband, auf der Bühne. Mit dunklen Stetson-Hüten leisten die ikonischen Gitarristen Nils Lofgren und Steven van Zandt eine großartige Show. Die musikalische Klasse Lofgrens, der auch zahlreiche fantastische Soloalben aufnahm und wertvolle Arbeit für Neil Youngs Crazy Horse leistete, kann kaum genug gelobt zu werden, während ich darüber nachdenke, ob man sich Sorgen um Little Steven machen muss. Der markante Gitarrist scheint während des ganzen Abends nicht wirklich mitzusingen, auch sein Spiel wirkt ein wenig steif. Sicher ist seine kantige Performance legendär, doch irritiert sie mich dennoch. Hoffentlich ist alles gesundheitlich in bester Ordnung.

Tracks“ heißt die große Raritäten-Box, auf der sich Outtakes, die es nicht auf die regulären Veröffentlichungen schafften, auf vier beeindruckenden CDs versammeln. Zwei dieser Perlen gibt es heute Abend im endzeitlichen Dauerregen; „My Love Will Not Let You Down“ aus der „Born In The USA“-Phase und als Reaktion auf ein Publikumsschild „Seaside Bar Song“, ein 1973 während der Aufnahmen zum zweiten Album „The Wild, The Innocent & The E-Street Shuffle“ entstandener Song mit echtem Hitpotential, den er tatsächlich erst zum 17. Mal überhaupt spielt. 
 
Der kleine Junge, der das Schild hochhielt, darf auf die Bühne, auch das gehört fest zu einer Springsteen-Show. Immer wieder werden Kinder eingebunden, sicher, das ist Routine, aber niedlich und sympathisch. Natürlich dürfen wieder Nachwuchsfans den Refrain von „Waitin' On A Sunny Day“ später im Set singen, witterungsbedingt ein weiterer naheliegender Song an diesem Abend. Textsicher und rhythmisch stimmig präsentieren gleich drei Mädchen und Jungen ihre Gesangsgabe, während Springsteen wie ein gütiger Onkel lächelnd hinter ihnen steht. Es wirkt fast so, als hätten die Eltern mit ihren Kindern für diesen Auftritt geübt, noch so etwas, das mich an Maffay denken lässt. Aber was soll's. Auf der Rückseite des kunstvoll gestalteten „Seaside Bar Song“-Schild wird sich das raffinierte „Rosalita (Come Out Tonight)“ gewünscht, das es im Gegensatz zum erstgenannten Lied auf das zweite Album schaffte.

Besonders die mehrköpfige Bläsersektion und Max Weinberg, einer der talentiertesten Rockdrummer der letzten 40 Jahre, spielen hier unglaublich. „Der hat zu viel geübt, der ist zu gut. Ein Wahnsinnsdrummer“, meint Achim Erz, der mit mir das Konzert besucht, selbst Schlagzeuger bei Bernd Begemanns formidabler Band Die Befreiung, anerkennend. Was ist „Rosalita“, doch für ein Monstrum von einem Song, ein Wolpertinger, ein Mischwesen aus so vielen Grundsteinen perfekter Popmusik, lyrisch wie musikalisch schwer zu übertreffen. Frauensongs gibt es im Springsteen'schen Kanon en masse, „Rosalita“ ragt mit Witz und Klasse heraus, „I ain't here for business baby, I'm only here for fun / And Rosie you're the one“.

Der verträumte mittellose Romantiker, dem Rosalitas Vater seine Armut entgegenhält („And your papa says he knows that I don't have any money“), könnte sich auch deprimiert und ausgebrannt in „Death To My Hometown“ und „Wrecking Ball“, vom gleichnamigen, aktuellen Album wiederfinden.

Es wird mir immer ein Rätsel bleiben, wie man das zutiefst gesellschafts- wie kapitalismuskritische Werk, des Hurra-Patriotismus bezichtigen kann, wie es in den USA tatsächlich geschehen ist. Vielmehr ist es ein wütender Soundtrack der Occupy Bewegung. Springsteen war für amerikanische Verhältnisse immer relativ links eingestellt, wenn auch nie so deutlich positioniert wie Steve van Zandt, machte Wahlkampf für demokratische Präsidentschaftskandidaten, zuletzt für Barack Obama, seinem vermutlich prominentesten Fan, der ihn als „lawyer of a generation“ bezeichnete und den mittlerweile fast legendären Satz, „I'm the president, but he's the boss“, prägte.

Wrecking Ball“ ist das ausweglose Zeugnis eines vom Kapitalismus ausgebeuteten Landes, zerstört von Spekulanten, zerfressen von Gier. Gleichzeitig kann man viele Zeilen als Aufbäumen in Zeiten der Rezession verstehen. Live gewinnt das Lied durch passende Chöre, Bläsersätze, harte Gitarrenriffs Lofgrens eine noch wutentbranntere Note, bevor Springsteen resigniert. konstatiert; „Now when all this steel and these stories, they drift away to rust / And all our youth and beauty, it's been given to the dust/ When the game has been decided and we're burning down the clock / And all our little victories and glories have turned into parking lots / When your best hopes and desires are scattered through the wind“.

Im direkten Anschluss gibt es „Death To My Hometown“, das mir heute weit besser als auf Platte gefällt. Die mich sonst so störenden Irish Folk Elemente erscheinen mir nun viel sinnvoller, vielleicht sogar zum Wetter passend. Die harten Riffs verdeutlichen, warum so oft Tom Morello von Rage Against The Machine als Gastgitarrist erschien, politisch wie musikalisch passt das wie die Faust aufs Auge. 

Springsteen steht wieder im Regen, knöpft das Hemd auf. Es ist die Solidarisierung mit dem Publikum, die einen nicht unerheblichen Beitrag dazu leistet, dass jedes einzelne Konzert ein ganz besonderes ist. Van Zandt stellt sich zu ihm in den Regen, zieht Grimassen; da kommt der begabte Schauspieler zum Vorschein, wie man ihn aus den Sopranos kennt. „The mighty E-Street Band has come thousands of miles tonight just to be here. We don't care about the rain. We deliver. We don't give a fuck about the rain. We're here tonight because we are on a mission“, ruft der Frontmann im kurzärmligen Hemd und beschwört das Publikum zur regen Teilhabe am Konzert. „Can you feel the spirit now?“ Dann gibt es „Spirit in the night“, jenen buchstäblich groovenden Song vom starken Debütalbum „Greetings From Asbury Park, NJ“. Die Zuschauer singen mit, die Bläser allen voran Clarence Clemons' Neffe Jake Clemons erzeugen ein stabiles Soundgebilde. Die Backing Vocalisten trumpfen groß auf, auch Lofgren, van Zandt und Bassist Gary Tallent, ebenfalls mit Hut, singen den Refrain mit.

Die Ankündigung, nun „Born In The USA“ komplett und in der richtigen Reihenfolge zu spielen, sorgt für tosenden Applaus. Ich hingegen bin skeptisch. Trotz oder vielleicht auch gerade wegen der enormen Hitdichte, war ich zu keiner Zeit ein großer Fan des so oft fehlinterpretierten Millionseller, der entschlüsselten DNA des Stadionrocks. Der Titeltrack schlägt erwartungsgemäß ein und steigert die Stimmung der frierenden, durchnässten Menge spürbar. Dass mediokre Songs wie „Cover Me“ oder „Darlington County“ mich nicht wirklich begeistern können ist nebensächlich, wenn andere Lieder, die mir zuvor nie richtig gefallen wollten, eindrucksvoll funktionieren. „Working On The Highway“ ist so ein Beispiel. Hatte ich zuvor Videos voller Schweißbänder und anderer Fehltritte der 80er im Kopf, habe ich heute nichts auszusetzen. Im Gegenteil, die Band spielt unglaublich, das Intro auf der Akustikgitarre ist perfekt, der Refrain setzt stimmig ein. Weniger gut gelingt es bei „Downbound Train“, es wird nie mein Lieblingsalbum sein, aber es ist eben auch „Dancing In The Dark“ und diese wundervolle Folge dreier Ausnahmesongs darauf: „I'm On Fire“, das vielleicht schönste Liebeslied aus Springsteens Feder, „No Surrender“, mit der unübertrefflichen Zeile „We learned more from a 3-minute record, baby / Than we ever learned in school“ und die Ode auf die Freundschaft zu Steven van Zandt, „Bobby Jean“.

Vier Lieder die „Born In The USA“ als Meisterwerk auszeichnen, die es rechtfertigen ein Album komplett zu spielen. Es ist das erste Mal, dass Springsteen dies in Deutschland macht und die Menge dankt es ihm. Vielleicht muss man das Ganze heute Abend als liebenswürdige Geste vor der Kulisse des miserablen Wetters betrachten. Ansagen gibt es zwischen diesen Songs keine. Springsteen tritt auf's Gaspedal, am Ende ist es mit knapp unter drei Stunden eines der kürzesten Springsteen Konzerte der letzten Jahre, was heute kaum einen stören dürfte, schließlich wird nicht an Liedern, sondern an Ansagen gespart. Natürlich sind die Springsteen'schen Monologe legendär, heute fällt ihr weitgehendes Fehlen jedoch kaum störend ins Gewicht. 
 
Zwei Songs vom 9/11-Bewältigungsalbum „The Rising“, das jede weitere musikalische Auseinandersetzung mit dem Terrorakt unnötig macht, folgen, dann ist „Badlands“ das Ende des regulären Sets. „Darkness On The Edge Of Town“ ist mit einem Song sicherlich unterpräsentiert, was auch an der Komplettpräsentation des 84er Hitalbums liegen dürfte, doch ist „Badlands“ mein absolutes Konzerthighlight. Die Energie ist überwältigend, Springsteen sucht immer wieder die Nähe des Publikums, Rituale wie der Fankontakt gehören dazu - bei jedem Wetter. Die düstere Strahlkraft „Badlands“ passt zum Abend, „Well, keep pushin till it's understood / And these badlands start treating us good“.

Wetterbedingt verlässt die E-Street-Band vor den Zugaben gar nicht erst die Bühne und Springsteen merkt an, man wolle mit einem Song zum Tanzen für ein wenig Aufwärmung sorgen. Die „Seeger-Sessions“ mochte ich nie, nichtsdestotrotz muss ich zugeben, dass mir das gut zehnminütige „Pay Me My Money Down“ heute Abend gefällt. Soozie Tyrell spielt Violine und überhaupt stören all die irischen Einflüsse währenddessen kaum, haben sie mir doch noch das Livealbum „Live in Dublin“ unerträglich gemacht. 

Ohne Ehefrau Patti Scialfa ist die E-Street Band dennoch opulenter gestaltet denn je zuvor. Ohne ein großer Fan von Backroundchören zu sein, erkenne ich die Leistung des E-Street Choirs ehrlich an, Roy Bittan (Klavier und Akkordeon) ist ohnehin über jeden Zweifel an seiner Klasse erhaben und auch Charles Giordano spielt an diversen Instrumenten tadellos.

Beim Verlassen des Konzerts freut sich neben mir jemand, dass „Born In The USA“ und nicht „Born To Run“ komplett gespielt wurde, ich muss wieder an meine Überlegung über das Maffay-Bon-Jovi-Publikum denken und schlucken, beweisen doch „Born To Run“ und „Tenth Avenue Freeze-Out“ heute Abend überdeutlich, was auf alle Zeit das Magnus Opus der großen Rockikone sein wird. Es gibt kaum größere Popsongs als „Born To Run“, kaum stärke Texte, keinen besseren Saxophoneinsatz in der Rockmusik als auf diesem Album, „I wanna die with you Wendy on the streets tonight / In an everlasting kiss“. Tränen des Glücks werden vom Regen aus meinem Gesicht gespült, ich bin überglücklich, sehe eines der besten Konzerte meines Lebens.

Dann setzt Jake Clemons zur großen Hommage an seinen Onkel an, „Tenth Avenue Freeze-Out“ berührt jeden, Clarence Clemons Antlitz erscheint auf dem großen Bildschirm hinter der Bühne, ein andächtiger Moment. Alle Bläser setzen ein und jeder spürt in diesem Moment, wie sehr Clemons fehlt.

Mit Fogertys „Rockin' All Over The World“ und einem „Twist And Shout“-Cover endet das Konzert. Anders als im vergangenen Jahr in London, als Springsteen des Song gemeinsam mit Paul McCartney spielte, schaltet niemand den Strom ab. Das Konzert endet nach nicht einmal drei Stunden, fast entschuldigend schickt Springsteen die Fans nach Hause, winkt ein letztes Mal, als seine Band schon die Bühne verlassen hat. 

Meine Hände sind aufgeweicht, ich friere, bin euphorisiert. Warum war ich vor einigen Jahren nicht in Düsseldorf, obwohl ich eigentlich Karten hatte, warum fuhr ich 2009 und letztes Jahr nicht nach Frankfurt? Leipzig und Mönchengladbach stehen noch auf dem Tourplan. Eigentlich sollte ich hinfahren. Es ist ein Virus, eine Sucht. Wer weiß wie viele Möglichkeiten es noch geben wird. Ich habe meine Lehren aus dem Tod des Big Man gezogen. Solange es Legenden gibt, ist es doch völlig nebensächlich, wer gerade hip ist.

„We gotta get out while we're young / `cause tramps like us, baby we were born to run“. 

Setlist, Bruce Springsteen, München (inklusive Video-Links):

01: Who'll Stop The Rain (Creedence Clearwater Revival - Cover)
02: Long Walk Home [Sign Request]
03: My Love Will Not Let You Down
04: Out In The Street
05: Seaside Bar Song [Sign Request]
06: Rosalita (Come Out Tonight) [Sign Request - Rückseite des vorherigen Schilds]
07: Wrecking Ball
08: Death To My Hometown
09: Spirit In The Night
10: Born In The USA
11: Cover Me
12: Darlington County
13: Working On The Highway
14: Downbound Train
15: I'm On Fire
16: No Surrender
17: Bobby Jean
18: I'm Goin' Down
19: Glory Days
20: Dancing In The Dark
21: My Hometown
22: Waitin' On A Sunny Day
23: The Rising
24: Badlands

25: Pay Me My Money Down (Z)
26: Born To Run (Z)
27: Tenth Avenue Freeze-Out (Z)
28: Rockin' All Over The World (John Fogerty Cover) [Sign Request] (Z)
29: Twist And Shout (incl. La Bamba) (The Top Notes Cover) (Z)

Dienstag, 28. Mai 2013

Mulatu Astatke, Barcelona, 24.05.13

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Konzert: Mulatu Astatke
Ort: Primavera Sound Festival, Barcelona
Datum: 24.05.2013
Zuschauer: volles Auditori
Dauer: 60 min



Die Versuchung ist riesig, die Vorgeschichte meines Mulatu Astatke Konzerts zu veschweigen und mich dadurch in ein intellektuelleres und kultivierteres Licht zu rücken. Ich wäre eben schon so früh am zweiten Festivaltag im Konzertsaal gewesen, weil ich mich für Ethio-Jazz interessierte. Punkt.

Ach, das nimmt mir doch eh keiner ab, also hier der wirkliche Hintergrund. Mit einer Freundin war ich 2010 beim von Belle & Sebastian kuratierten ATP. Dort begegnete uns der Name Mulatu Astatke, der neben all den Glasgower Bands, die einen Betriebsausflug in den Südwesten Englands gemacht hatten, nicht so ganz ins Programm zu passen schien. Ein Jazz-Musiker aus Äthiopien? Das klang nicht verlockend genug, um dafür eine der anderen B&S Lieblingsbands auszulassen. Wir ließen Mulatu Astatke also sausen und hätten vermutlich den Namen schnell wieder vergessen, wenn wir nicht vier Monate später die wundervollen Glasgower Zoey Van Goey in Köln interviewt hätten, die auch beim Bowlie waren, und die auf unsere Frage nach den besten Konzerten dieses Wochenendes antworteten:

Michael: großartig! Die Atmosphäre war so toll, alles vollkommen entspannt. Aber das Lineup war natürlich auch spektakulär. So viele ungewöhnliche Bands, so ein guter Mix! Für mich war zum Beispiel toll, Mulatu Astatke, den äthiopischen Jazzmusiker zu sehen... 
Kim: großartig!

Da war er wieder: Als ich das Programm des Konzertsaals am Rande des Primavera Festivalgeländes studierte, tauchte auch da der Name Mulatu Astatke auf - und mein Entschluß stand fest, daß ich ihn mir diesmal ansehen würde. In der halben Stunde vor dem möglichen Aufbruch, bezweifelte ich zwar wegen riesiger Müdigkeit noch kurz, ob die Idee so gut wäre, die Neugierde war aber größer als die Schlappheit, ich saß also wenige Augenblicke, bevor es losging auf einem der wenigen freien Plätze und gar zunehmend gespannter.

Gegen 17.15 Uhr betraten dann Unmengen an Musikern (alle männlich) die Bühne und nahmen ihre Positionen ein. Einen Pianisten, einen Kontrabass-Spieler, einen Cellisten, zwei Bläser, einen Schlagzeuger und einen Keyboarder machte ich aus. Als alle bereit waren, sprach der Saxophonist in sein Mikro wie ein Box-Ringsprecher: "Doctooor Muuulatu Astaaaatke!"

Mulatu Astatke stellte sich hinter ein Vibraphon und dirigierte sein Orchester. Ich finde es ungemein schwierig, Musik zu beschreiben, es ist auch vollkommen überflüssig, bei Jazz fällt mir dies noch viel schwerer. 

Die Stücke des Äthiopiers sind eingängig und kurzweilig. Obwohl das von mir so wenig geschätzte Saxophon fast immer zum Einsatz kam, war dies kein saxophonlastiger Jazz, wie man ihn aus schlechten Filmen kennt. Im Prinzip waren die Lieder mehr das, was Mogwai für die Indie-Musik darstellt: verspielte, ungemein melodiöse Stücke, nur mit Vibraphon- statt Gitarren-Wänden.

Ich habe bei Mulatus Kompositionen die gerne zitierten afrikanischen und lateinamerikanischen Einflüsse nicht stark herausgehört. Es klang nach Weltmusik im wörtlichen Sinne. Mulatu Astatke wurde in Großbritannien und den USA ausgebildet. Neben seinen afrikanischen Wurzeln sind diese Einflüsse sicherlich stark. Mögen Musikwissenschaftler jetzt einordnen, wie ungewöhnlich die Kunst des Äthiopiers ist. Mir jedenfalls gefiel die extrem kurzweilige, vom Vibraphon-Spiel dominierte Musik ganz ausgezeichnet. Es kam mir weit weniger lang als eine Stunde vor, was ein guter Maßstab zu sein scheint. Richtig ungewöhnlich wurde es aber gegen Ende. Es hatte zwar nach jedem Stück explodierenden Applaus des erstaunlich jungen Publikums gegeben. Aber erst kurz vor Ende brachen die Dämme. Erst standen nur einzelne Zuschauer auf, dann liefen erst ein paar, dann immer mehr in den kleinen Freiraum vor der ersten Reihe und tanzten zur Musik des Mannes, der ihr Großvater sein könnte, es war fabelhaft!

Mir bleibt jetzt nur noch, ein Dankesmail nach Glasgow für diesen guten Tipp zu schicken. Und mir fest vorzunehmen, häufiger mal über den Rand des Indiesüppchens zu gucken. Es muß allerdings schon der richtige Rand sein.


The Jesus and Mary Chain, Barcelona, 24.05.13

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Konzert: The Jesus and Mary Chain
Ort: Primavera Sound Festival, Barcelona
Datum: 24.05.2013
Zuschauer: zigtausend
Dauer: gut 70 min



"Stop! That's it, that's enough!" - "Hope you enjoyed it." Hätte ich nur das Ende des Konzerts mitbekommen, das plötzliche Abwinken der Band durch Sänger Jim Reid, ich hätte den Kopf geschüttelt. Mit "das reicht jetzt" ein Konzert zu beenden, auf das Massen begeistert gewartet hatten, hört sich abgezockt und arrogant an. Da ich allerdings vorher in den Genuß eines 70 minütigen Auftritts gekommen war, der so viel besser war, als ich gedacht hatte, war das Ende ein amüsanter Schlußpunkt.

Vor gut 25 Jahren waren The Jesus and Mary Chain live wohl so etwas wie Peter Doherty heute. Man konnte mit einem Skandal rechnen, wenn man die Schotten anguckte. Höhepunkt dieser ausufernden 15-Minuten-Konzerte war "The Jesus and Mary Chain Riot" im North London Polytechnic am 15.03.85, ein Abend, der mit einem kurz- und kleingeprügelten Saal und einer in ihre Garderobe geflücheten Band endete.

Heute ist Sänger Jim Reid 51, sein Bruder William 54 Jahre alt. Dem ersten Ende ihrer Band ging eine Prügelei der beiden auf der Bühne voraus, nach der William ausstieg. Seit 2007 gibt es die Band wieder, die wilden Jahre scheinen vorbei, der Musik hat dies im Fall der Schotten vermutlich genutzt. In Würde gealtert (und ergraut) gilt für The Jesus and Mary Chain uneingeschränkt. Der Auftritt am Freitagabend war durch und durch hervorragend und machte großen Spaß!


Die grauhaarigen Männer mit ihren Gitarren standen vor einem großen Neon-Kruzifix, verzichteten aber ansonsten auf jeden Schnickschnack (auf auf Ansagen). Sie spielten eben ihre Hits, die bei mir immer wieder zu aha-Effekten führten. Genau, das gibt es ja auch noch, toll! Der Großteil der Stücke stammte von den beiden Albem Automatic (88) und Honey's dead (92). Erst ganz am Ende folgten die Songs vom Debüt Psychocandy, das in jeder Plattenbestenlisten auftaucht, die etwas von sich hält.


Und bei einem der Lieder gab es dann doch noch Schnickschnack. Zu Just like honey kam Bilinda Butcher von My Bloody Valentine mit auf die Bühne, um mit einem Hauch von Stimme so etwas wie einen Duett-Part zu geben. Das war zwar nicht so glamourös wie der Gastauftritt von Scarlett Johannson beim Comeback in Coachella 2007, es war aber ein sehr schöner Moment.

Auch wenn keine Flaschen flogen und sich niemand prügelte, war der Auftritt auf der neuen Hauptbühne denkwürdig. Alte Helden, die nicht nur wegen ihrer Vergangenheit glänzen - und live vermutlich tausendfach besser sind als vor 25 Jahren.

Setlist The Jesus and Mary Chain, Primavera Festival, Barcelona:

01: Snakedriver
02: Head on
03: For gone and out
04: Between planets
05: Blues from a gun
06: Teenage lust
07: Sidewalking
08: Cracking up
09: All things must pass
10: Some candy talking
11: Happy when it rains
12: Halfway to crazy
13: Just like honey (mit Bilinda Butcher)
14: Reverence
15: The hardest walk
16: Taste of Cindy
17: Never understand



LUAI, Karlsruhe, 27.05.13

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Konzert mit LUAI
Ort: Karlsruhe
Datum: 27. Mai 2013
Zuhörer: 15
Dauer: 60 min


Dieses Konzert war viral entstanden. LUAI hatte sich von Amy Schmidt anstecken lassen und ich hatte mich vom Enthusiasmus der beiden infiziert bereit gefunden, mich auch einzumischen. So steht nun der Südwestecke Deutschlands ein Kennenlernen mit dieser eigenwilligen finnischen Künstlerin bevor mit Konzerten in Karlsruhe, Freiburg und Stuttgart bevor es über Würzburg nach Chemnitz gehen wird.



Ein bisschen spannend war der Moment vor dem persönlichen Kennenlernen doch wieder, wenn auch diesmal eher in positiver Vorerwartung. Aber alles klappte wie geplant und auch Petrus hat sich dann nicht lumpen lassen und uns einen wahrhaft herrlichen Sommertag dazugelegt. 



So fanden sich ab 19:15 Uhr zunächst in unserem Garten Freunde und Nachbarn ein und ließen sich später mit auf die Reise nehmen. Wir haben zusammen festgestellt, dass es auch sehr schön ist, LUAI auf finnisch singen zu hören. Sie war dann aber nicht faul, uns ihre Muttersprache auch selbst in den Mund zu legen und wir durften beim gewünschten zusätzlichen finnischen Lied den Ausklang seufzend mitsingen.



Nach einer Stunde voller intensiver Lieder an Gitarre und 6-saitiger Ukulele setzten wir die Unterhaltung noch lange mit Geschichten über Erfahrungen im Ausland, das Leben in Finnland, Saunakultur, Leben im Dunkeln und im Hellen und das Faszinosum des Wohnzimmerkonzertes fort. Wieder ein wunderbarer Abend. Ich hätte mir nur noch mehr Zuhörer gewünscht.





Montag, 27. Mai 2013

Camera Obscura, Barcelona, 25.05.13

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Konzert: Camera Obscura
Ort: Primavera Sound Festival, Barcelona
Datum: 25.05.2013
Zuschauer: wie überall sagenhaft viele - 8.000 vielleicht
Dauer: gut 50 min




Von der nahegelegenen Primavera-Stage, die in den vergangenen Jahren noch die Hauptbühne war wummerten noch die "motherfuckers" des Wu-Tan Clans rüber, als sich der Vorplatz der Ray Ban Stage rapide füllte. Obwohl ich wegen der parallelen Ansatzung zu Nick Cave Hoffnung hatte, daß der Camera Obscura Auftritt nicht so schrecklich überfüllt sein würde, wollte ich früh da sein, um nicht irgendwo am Rand hinten stehen zu müssen, auf einem der Plätze ohne echtes Konzertgefühl.

Unterschätzt hatte ich, wie groß Camera Obscura in Spanien sind, obwohl es ein Indie-Pop Land ist. Natürlich waren Freitag und Samstag spätestens ab 20 Uhr alle Bühne voll, zu Camera Obscura waren aber offenbar viele ganz gezielt gekommen und nicht etwa, um den noch größeren Bühnen auszuweichen. Die Jutetaschen und T-Shirts überall im "Innenraum" (merkwürdiger Begriff bei einer Openair Veranstaltung - aber hinten gab es auf dieser schönen Bühne auch Tribünen) sprachen eine deutliche Sprache. Beim zweiten Stück Swans, spätestens aber bei French Navy zwei weiter sangen alle freudestrahlend mit. Indie-Pop Land eben.

Für Deutsche sind Camera Obscura eine echter Luxus, die Band tritt extrem selten hier auf. Ich hatte die Glasgower bisher erst einmal sehen können, beim von Belle & Sebastian veranstalteten Bowlie. Seit dem ATP Festival 2010 hat die Band, sofern lastfm nicht lügt, nur zweimal in Glasgow, in Carlisle und beim SXSW 2013 gespielt. Der Auftritt beim Primavera war also das erste große Konzert seit langer Zeit. 

Vermutlich hatten die technischen Probleme zu Beginn aber nichts damit zu tun. Als es eigentlich um 23.30 Uhr losgehen sollte, tat sich erst einmal nichts. An Carey Landers Keyboards oder MacBook gab es größere Probleme. Vier Musiker und Techniker standen ziemlich ahnungslos um den Tisch rum und suchten nach einer Lösung. Mit sieben Minuten Verspätung gab man vorerst auf - ein Techniker kam danach aber in jeder Pause zurück, nahm die Brille aus der Strickjacke und suchte weiter. Diese Prozedur zog sich durch große Teile des Konzerts.

Es klang aber trotzdem toll - auch wenn ich das als wenig objektiver Fan vielleicht nicht richtig beurteilen kann.

Camera Obscura spielten in der Besetzung, die ich (wohl) schon kannte. Neben Sängerin Tracyanne Campbell (vor der ich immer ein wenig Angst habe - sie wirkt sehr einschüchternd!) standen die beiden vierschrötigen Gitarre- bzw. Bassspieler Kenny McKeeve und Gavin Dunbar, am Schlagzeug Lee Thomson, daneben ein Keyboarder und Trompeter (den ich nicht richtig erkennen konnte) und ein Teilzeit-Gitarrist. Es schmetterte richtig gut!

In der ersten Hälfte des Konzerts präsentierte die Band zwei neue Stücke vom Anfang Juni erscheinenden Album Desire Lines. Beide klangen sehr gut, waren aber nicht auf Anhieb Hits der Größenordnung French Navy. Aber irgendwie ist das auch nicht untypisch für Camera Obscura. Viele der großen Knüller der Band sind nicht unbedingt catchy und brauchen eine Weile, um ihre Wirkung zu entfalten. Insofern bin ich recht sicher, daß das Album ein Hit wird.

Die zweite Hälfte - die best-of-Show - bot Knüller um Knüller. Let's get out of this country, If looks could kill, Hey Lloyd... toll! Oh, wie ich diese oft ein wenig spröde wirkende Band liebe! Schade war der Stolperstart, der uns sicher mindestens einen Song gekostet hat, ansonsten war das Konzert eines der Highlights des Festivals, das ich mir erhofft hatte. Auf der Primavera Stage hatten die MCs (sagt man das so?) vom Wu-Tang Clan das Publikum in "Barcelonia" mit "Wu-Tang, motherfuckers" aufgestachelt. Wu-Tang, motherfuckers? Pfff! Cam Obs, motherfuckers!

Setlist Camera Obscura, Primavera Festival, Barcelona:

01: Do it again
02: Swans
03: neu
04: French Navy
05: Tears for affairs
06: Teenager
07: neu
08: Let's get out of this country
09: Hey Lloyd, I'm ready to be heartbroken
10: If looks could kill
11: Come back Margaret
12: Razzle dazzle Rose

Links:

- aus unserem Archiv:
- Camera Obscura, Paris, 16.10.09
- Camera Obscura, Paris, 17.04.09
- Camera Obscura, Paris, 16.04.09

Les concerts à Paris de la semaine du 27 mai au 2 juin 2013

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Les concerts à Paris de la semaine du 27 mai au 2 juin 2013

Très belle semaine de concerts en perspective! Il y a plein de chouettes trucs et souvent on a l'embarras du choix. Et on plus je vais organiser deux nouvelles Oliver Peel Sessions, le 31 mai avec Malvina Meinier, Koschka et Liz Greenfield (spoken word, poetry), puis le 2 juin avec House Of Wolves et Emma Russack (photo)! Yeah!! Dites moi si vous voulez venir et je vous invite!



27.05.2013: Apparat plays Krieg und Frieden, Café de la Danse
27.05.2013: The Burning Hell, & Jake Nicoll, Pop In
27.05.2013: Cocorosie, Théâtres des Bouffes Du Nord, complet
27.05.2013: Sarah Neufeld (violoniste d'Arcade Fire), Point Ephémère, annulé, mais Sarah joue gratuitement à 19 h au restaurant de la Maroquinerie!
27.05.2013: Beach Fossils, La Maroquinerie
27.05.2013: Two Gallants, Sallie Ford & The Sound Outside, Steve Earle & The Dukes, Le Trianon
28.05.2013: Aline et Autour de Lucie, Alhambra 
28.05.2013: Health, Nouveau Casino 
28.05.2013: Vanille, Restaurant La Goia, 22h30 au 188bis, Rue de Rivoli
28.05.2013: Sin Fang & Pascal Pinon, Café de la Danse
28.05.2013: The Babies (avec Cassie de Vivian Girls et Kevin de Woods), Le Point Ephémère, Route Du Rock Session
28.05.2013: Coco Rosie, Trianon, complet
28.05.2013: The Phoenix Foundation, Espace B
29.05.2013: The Besnard Lakes & Pins, La Flèche d'or
29.05.2013: Bertrand Belin, La Gaité Lyrique
29.05.2013: The Undertones, La Maroquinerie
29.05.2013: Showcase Feather Feather & Jeanne La Fonta, International Records
29.05.2013: Daughn Gibson, Point Ephémère 
29.05.2013: Dom La Nena, Café de la Danse
29.05.2013: June & Lula, La BouleNoire
29.05.2013: Hanni El Khatib, Trabendo
30.05.2013: Money, Espace B
30.05.2013: Thurston Moore, La Gaité Lyrique
30.05.2013: Dominique A, Le Trianon
31.05.2013: BRNS & Arch Woodmann, EMB Sannois
31.05.2013: Oliver Peel Session avec Koschka& Heimprofi & Malvina Meinier & Liz Greenfield

Juin


01.06.2013: Trampled By Turtles, La Maroquinerie
01.06.2013: Festival Maison Sauvage # 1 avec Kinrisu et autres, programmation détaillé ici
01.06.2013: Dark Dark Dark, Le Trabendo
01.06.2013: Iron & Wine, La Cigale,
01.06.2013: House Of Wolves, Showcase Boutique Fargo, 17 h
01.06.2013: The Breeders performing Last Splash, Trianon
02.06.2013: House Of Wolves, Showcase @ La Fabrique Balades Sonores, 18 h
02.06.2013: Oliver Peel Session avec House Of Wolves & Emma Russack


Woodpecker Wooliams, Darmstadt, 26.05.13

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Konzert: Woodpecker Wooliams
Ort: Gute Stube in Darmstadt
Datum: 26. Mai 2013
Dauer: 60 min
Zuhörer: knapp 50


Auf den Ausflug in die Gute Stube hatte ich mich schon länger sehr gefreut. Es kamen einige günstige Umstände zusammen, dass ich mal wieder der Einladung der Darmstädter folgen konnte.


Nachdem ich die Musik von Woodpecker Wooliams ja in Paris schon begutachtet hatte, konnte ich meinen Mann überreden, mitzukommen, d.h. wir konnten zusammen mit dem Auto fahren. Das macht das Heimkommen sehr viel einfacher und die Vorfreude ist nicht durch Bedenken getrübt, ob ich den letzten Zug kriege und die Anschlüsse alle klappen. Ganz auf die letzte Minute gab es noch die Nachricht, dass wir auch Sebastian aus Berlin dort antreffen würden, der uns die Gäste für unsere ersten Wohnzimmerkonzerte zu treuen Händen überlassen hatte. Wir hatten uns aber zuvor noch nie persönlich getroffen. Das würde nun an einem so netten Ort nachgeholt werden können. Wie schön!



Anfahrt und Eintreffen verliefen gut und es war eine herzliche halbe Stunde vor Beginn des Konzerts drin, in der wir viele Leute in die Arme nehmen konnten und Neuigkeiten austauschen. Die Gute Stube füllte sich auch recht gut und wie immer direkt nach der Tagesschau ging es los.



Gemma war diesmal ohne Begleitband da. Sie trat wie eine Schauspielerin auf die Bühne: Schlurfend kam sie hinter dem Vorhang hervor, legte ihre Jacken ab, drehte eine in der Dekoration stehende Fotographie auf's Gesicht, setzte sich auf den Boden vor dem Telefon, klemmte sich den Hörer zwischen Schulter und Ohr und begann ihr erstes herzzerreissendes Lied an der Harfe:




Auch später im Set gab es stets vollen Körpereinsatz und zum Teil bühnenreife Einlagen. Z.B. wiegte sie ihre Gitarre wie ein Baby in den Schlaf und bettet es anschließend weich mit ihrer Strickjacke als "Kopfkissen" auf den Boden.



Ganz am Ende saß sie mit einer Harfe auf dem Schoß im Publikum und sang von dort aus unverstärkt. Schließlich zog sie sich wieder an und verließ die Bühne so, dass eine Zugabe ausgeschlossen war. Das Publikum klatschte zu allen Stücken wohlwollend und ließ sich auf die teils fast hysterisch zu nennenden Stücke ein. 


Ich ging aber mit gespaltenem Herzen heim. So schön es in der Stube war und so sehr ich die Musik interessant und intensiv finde, bei mehreren Stücken setzte sie Elektronikschnipsel als Hintergrund ein, die ich nicht anders als Körperverletzend beschreiben kann. Gleich im zweiten Stück gab es hohes Gefiepe auf wechselnden Frequenzen während der ganzen Dauer des Stücks von dem mir heute noch die Ohren klingeln (trotz Hörschutz) und auch später spielte sie zum Teil gegen Krach an.  Ich kann darin keinen Sinn erkennen und ich weiß auch nicht, was sie dazu bringt, ausgerechnet die Ohren der Zuhörer so zu behandeln. Der Aspekt hat mich ziemlich runtergezogen. Ich hätte es normalerweise auch direkt Gemma gegenüber angesprochen, aber ich wollte meinen Mann (der dem entflohen war) nicht unnötig lange im Regen warten lassen. So ein Konzert ist ja auch so eine gewisse Vertrauenssache: Ich höre aufgeschlossen zu, was die Künstlerin erzählt. Aber ich fühlte dieses Vertrauen ziemlich grob mißbraucht. In Karlsruhe wäre ich wahrscheinlich während des Fiepsstückes gegangen und nach Hause gefahren.




Aus unserem Archiv:
Woodpecker Wooliams, Paris, 2. April 2013 (Oliver)
Woodpecker Wooliams, Paris, 2. April 2013 (Gudrun).


 

Konzerttagebuch © 2010

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