Mittwoch, 2. Juni 2010

Sophie Hunger, Paris, 02.06.10


Konzert: Sophie Hunger

Ort: La Cigale, Paris
Datum: 02.06.10
Zuschauer: gut gefüllte Ränge, aber nicht ganz ausverkauft
Konzertdauer: 100 Minuten


Résumée en français ci-dessous!


"Allein schon der Name weckt nicht mein Interesse und wenn ich dann die Fotos sehe: sie sieht so brav und bieder aus". Meine Freundin Uschi, die bekanntlich einen hohen Fachverstand hat wenn es um Musik geht, ging mit Sophie Hunger hart ins Gericht. Aber sie hat die Schweizerin eben noch nie auf einer Bühne gesehen, sonst würde sie vielleicht anders urteilen. Das Liveerlebnis hatte ich also der guten Uschi voraus, denn vor ziemlich genau einem Jahr hatte mich Sophie in der kleinen Boule Noire schwindelig gespielt und mir eines der emotionalsten Konzerte meines Lebens bereitet. Besoffen vor Glück schrieb ich noch in der gleichen Nacht einen euphorischen Konzertbericht, der fast einem Liebesbrief glich. Inzwischen ist aber schon wieder einige Zeit ins Land gegangen und CDs der Schweizerin habe ich 2010 noch kein einziges Mal gehört. Der Hype war bei mir erloschen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Oder so. Mit klarem Verstand und sehr nüchterner Stimmung fuhr ich also heute zur Cigale, ohne so richtig zu wissen, was mich erwarten würde. Mein Puls ging ganz normal als ich die Treppenstufen erklomm und ins Theater eindrang, wo Sophie und ihre Band schon angefangen hatte. Es war gerade einmal 20 Uhr 50, aber das Konzert war schon in vollem Gange. So etwas nennt man dann wohl Schweizer Pünktlichkeit, normalerweise tut sich hier vor 21 Uhr/21 Uhr 15 nie etwas. Ich war etwas verwirrt, denn mein Fotopass wurde unter der Auflage erteilt, nur Lied Nummer 4, 5 und 6 von der von der Bühne recht weit entfernten Konsole zu knipsen. Wie sollte ich jetzt wissen, wann Lied vier dran ist? Ob man mich ins Gefängnis sperren würde, wenn ich schon bei Lied drei knipse? An der Konsole angekommen, wurde ich von einer Besucherin von hinten angeschissen: "He, sie da, gehen sie mal zur Seite, ich sehe nichts." Ich verwies wichtigtuerisch auf meinem Aufkleber, der mich als Fotopassinhaber auswies. Die Nummer zog, die Frau wurde ganz kleinlaut und entschuldigte sich fast. Ich schoss triumphierend ein paar Fotos, aber die Entfernung war für meinen beschissenen Apparat zu weit (ich brauche unbedingt eine Spiegelreflex, Spenden werden gerne entgegengenommen, danke!). Die Bilder hätte ich gleich alle in die Tonne kloppen können! Ich war sauer und das Konzert plätscherte an mir vorbei. Erst bei dem Noir Desir Cover Le Vent Nous Portera wurde ich zum ersten Mal hellhörig. Ein guter Song einer starken französischen Band, deren Werk aber durch den Totschlag des Sängers Bertrand Cantat an seiner Frau Marie Trintignant 2003 mit einem unauslöschlichen Makel behaftet ist. Darf man Lieder covern, die ein Mörder geschrieben hat? Klugscheißer verweisen darauf, daß der Song bevor der brutalen Tat komponiert wurde. Schön und nahegehend ist er auf alle Fälle. Und Sophie und Band haben es verstanden, ihn perfekt in ihr Repertoire einzugliedern und harmonisch zu instrumentieren. Ein paar Auszüge der Parolen übersetzte die Hunger sogar ins Deutsche, für wen weiß ich auch nicht so recht. Für mich vielleicht? Nein, natürlich nicht, hier und heute waren ja auch noch andere deutschsprachige Leute im Publikum.

Ich bewegte mich nun von der Konsole weg, um näher dran zu sein. Die Fotos waren mir egal, was zählte war, in das Konzert so richtig reinzukommen. Manchmal gelingt einem das nicht, weil man zu müde, der Saal zu heiß, oder der Künstler zu lahm ist. Lahm ist Sophie Hunger zwar auch, aber ihre Langsamkeit hat etwas ungemein Beruhigendes in einer Zeit der Zappelphilippe. Zwischen den Liedern nimmt sie sich oft viel Zeit und als sie die Band vorstellte, ging damit eine gefühlte viertel Stunde drauf. Ich hörte Namen, die ich noch vom Konzert in der Boule Noire her kannte: Flury, Prader und Sartorius unter anderem. Eine tolle Band, die fabelhaft zusammenspielte und Sophie Hunger perfekt in Szene setzte. Die immer etwas schüchtern und verunsichert wirkende Sängerin war heute in ein orangefarbenes Kleid gehüllt und trug dazu schwarze Leggings. Simpel, aber nicht unelegant. Wenn ich aber sage, daß sie ziemlich langsam ist und damit eine Klischeevorstellung untermauert, die man von Schweizern hat, dann gilt das nur für die Zeit zwischen den Liedern. Sobald sie am Klavier sitzt, oder Gitarre spielt, wirkt sie wie verwandelt. Aus dem schüchternen Mädchen wird dann eine angriffslustige, selbstbewußte Dame, die den Zuschauer in ihren Bann zieht. Auch ich war inzwischen so richtig schön in Schwung gekommen und genoß das Konzert von Lied zu Lied ein bißchen mehr. Mit dem recht rockigen Citylights Forever vom aktuellen Album 1983 platzte dann bei mir der Koten. Spät, es handelte sich um den vorletzten Titel des offiziellen Sets, aber noch rechtzeitig genug. Dann wurde es melancholisch. Die Schweizerin setzt sich hinter ihr Piano und performte die herzerweichende Ballade Rise And Fall. Vor mir quengelte die Trombone von Michael Flury und plötzlich stieg in mir eine unglaubliche Ergriffenheit auf. Tränen schossen mir in die Augen, da ich plötzlich schmerzhaft an Beerdigungen von mir sehr nahe stehenden Menschen denken musste. Rise And Fall wirkte auf mich wie ein Trauermarsch und am Ende stand ich schluchzend wie ein kleiner Junge da. Aber das Ganze hatte auch etwas Befreiendes, mir ging es bald wieder besser.

Der Zugabenteil wurde zum Triumphzug. Den Text von Walzer Für Niemand verstand zwar nicht jeder Franzose, aber die intime, warmherzige Atmosphäre übertrug sich auf alle hier. Das zum Teil ziemlich reife Publikum (es waren auch ein paar Leute jenseits der 50 da) guckte gerührt und glückseelig auf die Bühne und verfolgte die Mimik von Sophie. An dieser kann man sehr gut ihre Stimmungslage ablesen und wenn sie die Mundwinkel verzieht, weiß man, daß sie gerade leidet. Oft schaute sie aber auch weltentrückt in die Luft, so als wolle sie den lieben Gott um Hilfe bitten. Hilfe von Seiten des Publikums brauchte sie auch immer mal wieder, wenn sie Dinge auf französisch erklären wollte. Zwar beherrscht sie die Sprache Molières recht gut, aber flüssig war es nicht, was sie so erzählte. Egal, die Zuschauer erkannten ihren guten Willen und halfen ihr auf die Sprünge, wenn sie stockte. Als sie erklären will, daß sie vor fast genau einem Jahr gleich gegenüber in der kleinen Boule Noire vor 100 Zuschauern gespielt hat, leistet sie sich einen Versprecher: "Jai joué devant 100 pourcent", sagt sie ("Ich habe vor 100 % gespielt"), will aber eigentlich ausdrücken: "Jai joué devant 100 personnes." ("Ich habe vor 100 Leuten gespielt"). Die Leute schmunzeln, aber Sophie schickt schlagfertig hinterher: "100 personnes c'est 100 pourcent la-bas" ("100 Leute bedeuten dort 100 %ige Raumauslastung)". In der Sache stimmte das zwar nicht, denn in die Boule Noire passen zwischen 200 und 250 Leute, aber das spielte gar keine Rolle. Klar war, was sie ausdrücken wollte, nämlich, daß sie es kaum glauben kann, heute vor mindestens 1000 Leuten aufzutreten. Das würde sie sehr berühren und man merkte ihr an, daß sie das aufrichtig meinte. Inzwischen hatte sie das Publikum komplett in der Tasche, die Leute fraßen ihr aus der Hand und die Jubelstürme kannten keine Grenzen mehr. Sie hat die Massen elektrisiert, anders kann man das nicht ausdrücken. Zum Dank gab es etliche umjubelte Zugaben und den Abschluss mit dem Song Train People, dessen Story sie auch ein wenig erklärt hatte. Emotional aufgeladen, vergaß ich aber wieder, was sie zu erzählen hatte.

Am Ende wollten die Franzosen sie gar nicht mehr gehen lassen, sie klatschten und klatschten und die Schweizerin klopfte immer wieder mit der Faust auf ihren Brustkorb, um auszudrücken, daß ihr dies zu Herzen ging. Am Bühnenrand und völlig akustisch spielte die Band dann im Sitzen noch ein allerletztes Lied. Es beschloß einen sehr emotionalen Konzertabend, bei dem mich die junge Künstlerin erneut verzaubert hatte.


Aftershow: Vor der Cigale treffe ich ein sehr nettes Bandmitglied von Sophie Hunger. Er erzählt mir, daß sie bald bei einem großen Festival in Frankreich spielen werden und sie auch beim Haldern Pop dabei sind. "Toll, da spielen nur klasse Gruppen!", beglückwünsche ich ihn und höre plötzlich deutsche Passanten gröhlend die Straße runterziehen. Die besoffenen Schweine waren bei den fiesen Beatsteaks in der Boule Noire gleich neben der Cigale und bestätigen die These: jede Band hat die Fans, die sie verdient. Eine von den deutschen Bräuten, die bei den Beatsteaks war, glotzt den Programmzettel der Cigale an und meint zu ihrem Freund: "Sophie Hunger? Kenn ich nicht!" Das beruhigt mich ungemein, denn aus diesem Lager braucht die Schweizerin nun wirklich keine Fans. Uschi lege ich aber Sophie Hunger noch einmal mit Nachdruck ans Herz!

Pour nos lecteurs français:

Quel beau et émouvant concert de la jeune Suissesse Sophie Hunger, j'avais les larmes aux yeux! On parle ici d'une fille timide (limite angoissée) et simple, mais terriblement attachante et bourrée de talent. La beauté ressort par ses yeux, elle met tout son coeur dans chaque morceau et mérite amplement l'ascension au sommet. L'année dernière elle jouait encore à la miniscule Boule Noire à côté, aujourd'hui elle remplit La Cigale. Parfaitement entourée par son groupe la demoiselle Hunger a même donné quelques leçons d'allemand et a fait l'effort de parler en français la plupart du temps: "J'ai joué devant 100 pourcent à la Boule Noire il y a un an. Non, excusez-moi j'ai joué devant 100 personnes et 100 personnes veut dire que le concert était complet donc la salle était remplie à 100 pourcent".

Ses dernìères chansons, incroyablement touchantes , ont mis tout le public debout pour applaudir longuement. Une chose est sûr: cette fille a quelque chose! Une jeune femme qui devient une star en si peu de temps et reste simple et accessible, je dis bravo!

Aus unsererm Archiv:

Sophie Hunger, Köln, 09.05.09
Sophie Hunger, Paris, 23.03.09



3 Kommentare :

Anonym hat gesagt…

Wieder ein wunderbar geschriebener Bericht, mille mercis!
Manche sind so unterhaltsam, dass mir die Musik fast nebensächlich ist. Ich fänd’s toll wenn ihr die besten Konzertbesprechungen als kleines Buch verőffentlichen würdet, zusammen mit den Fotos! 8,90 Euro wär’ ich bereit zu zahlen.

Ich muss aber anmerken, dass es kein Mord, sondern Todschlag war, und dass Cantat seine Strafe abgesessen hat.

Bis bald, bises, Uschi

Oliver Peel hat gesagt…

Mit 8, 90 pro Buch werden wir aber keine Millionäre, Uschi...

Ja, Totschlag, das schrieb ich ja auch zunächst, aber Mörder klingt dramatischer. Journalistische Kunstgriffe gehen mir inzwischen juristischer Genauigkeit vor. Sage ich als Jurist mit abgeschlossenem 1. Staatsexamen :)

Pest Krause hat gesagt…

Ähnlich ergreifende Erfahrungen habe ich beim Konzert Frau Hungers in Leipzig machen dürfen. Da trug sie auch ihr rotes Kleid und meine (unter erschwerten Bedingungen geschossenen) Fotos sehen ziemlich ähnlich aus.

Tolle Frau, tolle Band, tolle Musik, tolltoller Abend.

 

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