Konzert: Wilco
Datum: 29.05.2007
Ort: Le Bataclan, Paris
Zuschauer: zu 85% ausgelastet
Ein paar verzogene Returns von Philipp Kohlschreiber waren der Grund dafür, daß ich fünf Lieder von Wilco am heutigen Abend verpasste. Am Nachmittag frönte ich nämlich meiner nach Musik zweitgrößten Leidenschaft, dem Tennissport. Beim Turnier von Roland Garros im Bois de Boulogne von Paris wurde ich Zeuge einer äußerst dramatischen Partie, zwischen Kohlschreiber und dem Tschechen Dlouhy. Der Deutsche hatte im fünften Satz bereits vier Matchbälle beim Stande von 6:5, allerdings bei gegnerischem Aufschlag. Hätte er eine dieser Chancen genutzt, wäre ich frühzeitig losgekommen, so aber dauerte das Match mindestens noch eine Stunde länger und endete...17: 15 für Kohlschreiber!
Als ich gegen 21 Uhr 15 abgehetzt das Bataclan betrat, erklang gerade eines der besten Gitarrensoli der letzten 10 Jahre. Ich spreche von dem umwerfenden Instrumentalpart in "At Least That's What You Said" nach genau 2:32 Spielzeit (zumindest auf der CD), welcher das Lied in zwei Teile aufgliedert und den langsamen Part beendet. Damit war ein Einstieg nach Maß gelungen und der Frust darüber, unter anderem eines der gelungensten Stücke des neuen Albums "Sky Blue Sky", nämlich "You Are My Face" verpasst zu haben, einigermaßen vergessen... Das nachfolgende "Side With The Seeds" konnte allerdings nicht ganz an das vorangegangene Lied anschließen, vielleicht, weil ich einfach noch ein wenig Zeit brauche, mich an das neue Album zu gewöhnen. Es ist mir noch nicht ganz so vertraut, wie meine Lieblinge "Summerteeth", "Yankee Hotel Foxtrott" und "A Ghost Is Born". Mit dem Klassiker "Via Chicago" hatten Wilco mich dann aber wieder für sich gewonnen, zumal sie die Ballade mit plötzlich aufbrausenden, donnernden Gitarren aufmotzten, nur um anschließend wieder das Tempo rauszunehmen. Nach wie vor ist das Lied über die Heimatstadt von Frontmann Jeff Tweedy und seinen Wilcos eine sichere Zugnummer, da einfach zeitlos schön. Die rockige Version des Songs kann man übrigens auf "Kicking Television", der Live- CD der Band hören.
Mit "Jesus etc." ging der Reigen der Klassiker nahtlos weiter. Schon die ersten Gitarrenriffe wurden erkannt und die Textzeilen laut mitgesungen. Anscheinend waren heute einige Amerikaner im Bataclan versammelt, darunter wohl auch der Bruder von Jeff Tweedy. Ich bin mir ziemlich sicher, daß der mollige Brillenträger, der gleich neben mir stand und der Jeff wie aus dem Gesicht geschnitten war, zur Familie gehörte.
Zwei Amerikanerinnen fingen an, auf etwas altmodische Weise Tango dazu zu tanzen. Altmodisch ist das Stichwort: der Sound von Wilco ist ziemlich traditionell, Kritiker würden sagen altbacken, ich sage lieber zeitlos. Klar kommen da die siebziger Jahre durch, man denkt des öfteren an Neil Young oder The Band, aber wenn es so gut gemacht ist, habe ich damit überhaupt kein Problem. Auch nicht mit den oft brilletragenden und recht bieder wirkenden Mädchen, die heute abend versammelt waren. Heiße Bräute wie zuletzt bei !!! und LCD Soundsystem im Bataclan, suchte man nämlich vergeblich. Aber auf Coolness war heute mal geschissen, es zählte gute Musik und eine warme herzliche Atmosphäre und die bekam man geboten! Jeff Tweedy schafft es einfach immer wieder, Gefühle zu vermitteln, er wirkt authentisch und natürlich und kommunizierte erneut vorzüglich mit dem Publikum. Ähnlich hatte ich das auch schon vor gut zwei Jahren erlebt, als Wilco vor meinen Augen im Elysée Montmartre auftraten. "Hey, ihr seid wirklich ein tolles Völkchen, schade, daß wir schon heute nacht wieder abreisen müssen, es gäbe ihn Paris noch so viel zu sehen..." Selbst, wenn Rockbands so etwas in jeder Stadt behaupten, Tweedy nimmt man das irgendwie ab...
Bevor sie aber gingen, schütteten sie noch einmal ihr Herz aus, zunächst mit "Hummingbird", einem meiner Lieblingslieder von Wilco und schließlich mit "On And On", dem wohl schönsten Stück auf dem neuen Longplayer. Der Song hat das Zeug, zu meinen Top-Titeln des Jahres zu werden! "One night we will disappear together in a dream" heißt es da unter anderem und als Jeff diese Zeilen in sein Mikro schmachtete, mußte ich schon schwer schlucken. Und dann singt er auch noch "Please Don't cry"! Gar nicht so leicht, bei solch todtraurigen, aber doch wundervollen Liedern...
Als die Schmonzette verklungen war, verließ die sechsköpfige Band die Bühne, aber wer Wilco kennt, weiß, das sie mit Zugaben sehr großzügig sind. Da werden nicht, wie bei anderen Bands, zwei Lieder lieblos runtergespult, sondern ganz in Ruhe sechs (laut offizieller Setlist, ich habe sogar sieben gezählt) tolle Stücke geboten. Mein Favorit darunter war ganz klar die erste Zugabe "Impossible Germany", in dem nicht nur meine alte Heimat erwähnt wird, sondern auch über Japan ("unlikely Japan") gesungen wird. Immer wieder verblüffend, wie Wilco es mit einfachen Mitteln schaffen, wunderbare Lieder zu schreiben, ein paar schöne Gitarrenklänge und die charismatische Stimme von Tweedy reichen schon, "Impossible Germany" ist dafür ein schönes Beispiel. Nach gut 100 Minuten Spielzeit war dann leider Schluß, aber ich bin mir sicher, daß sich Wilco mit ihrer Musik noch lange halten werden und ich sie bald wieder erleben werde!
Wilco on Tour:
30.05.07: Gent
31.05.07: Amsterdam
02.07.07: Barcelona, Primavera Sound Festival
11.07.07: Montreux, Jazz-Festival
Setlist Wilco Paris:
01: You Are My Face
02: I Am Trying To Break Your Heart
03: Muzzle Of Bees
04: Handshake Drugs
05: Shot In The Arm
06: At Least That's What You Said
07: Side With The Seeds
08: Either Way
09: War On War
10: Via Chicago
11: Jesus etc.
12: Walken
13: I'm The Man Who Loves You
14: Hummingbird
15: On And On
16: Impossible Germany (Z)
17: Sky Blue Sky (Z)
18: Spiders (Z)
19: Hate It Here (Z)
20: Always In Love (Z)
21: Late Greats (Z)
von Oliver
von Oliver
5 Kommentare :
Bei Flickr habe ich Dir schon geschrieben, daß Jeff auf dem unteren Bild wie der Sänger der großartigen Indieband Reamonn aussieht. Über die haben wir hier noch gar nichts gemacht! Das sollten wir ändern!
Tja, leider war das Coca-Cola-Dings in Frankfurt mit Reamonn ja schon. Dumm gelaufen.
Gemein diese Vergleiche mit Reamonn! ;-)
Das hat Jeff nicht verdient!
Übrigens, der Tanz, den die Amerikanerinnen da auf's Parkett legten, war eher ein Walzer, als ein Tango. Könnte man theoretisch sogar im Text korrigieren...
Tolle Links, vor allem der zu den Texten von Wilco und zu dem dem unsäglichen Vulgär-Lexikon ;-)
...und ich dachte gestern wären ausser den paar Franzosen nur Amerikaner da. Aber dabei war ich noch nicht einmal der einzige Deutsche.
Auf diese Weise habe ich Euer Blog entdeckt. Sehr schön mit Bildern etc. Soviel Zeit hab' ich irgendwie nicht. Aber ich denke wir werden in Zukunft noch so einige Konzerte gleichzeitig sehen...
mensch, das will ich gar nicht lesen, da platze ich weg wie nichts... leider kamen die wilcos nicht in münchen vorbei. leider. leider. leider. leider . l-e-i-d-e-r. L-E-I-D-E-R!!!!
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