Montag, 22. Juli 2013

Gerard, Stuttgart, 20.07.2013


Konzert: Gerard
Ort:Reitstadion, Stuttgart (Mixery HipHop Open)
Datum:20.07.2013
Dauer: 24 Minuten
Zuschauer: 200 - 300 vor der Bühne


Manchmal kommt alles ganz anders, als man denkt, denn manchmal werden riesige Erwartungen sogar übertroffen: Knapp 25 Minuten hat ein 25-jähriger Rapper in der prallen Mittagssonne im sandigen Reitstadion auf dem Cannstatter Wasen Zeit, seine Songs zu präsentieren. Am Ende packt mich die überschwängliche Begeisterung; die Zukunft des deutschsprachigen Hip-Hops kommt aus Österreich und nennt sich Gerard
Der Begriff „Studentenrapper“, heißt es in der Szene, sei negativ konnotiert, werde in der Regel abwertend gebraucht. Dabei kann ich mir keinen treffenderen Titel für intelligenten, feinsinnigen Deutschrap denken, wie er von Dendemann oder in jüngerer Vergangenheit von Casper und Prinz Pi gepflegt wurde, indem textlich wie musikalisch ausgetretene Pfade verlassen wurden, stumpfe Beats durch geschickten Bandeinsatz ersetzt wurden. 
Als Hip Hop an sich eher skeptisch entgegen stehender Indie-Hörer, dem grundsätzlich eine Gitarre-Bass-Schlagzeug-Sänger-Besetzung lieber ist, als jeder technisch noch so versierte Rapper, kann ich mir kein größeres Kompliment für einen Hip-Hop-Künstler denken als die Titulierung als Studentenrapper. 
Gerard, den es vor einigen Jahren aus der oberösterreichischen Provinzstadt Wels nach Wien verschlug, verleihe ich diesen Titel gerne. Im Vorprogramm von Prinz Pi vor nicht allzu langer Zeit verpasst, ist es die starke Präsenz seines Auftritts auf der kleinen Bühne des HipHop Opens, der die hohe Messlatte - begründet in der anerkennenden Presseresonanz und dem leidenschaftlichen Lob in meinem Bekanntenkreis - noch zu übersteigen vermag. 
Mit einem vermutlich neuen Track seines kommenden Soloalbums beginnt die sechs Songs umfassende Show des Wieners. Die Hände werden erhoben, die schätzungsweise 300 Fans trotzen der Hitze und honorieren die Stücke der neuen Platte, „Blausicht, die in Kürze erscheinen soll. 


Zeitgeistig erscheint das Äußere des schlaksigen Mannes mit gepflegten Dreitagebart im blauen T-Shirt, das er im Vorarlberg kaufte, wie er einem Zuschauer im identischen Modell berichtete, der dieses nach eigener Angabe in Wien erstand. 
So sehr vom Zeitgeist geprägt wie sein Erscheinungsbild sind auch die Texte. Überall fühlt man sich an die Parallelexistenz  sozialer Netzwerke erinnert, ein trauriger Song über einen verstorbenen Freund treibt dieses Empfinden auf die Spitze, indem ihn die algorithmische Maschine an den Geburtstag des Verblichenen auf Facebook erinnert. Das mag nach gefühlsbetonten Kitsch, nach unerträglicher, typisch deutscher Befindlichkeitsthematik klingen. Gerard, der den Namenszusatz MC gestrichen hat, ist aber Österreicher und überhaupt sind die Emotionen nicht kitschig, nicht einmal sonderlich sentimental oder rührselig. „Blausicht“ als Albumtitel gibt die Ästhetik vor und wirkt sich als sprechender Name schon auf die Grundstimmung des angehenden Hörers aus. 
Die kühle Ausweglosigkeit, das Verlorensein in der Welt, das dem Protagonisten nicht einmal bewusst sein muss, verleiht Gerards Texten eine eindringliche Note, die von äußerst eingänglichen Hooklines zusätzlich verstärkt wird. Nirgends im deutschen Rap wird der Zeitgeist der Jugend europäischer Metropolen momentan nüchterner, mathematischer analysiert. Gerard, so kann man durchaus festhalten, verkörpert den Zeitgeist und kritisiert ihn zugleich. 
In „Manchmal“, einem seiner populärsten Stücke, erzählt er vom Finden der großen Liebe im One Night Stand. Da wo Casper einen mit springsteen'schen Pathos überschüttet, hat Gerard den Mut zur Langsamkeit. Die Grundhaltung ist ähnlich, die Umsetzung differiert erheblich. "Manchmal kommt alles ganz anders als man denkt, manchmal ist dieses anders auch gut, denn manchmal bist dieses anders auch du." 
Im Hintergrund erzeugen seine beiden Mitmusiker an elektronischer Percussion und MacBook lethargisch zuckende Beats, begabte Studentenrapper brauchen keine Band, nicht einmal eine fingierte, wenn die elektronischen Sounds perfekt ausgetüftelt sind und mit den Texten harmonieren. 
„Verschwommen“ und „Irgendwas mit rot“, die wage gehaltenen Titel bringen das Konzept auf den Punkt. Gerard schwitzt, spritzt Wasser ins Publikum, wischt sich den Schweiß aus den Augen, reicht immer wieder Flaschen in die ersten Reihen. Keiner solle dehydrieren.
Zum Schluss gibt es noch „Lissabon“, ein düsteres Anti-Liebeslied, das textsicher mitgesungen wird. 
Deutschrap kann ausgesprochen gut sein, kann sogar ohne übertriebenes Namedropping auskommen. 
Großer Applaus beschließt den besten Auftritt des diesjährigen Hip-Hop Opens. Die Zukunft sieht gar nicht so düster aus.



Setlist Gerard, Stuttgart:

01: ?
02: Verschwommen
03: Irgendwas mit rot
04: "Das beste an Facebook" (?)
05: Manchmal
06: Lissabon


Tourdaten Gerard:

10.08.2013 Lindau, HipHop Holidays-Festival
05.11.2013 München, Hansa 39
06.11.2013 Würzburg, Cairo
07.11.2013 Nürnberg, Stereo
08.11.2013 Dresden, Altes Wettbüro
09.11.2013 Berlin, Privatclub
11.11.2013 Hamburg, Uebel und Gefährlich (Turmzimmer)
12.11.2013 Münster, Hot Jazz Club
13.11.2013 Köln, Studio 672
14.11.2013 Stuttgart, Cue
15.11.2013 A-Salzburg, Rockhouse
17.11.2013 A-Wien, B 72


1 Kommentare :

Julius hat gesagt…

schöner bericht! auch voll gut: http://fm4.orf.at/stories/1720786/

 

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