Konzert: JFR Moon & Melvin Raclette
Ort: Ratzer Records Plattencafé, Stuttgart
Datum: 20.12.2013
Dauer: JFR Moon 23 Minuten; Melvin Raclette 12 Minuten
Zuschauer:10-20
„Hast du das alles aufgenommen? Dann habe ich ja wieder ein neues Live-Album.“ Kevin Kuhn beendete gerade das Set seines veröffentlichungsfreudigen Ein-Mann-Projekts Melvin Raclette nach gerade einmal zwölf Minuten mit einem Barry-McGuire-Cover, als sein Blick zu einem Freund schweift, der den Auftritt mitschneiden sollte.
Der Drummer der zurecht gefeierten Esslinger Noise-Punks Die Nerven zählt fraglos zu den Musikern im Stuttgarter Raum mit dem höchsten kreativen Output. Als Mitglied unzähliger Formationen ist Kevin Kuhn aus der Szene nicht wegzudenken. Höchstwahrscheinlich ist er derjenige, den man am häufigsten auf dem heute erschienenem Underground-Vinyl-Sampler „Von Heimat kann man hier nicht sprechen - 13 musikalische Grüße aus der Wohnstadt Stuttgart“ hören kann – zum Beispiel mit Die Nerven, Karies, Wolf Mountains oder eben als Melvin Raclette. Die Veröffentlichung dieses musikalischen Szene-Panoptikums wird mit vier Konzerten in den beiden einschlägigen Stuttgarter Plattenläden gefeiert. JFR Moon und Melvin Raclette machen am Nachmittag den Anfang im Ratzer Records Plattencafé, während das Abendprogramm wenige Stunden später von Human Abfall und Peter Muffin (mit Kuhn und Die Nerven-Bassist Julian Knoth) bei Second Hand Records gestaltet wird.
Erst zwanzig Minuten nach dem angekündigten Beginn eintreffend, stelle ich beruhigt fest, dass die Release-Konzerte noch nicht begonnen haben. Eine gute Viertelstunde später, nimmt der Sänger und Gitarrist, der sich hinter dem Künstlernamen JFR Moon versteckt, auf der improvisierten Bühne zwischen Plattenregalen Platz: „Ich hab' letzte Nacht kaum geschlafen und zu viel getrunken.“ Im rotkarierten Flanellhemd, aufgerissener, schwarzer Röhrenjeans, Strickmütze und mit gepflegtem Schnurrbart beschwört der junge Musiker an der Gitarre amerikanische Folktraditionen und zeitgenössisches Hipstertum. Mit viel Hall auf der Stimme erinnert der Gesang an Morrissey, doch lassen das signifikante Akustikgitarrengeschrammel und vor allem die Texte Neil Young, Bob Dylan und generell die alternative, amerikanische Folkszene der späten 60er als klare Bezugspunkte identifizieren.
„Oh, die White Stripes sind auch da“, dem Sänger hängt ein großes Bild der Band gegenüber; die Atmosphäre des gemütlich-charmanten Ladens tut dem Auftritt gut. Als sich Moon beim Fingerpicking eines Stücks verspielt, entschuldigt er dies wortkarg mit den Eskapaden am vorherigen Abend. Die verhetzte Attitüde passt, dann steigert sich sein darauffolgender, stärkster Song zu „Ballad of Hollis Brown“-haften Höhen.
Nur die Soundtechnik sorgt immer wieder für kurze Unterbrechungen. Mehrmals bittet Moon Kevin Kuhn den Verstärker nachzujustieren. Schließlich setzt sich dieser als Gast für den letzten Song mit Tamburin hinter die Bassdrum. Gemeinsam beenden sie den 23-minütigen Auftritt mit „Modern Ships“, einer entschleunigten Art Alternative Country, JFR Moons Sampler-Beitrag in White-Stripes-Instrumentierung.
Moon wünscht viel Spaß mit Kuhns Alias Melvin Raclette, der im offenem Karohemd und Batik-Shirt sein Set vorbereitet. Zum Soundcheck spielt er Frankie Goes To Hollywoods „The Power of Love“ an, was Nerven-Kollege Julian Knoth im Publikum zu einem höhnischen Kommentar verleitet. „Was ist? Das ist der beste Weihnachtssong ever.“ Lachen und der Versuch sich an eigene Weihnachtskompositionen zu erinnern folgen.
Mit E-Gitarre, Bassdrum und verzerrter Stimme ist die musikalische Haltung zwischen Glam und Lo-Fi verhaftet. Mit dem eigenen Samplerbeitrag "Come Up With Something" beginnend, überzeugt Kuhn, der das Spex-Lob des Songs als "Glam-meets-Garage-Hit" zitiert. „Das nächste ist die B-Seite des Stücks. Aber auch ein Hit, also eine Doppel-A-Seite. Sie heißt B-Side“.
Danach folgt ein Lied seiner treibenden Garagen-Beat-Kombo mit Surf-Appeal, Wolf Mountains, und „Black Diamond“. „Das ist auf dem ersten Kiss-Album, aber ihr Indie-Rocker kennt es bestimmt in der Version der Replacements. Es ist der letzte Song.“
Dann soll Schluss sein. „Was soll ich noch spielen?“ - „Spiel irgendetwas von einer Platte, die hier rumsteht!“ Kuhns Blick fällt auf ein Thin-Lizzy-Album, deren „Jailbreak“ er kurzerhand anstimmt, um es rasch abzubrechen.
„Ich glaube ich spiele einen Song, den ich immer mit Wolf Mountains spielen wollte, aber auf den sonst keiner Lust hat. Bekannt wurde er durch Barry McGuire. Ein Protestsong. Aber die Version von den Turtles ist besser.“
Vor drei Monaten erlebte ich, wie McGuire im Theaterhaus "Eve of Destruction", seinen einzigen Hit, als glorifiziertes Hippie-Relikt spielte. Vom Protestcharakter des Stückes wollte er nichts hören. Vielmehr sei es eine Diagnose der Zeit gewesen, eine Zusammenstellung von Zeitungsschlagzeilen. Aus dem verklärten Kontext gelöst, verpasst Kuhn als Melvin Raclette ihm mit seiner reduzierten, abgebrochenen Fassung einen angenehm distanzierten Anstrich als lethargische Protestsong-Leiche. Die Kunst der schonungslosen Dekonstruktion beherrscht er spielend. Sie ist der größte Trumpf seiner raren Konzerte. Als Beweis genügen zwölf eindrucksvolle Minuten.
Setlist Melvin Raclette, Stuttgart:
01: Come Up With Something
02: B-Side
03: ? (Wolf-Mountains-Song)
04: Black Diamond (Kiss-Cover)
05: Jailbreak (Thin-Lizzy-Cover; angespielt)
06: Eve of Destruction (Barry-McGuire-Cover; abgebrochen)
Links:
- aus unserem Archiv:
- Die Nerven, Stuttgart, 01.08.2013
- Die Nerven, Stuttgart, 06.09.2013
- Die Nerven, Karlsruhe, 07.12.2013
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