Sonntag, 25. November 2007

Interpol, Brüssel, 23.11.07


Konzert: Interpol (& Blonde Redhead)

Ort: Forest National, Brüssel
Datum: 23.11.2007
Zuschauer: ausverkauft und sehr voll (gut 7.000.)


"Für welche Band bist Du gekommen?", fragt mich ein netter flämischer Kerl, der neben mir im riesigen Forest National auf einem roten Stühlchen sitzt. Gerade spielt noch das New Yorker Trio Blonde Redhead, das mein Nachbar gar nicht kennt. "Für Interpol", antworte ich, ohne lange überlegen zu müssen, obwohl ich für Blonde Redhead durchaus auch etwas übrig habe. "Ich wäre nur lieber da unten", fahre ich fort und zeige mit dem Finger auf mein Wunschplätzchen gleich vor dem Keyboard von Kazu Makino. Ein Stehplatz wohlgemerkt und bezeichneter Ort ist von hier oben sauweit weg, man könnte ein Fernglas gut gebrauchen. Dass die Zwillingsbrüder Pace sich zum verwechseln ähnlich sehen, dürfte meinem neuen belgischen Freund deshalb auch gar nicht aufgefallen sein. Schlimmer als die Distanz zur Bühne wiegt aber die Tatsache, daß wir sitzen. Und das bei einem Rockkonzert! Wie im Kino! Dabei wollte ich doch erst am Samstag ins Kino gehen! Habe ich dann auch gemacht, um mir den Streifen von Löwen und Lämmern von und mit Robert Reford anzusehen. Im englischen Original heißt er Lions For Lambs. Aus amerikanischer Sicht politisch hochbrisant, weil der sog. Krieg gegen den Terror (Afghanistan, Irak) sehr kritisch beleuchtet wird, von einem europäischen Standpunkt aus aber nur eine normale Auseinandersetzung mit der Frage, ob der Einmarsch in den Irak überhaupt Sinn gemacht hat und Aussicht auf Erfolg hat. Diese Diskussion hat man in Deutschland und Frankreich ja bereits seit fünf Jahren geführt und sich gegen den Krieg entschieden. Wenn man den Film so sieht, kann man aber den Eindruck gewinnen, Intellektuelle in den USA (stellvertretend hierfür Robert Redford selbst) würden sich erst jetzt ernsthafte Gedanken darüber machen, ob man richtig gehandelt hat. Vielleicht will Redford mit diesem Hollywood-Streifen, der in drei Geschichten aufgeteilt ist, die zur gleichen Zeit an unterschiedlichen Orten spielen, den ungebildeten und erzkonservativen Amerikaner aus der tiefsten Provinz erreichen und zum Nachdenken bringen? Wie auch immer, Hauptproblem für den Regisseur und Schauspieler R.R. wird bei der Realisierung des Filmes - der vor allem wegen des hervorragenden Wortgefechts zwischen der kritischen Journalistin (Meryl Streep) und dem smarten, ambitionierten aber aalglatten Senator (Tom Cruise) sehenswert ist - der Spagat zwischen Gesellschaftskritik und Massentauglichkeit gewesen sein.

Es stellt sich die Frage, ob man einen sensiblen, nachdenklichen Film machen und gleichzeitig ein großes Publikum ansprechen kann. Allgemeiner formuliert: kann man in der Kunst überhaupt gleichzeitig die Bedürfnisse eines intellektuellen und gut informierten Publikums, aber auch einer rein vergnügungsüchtigen Masse befriedigen? Diese Thematik beschäftigte mich auch während und nach des Interpol-Konzertes. Ist eine Band, die 7.000 Leute in eine ziemlich unschmucke Mehrzweckhalle lockt, überhaupt noch Indie? Interpol also der reine Mainstream? Gemach, gemach...

Setlist Blonde Redhead Brüssel:

01: Heroin
02: SW
03: The dress
04: Falling man
05: Misery is a butterfly
06: Spring and by summer fall
07: Dr. Strangeluv
08: 23


"Sind Interpol nicht vor kurzem auch in Deutschland aufgetreten?", will der nette Flame wissen, nachdem Blonde Redhead mit artigem Applaus verabschiedet worden sind. "Doch, doch, sind sie", murmele ich, "erst kürzlich in Köln". "Aber ich habe sie vorgestern in Paris gesehen, wo ich auch lebe." Mein Belgier ist etwas verdutzt, ich verwirre ihn wohl etwas. "Sind die denn in Deutschland groß", setzt er nach. "Da bin etwas überfragt, mein Freund Christoph berichtete kürzlich von einem lediglich halbvollen Palladium, aber ein Kommentator auf unserem Blog sagte, daß sich maximal noch 50 Karten auf dem freien Markt befunden hätten." Wie kann ich meinem Sitznachbarn bloß klarmachen, daß ich nur "vom Hörensagen" weiß, wie es um Interpol in Deutschland steht, da ich nun einmal in Frankreich lebe? Egal! "In Belgien sind sie eigentlich nicht sehr bekannt", erfahre ich noch und bevor ich mich lange wundern kann, wie es dann möglich ist, daß sich auf den Stehplätzen vor der Bühne ein Kopf an den anderen reiht, so daß dieser Bereich wegen Überfüllung abgesperrt wurde (deshalb sitze ich ja jetzt auch hier oben!) , geht es endlich los.

Mit "Pioneer To The Falls" hatte ich gerechnet, schließlich wurde damit noch jedes Interpol-Konzert, was wir von meinzuhausemeinblog verfolgt haben, eröffnet. Erste Regungen im Publikum sind bei der Textstelle "I felt you so much today", zu vernehmen. Auch das sich nahtlose anschließende "Obstacle 1" wurde oft schon derartig früh abgefeuert. Die Leute klatschen zwar hierzu kräftig in die Hände, die Köpfe, die ich von hier oben wunderbar überblicken kann, bewegen sich aber nicht großartig. Sind Belgier etwa schüchtern? An Paul Banks und seinen Mannen liegt es jedenfalls nicht. Der Sänger ist heute nämlich ganz glänzend aufgelegt. Seine unglaubliche Stimme ist fester und durchdringender denn je, so gut habe ich ihn noch nie erlebt. Über die laute Musik, die seine Band erzeugt, singt er jedenfalls locker drüberhinweg. Wahnsinn wie er es schafft mit seinem "Nörgelorgan" die riesige Halle zu beschallen! Und über das satte und extrem harte Schlagzeugspiel von Sam Fogarino muß man erst einmal drüberhinwegspielen. "Thank you very much" bedankt sich Paul gewohnt cool und kurzangebunden. Aber soll er etwa lange Anekdoten oder gar Witzchen erzählen? Nein, würde nicht zum Stil vom Interpol passen, der ist nun einmal eher kühl und reserviert. Interpol sind nicht die Kaiser Chiefs. Aber sind sie deshalb die schlechtere Liveband? Und was heißt das überhaupt, eine gute Liveband? Mißt man das anhand von Händen, die in die Luft fliegen, der Anzahl von tanzenden Menschen, oder daran, wie viele Leute, die Texte mitsingen? Meine Interpol-Karte von Paris, die ich mangels Photos hochgeladen habe, wird von einem gewissen Superchunk diesbezüglichmit folgenden Worten kommentiert: "i was also at that show and i hate to say that Interpol is not a great live band. I also hate, when people start clapping to every goddamn beat, Interpol's music is not meant for that shit!"...

Mein belgischer Sitznachbar ist da anderer Ansicht, nachdem das fünfte Lied "The Scale" verklungen ist, meint er nur: super! und klatscht in die Hände. Ich widerspreche nicht und weise daraufhin, daß sie diesen Titel in Paris nicht gespielt haben. "Super Liveband" wiederholt er später erneut und wieder nicke ich mit dem Kopf. Manche Leute im Publikum haben allerdings Probleme, ihre Begeisterung zu zeigen. Selbst ein unglaublich schnelles, postpunkiges Lied wie "Say Hello To The Angels" verpufft irgendwie. Kaum jemand tanzt. "Das Publikum ist saulahm!", höre ich mich resigniert zu Cécile sagen. Zum Glück tauen die Belgier einige Zeit später zu einem sagenhaft dargebotenen "Slow Hands" endlich auf. Im Saale geht sprichwörtlich die Post ab. Vorher hatte mich persönlich vor allem das sphärische und wunderschöne "Hands Away " in seinen Bann gezogen. Auch mein belgischer Nachbar ist von der unglaublich festen Stimme von Herrn Banks begeistert und hebt " No I In Threesome" besonders hervor: "Beste von das Album! "Live singt der noch besser als auf CD", jubliert er. Allerdings bleibt dem Armen nach "Rest My Chemistry" fast die Spucke weg. "Ist das Konzert etwa zu Ende?", jammert er. Aber nein, bloß Carlos und Sam (und wahrscheinlich auch der Keyboarder, aber für den interesssiert sich eh keiner hier) sind mal kurz verschwunden, wahrscheinlich ein Zigarettchen rauchen. Der auch heute wieder sehr agile und leichtfüßige Gitarrist Daniel Kessler und Paul Banks machen unterdessen alleine weiter. Zu dem schlichtweg famosen "The Lighthouse" singen und spielen sie unter einer Glocke aus lilafarbenenm Licht, das die knisternde Atmosphäre unterstreicht. Minutenlang wird Spannung aufgebaut, die sich gegen Ende schließlich ekstatisch auflöst. Sam und Carlos D sind inzwischen zurückgenkommen und vor allem der Schlagzeuger scheint mehr Punch als vorher zu haben. Mit voller Wucht prügelt er von oben auf seine Drums ein. Üblicherweise spielt er meistens alles aus dem Unterarm heraus. Sein Oberkörper bleibt in diesen Situationen auch dann noch stabil, wenn er in einem Affenzahn wie ein schneller Boxer Schläge verteilt. Das ist ganz einfach irre!

Damit die Leute wieder aufgerüttelt werden, kommt nach der Ballade "Lighthouse" mit "Evil" genau der schnelle Titel, der jetzt gebraucht wird. "Rosemary" quillt es aus unzähligen Kehlen heraus. Die Stimmung ist fast so gut wie bei "Slow Hands". Aber nur fast, das Pegel schlägt geringfügig leichter aus. Das "Heinrich Maneuver" und natürlich mein Liebling "Not Even Jail" beschließen in der Folge den offiziellen Teil.

Würden sie heute "Leif Erikson" als Zugabe spielen?, war die Frage die ich mir in der Verschnaufpause stellte. Zunächst nicht, da kam nämlich erst einmal recht überraschend "NYC". Ganz nett, aber nicht mein Favorit. "Stella" ist das schon viel eher, war auch heute wieder klasse. Jetzt also "Leif Ericson"? Wieder nicht, die Aufstellung der Band mit dem Rücken zum Publikum und das anschließende lange intro kannte ich schon aus Paris. Es leitete erwartungsgemäß "PDA" ein, ein Titel, der mich am Ehesten an die ständig zitierten Joy Division erinnert. Danach bauen sich die Musiker wie Theaterschauspieler auf und lassen sich zu Recht feiern. Vor allem Drummer Sam scheint es besonderen Spaß gemacht zu haben, er brabbelt irgendetwas mit "Magnifique" in die johlende Menge. Die New Yorker hauen ab und ich rechne nicht mehr mit einer weiteren Zugabe. Die Burschen kommen aber wieder und spielen...nicht "Leif Ericson!", sondern das lediglich passable "Untitled". Das Spekatakel ist zu Ende und auch die Frage, ob man mit niveauvoller Kunst, ein Massenpublikum bedienen kann, ist geklärt. Natürlich kann man das, Interpol können das! Und eine hervorragende Live-Band sind sie auch. Wie ich das messe? - Am Gänsehautfaktor! Und der war durchgängig hoch.

Worte können nicht beschreiben, wie sehr ich diese Band liebe...

Setlist Interpol Brüssel:

01: Pioneer To The Fall
02: Obstacle 1
03: Narc
04: C'mere
05:
The Scale
06: Say Hello To The Angels
07: Hands Away
08: Mammoth
09: No I In Threesome
10: Slow Hands
11: Rest My Chemistry
12: The Lighthouse
13: Evil
14: The Heinrich Maneuver
15: Not Even Jail

16: NYC (Z)
17: Stella Was A Diver And She Was Always Down (Z)
18: PDA (Z)

19:
Untitled (Z)





10 Kommentare :

E. hat gesagt…

wie stehts denn um die gesundheit, oliver? ich hoffe, es ist alles bestens bei dir. die berichte aus paris stimmen nachdenklich.

Oliver Peel hat gesagt…

Unkraut vergeht nicht, danke der Nachfrage, Eike.

Ich weiß jetzt aber gar nicht mehr, was ich besorgniserregendes über meine Verfassung geschrieben hatte.

Anonym hat gesagt…

Moin Oliver,
mir fehlte ein Einblick in den öffentlichen Nahverkehr von Brüssel oder sonstige Anreiseanekdoten.
Hollywood-Blockbuster sind doch verschenkte Lebenszeit.
Interpol ist wohl die z.Z. perfekteste, unterkühlteste Musik on earth und man sollte ihr nicht mit Herumgezappel, Mitklatschgeschunkel entgegentreten, sondern jeden Ton aufsaugen und begeistert (aber nicht zeigen) sein, wenn jeder Ton wie auf dem Album klingt.
Find ich genauso unpassend wie angeregte Unterhaltungen bei "ruhigen" Konzerten.

PS
bitte checken: den Haldernforum Hype IDA MARIA da ist auch live alles drin nackich machen, Bierduschen, aufm' Rücken schubbern - das ganze RnR Posing halt
ganz großes Kino ;)

Oliver Peel hat gesagt…

Anreiseanekdoten gab es im Grunde genommen keine, da man von Paris aus mit dem Thalys in gut einer Stunde da ist. Unspektakulär. Ansonsten haben wir Brüssel zu Fuß erkundet und zum Konzert sind wir aus Faulheitsgründen mit dem Taxi gefahren.

Was mir aufgefallen ist: vor dem Forest National und auch im Saale konnte man überall mampfen (Pommes, Burger, etc.). Wie in Deutschland. In Frankreich gibt es sowas nicht, im Zénith gibt es noch nicht einmal Sandwiches. Der Franzose hat es nun einmal nicht gern, wenn es nach Bratfett riecht. Wie sagte noch eine Pariser Freundin neulich so schön: wenn man in Köln am Bahnhof ankommt, stinkt es überall nach Wurst und Fett, eklig...

Zu Interpol:

Ich persönlich habe nichts dagegen, wenn da mitgeklatscht wird, im Gegenteil. Und zu Liedern wie "Say Hello To The Angles", oder "Evil" kann man ja nun wirklich wild abtanzen.

Den Preis für das beste Interpol-Publikum des Jahres verteile ich somit an die Erfurter beim Highfield-Festival. Da ging Richtung was ab. Ossis, ihr seid ganz große Klasse, ein Riesenkompliment an Euch! (Sage ich als alter Wessi :-))

Christoph hat gesagt…

Also Deutsche essen ja wirklich gerne, oft und überall. Aber bei Konzerten habe ich noch keine Esser erlebt. So weit ich weiß gibt es auch nur im E-Werk in Köln überhaupt Essen zu kaufen (von den Clubs, die ich kenne).

Bei Highfield hast Du in jedem Punkt recht! Band sensationell, Publikum großartig, Umgebung wundervoll!

Oliver Peel hat gesagt…

Es gibt kein Essen in deutschen Clubs? - Man lernt nie aus!

In diesem Zusammnehang aber mal eine deutliche Warnung vor dem Essen im Forest National in Brüssel:

Esst da nicht, wenn ihr mal da seid! Egal ob Burger oder Würstchen, es schmeckt alles gleich scheußlich. Wenn ihr allzu großen Hunger habt, nehmt dort lieber nur die Pommes Frites, die sind in Ordnung.

Christoph hat gesagt…

Eßt lieber an der Bude am Atomium! Da habe ich vor jedem Konzert, das ich in Brüssel gesehen habe (hust), also vor dem Konzert, das ich da gesehen habe gegessen und es war prima!

Anonym hat gesagt…

Da ich ein Tocotronicfan erster Stunde bin, ist (Mit-)Klatschen für mich halt irgendwie verpönt, andererseits halte ich sie auch für eine der schlechtesten Live-(Lieblings)bands.
Crepes hab ich immer für ein Klischee gehalten, aber da wußte auch noch nicht, daß die Franzosen anscheinend mehr streiken wie die Italiener.

Oliver Peel hat gesagt…

Mitklatschen assoziiert man halt immer schnell mit der volkstümlichen Hitparade, oder dieser Sendung mit Diter Thomas Heck (gibt's die noch, die gute, (schlechte) alte ZDF-Hitparade?).

Diese Assoziation sollte man aber schleunigst verdrängen, sind wirklich zwei paar Schuhe. Sich in irgendeiner Weise zu artikulieren ist ein menschliches Bedürfnis. Das sollte jeder halten wie er möchte.

Wenn die Leute hingegen still sind, wird dann immer schnell gemeckert, daß die Band live nichts taugt. Eine echte Zwickmühle...

Oliver Peel hat gesagt…

Dieter (nicht Diter) Thomas Heck natürlich :-)

 

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