Dienstag, 17. August 2021

Haldern Pop Festival, Rees-Haldern, 12.-14.08.21


Festival: Haldern Pop Festival
Ort: Rees-Haldern
Datum: 12.-14.08.2021
Zuschauer: diverse Orte mit ca. 100 Zuschauern (ausverkauft)


„Ein Festival erfindet sich neu…“ Ehrlich gesagt habe ich selber beim Einpacken der seit zwei Jahren Corona bedingt verstaubten Campingsachen nicht daran geglaubt. Ein Festival soll stattfinden: mit Zeltplatz, verschiedenen Bühnen und drei Tagen Programm. Schon oft stand das Haldern Pop Festival vor fast unlösbaren Aufgaben, aber der diesjährige Entwurf dürfte noch lange nachhallen. 


Problem: Es gibt kaum Tickets…viele alteingesessene Reisegruppen können daher nur zu wenigen Konzerten oder einzelnen Tagen versprengt anreisen. Am Ende liegt aber auch darin eine weise Entscheidung. Das Haldern Pop findet nämlich wirklich statt und die ganze Vorbereitung verpufft zumindest nicht in einer der vielen anderen, kurzfristigen Absagen. 

Natürlich waren daher in diesem Jahr keine „großen“ Headliner zu erwarten, und so verschob sich der Fokus noch einmal in eine andere Richtung. Die Idee, Menschen mit Fahrrädern und Wanderungen durch die Natur im Stundentakt zu kleinen Bühnen zu begleiten, war einfach wundervoll. Alles, was hier sonst schon immer intimer, exklusiver und ehrlicher wirkte, wurde noch einmal verdichtet. 

Durch die vom Veranstalter sonst auch schon oft geforderte Entschleunigung konnte man in diesem Jahr, wie unter der Lupe der Asterix-Landkarte, einem kleinen Dorf bei seiner Leidenschaft zusehen, Menschen, Kultur und Natur in einer perfekten Symbiose zu vereinen. 


Und so sah man immer wieder strahlende und fröhlich plaudernde Menschengruppen durch das Dorf ziehen. Was auf dem Papier noch wie eine Spinnerei anmutete ( zum Beispiel: eine 10 Stunden dauernde Wanderung mit vier Bands), erwies sich als zwischenmenschliches Highlight mit kulturellen Höhepunkten.

In den Nächten klangen die Abende in privaten Gärten aus. Es wurde spontan weiter musiziert, Freundschaften wurden geschlossen und noch viel mehr als sonst war das Dorf und seine Bewohner der heimliche Headliner.

Dazu gab es eine Bühne am Marktplatz vor der Pop-Bar und viele Einzelkonzerte in der Kirche, dem einzigen auch sonst genutzten Spielort.

Diese Ausgabe wird als ein Meilenstein für dieses Festival in Erinnerung bleiben. Weil sie gerade nicht an das „Höher, Schneller, Weiter“ anderer Veranstaltungen anschließt, bei denen im Tagestakt Bands durch Strandkorbkonzerte gepeitscht werden.

Vielleicht lässt sich Einiges vom diesjährigen Konzept auch in den folgenden Jahren umsetzen, wenn hoffentlich wieder größere Konzepte erlaubt sind…



Und jetzt zum Programm:

Ich hatte mich für den Marktplatz als Homebase entschieden. Hier traten jeden Tag vier Bands auf. Man saß an Biergarnituren und bekam sehr bequem und schnell seine Getränke über eine APP oder Handzeichen am Tisch serviert.


Der Donnerstag beginnt um 16:00 Uhr und schon sind fast alle, der wenigen, verfügbaren Plätze besetzt, als die Show der Franzosen Faux Real beginnt. Ein wilder Mix aus Performance-Art, Glam-Rock und Halbplayback. Zum Glück nehmen sich die beiden Brüder aber nicht allzu ernst und haben erstaunliche Pop-Perlen im Programm, die durchaus auch im Hitradio landen könnten. Die Showelemente sind dagegen nicht ganz jugendfrei, die Choreografie aber durchaus beeindruckend.

Nicht überzeugen können mich im Anschluss Johnny Mafia (ebenfalls aus Frankreich). Zu gewollt wirkt der Mix aus Green Day, Nirvana und Weezer und mir fehlt das gewisse Extra, das Bands beim Haldern Pop sonst auszeichnet.


Langsam wird es dunkel und es folgen zwei großartige Konzerte, die beide (so unterschiedlich sie sind) in einem kleinen Rahmen ein echter Genuss waren. Zunächst die japanischen Psy-Rocker von Kikagaku Moyo, eine Band die sowohl die ruhigen als auch die orkanartigen Böen beherrscht. Perfekt eingespielt und mit einem riesigen Back-Katalog am Merch als erfahrene Live-Band leicht erkennbar, füllen sie ihre lange Spielzeit mühelos bis zum Finale. Die Band beginnt gerade erst ihre Europa-Tour und ist sowohl in Deutschland als auch in den Niederlanden noch zu bewundern…


Danach räumen die finnischen The Holy den Platz professionell ab. Auch hier wähnt man sich vor der normalen Hauptbühne, so druckvoll und gut klingt die Band. Manches wirkt schon zu perfekt abgemischt, aber das Publikum ist jetzt in Partylaune und hier gibt es melodiöse Hits zum Tanzen (natürlich am Tisch). Ich denke, diese Band sehen wir in 2022 am Niederrhein wieder.


Am Freitag dann eine böse Überraschung… Einige Bands haben sehr kurzfristig abgesagt und so wird der eh schon riesige, organisatorische Aufwand mit den diversen Spielstätten nochmal durcheinandergewirbelt.

Auf dem Markt beginnen daher die Newcomer Oh Alien aus Österreich, die ihren ersten Festivalgig überhaupt spielen. Hier gingen die Meinungen sehr auseinander. Mir war das Ganze etwas zu verkopft und die nicht zu leugnende Mischung aus Alt-J und London Grammar zu bemüht. Meine Tischnachbarn sahen das anders, wahrscheinlich hatten sie recht.

International Music haben für meinen Geschmack die bisher beste deutschsprachige Platte des Jahres veröffentlicht. „Ententraum“ ist ein Gesamtkunstwerk, ohne anstrengend zu sein. Es bietet Momente der abstrusen Kunst und echte Hits wie „Zucker“ oder „Fürst von Metternich“. Auf der Bühne sind sie nur zu dritt und spielen das Ganze etwas straighter und rockiger. Sie sind zurecht für den popNRW Preis nominiert und Tocotronic-artige Parolen wie „Raus aus dem Zoo und rein ins Geschäft“ wurden vom Publikum schon jetzt laut skandiert.


In der Kirche erwartet mich dann vielleicht der Auftritt mit den höchsten Erwartungen: Dirty Projectors mit den Streichern und Waldhörnern von stargaze und ihrem Mastermind/Dirigenten Andre de Ridder. Immer wieder stellt er hier in Haldern außergewöhnliche Projekte auf die Beine. Schwerpunkt des Sets liegt auf dem 5 EP Projekt, einige Songs spielt Dave aber auch solo an der Gitarre. Ansonsten lauscht er selbst andächtig und bewegt den Interpretationen seines eigenen Werks. Ein inspirierendes Konzert, das einem wieder Lust auf den Backkatalog dieses oft unterschätzten Künstlers macht.





Danach geht es wieder zurück auf den Marktplatz, Klaus Fiehe (1Live) ist plötzlich auch vor Ort und lässt es sich natürlich nicht entgehen, seine Lieblinge von Trupa Trupa aus Polen selber anzukündigen. Leider startet die Band mit einigen sperrigen Songs und ist als letzter Act des Abends für einige nicht die perfekte Besetzung, aber in Haldern ist die Variation nun mal Programm. Am Ende wäre ein Tausch mit den davor in Party-Laune feiernden Catastrophe sicher logischer gewesen, aber vielleicht standen dem ja auch organisatorische Probleme im Weg.

Nachts auf dem Zeltplatz machen begeisterte Erzählungen die Runde, jeder hatte ein komplett anderes Festival erlebt…Einige Legenden wurden gestrickt, man hörte von Konzerten in Apfelhainen und Scheunen, auf Lichtungen und in Vorgärten. Es klang, als wäre das Dorf endgültig ein magischer Ort für Konzertbesucher geworden, einige erwägten bereits umzuziehen und befragten die gastgebenden Gartenbesitzer nach den derzeitigen Immobilienpreisen.

Auch der Samstag präsentierte sich mit perfektem Wetter, sicherlich auch ein Grund für die anhaltend gute Laune. Ich starte in der Kirche bei Antje Schomaker. Ohne große Erwartungen entwickelt sich ein sehr schönes Set. Antje spielt alleine, mal am Flügel, mal an der Gitarre. Obwohl ihr Ansatz oft sehr poppig und leicht daherkommt, schwingen in den Texten doch eher ernste Themen mit. Sie beherrscht das Spiel mit dem Publikum perfekt, ist in fast unbändiger Plauderlaune und wirkt sowohl stimmlich als auch mit ihrer extrem offenen Art sehr sympathisch.


Für „Black Country, New Road“, die leider ebenfalls absagten, konnte kurzfristig fast gleichwertiger Ersatz gefunden werden, zumindest musikalisch: Rats on Rafts aus den Niederlanden spielen ebenfalls eine Form von Art-Rock/Post Punk der oft Vergleiche zu den Talking Heads zuließ. Ein kraftvolles, gewollt mürrisches Set ohne Ansagen und Zugaben.


Erstaunlicherweise funktioniert Hip-Hop/Rap beim Haldern in den letzten Jahren immer besonders gut. Eigentlich unverständlich, wenn man auf die Hüsker Dü/Pavement T-Shirt Fraktion im Publikum schaut. Sie scheint die Ausnahme der Regel zu sein, diese extrem andere Art (auch mit den Zuschauern zu kommunizieren), die hier selbst Tanzmuffel von der Bierbank holt. Denise Chaila schafft dies mühelos. Ein DJ und zwei MC`s begleiten die Irin mit sambischen Wurzeln bei ihrem Auftritt. Für viele ist sie das Highlight des kompletten Wochenendes und hat mit Chaila und 061 zwei echte Hits im Gepäck, die noch Großes versprechen. Auch hier wäre ein Wiedersehen 2022 auf der Hauptbühne sicher eine Option.


Danach wird die Bühne auf jedem Quadratzentimeter mit einer endlosen Anzahl von Instrumenten bestückt. Andre de Ridder bittet nochmal zum Tanz, ein Liederabend aus drei Auftritten beschließt das Festival. Die größte Überraschung gleich zu Beginn: Wer sich schon gefragt hatte, warum Iceage auf der offiziellen Playlist des Festivals vertreten waren, bekam jetzt Klarheit: Sänger Elias Bender Ronnenfelt ist anwesend und hat mit dem Orchester ein Best-Of seiner eigentlichen Band einstudiert. Die Version des kräftigen Rockers „Vandetta“ vom aktuellen Album gerät zum Triumph, in Ridders Arrangement mit Pauke, Streichern und Saxophon.

Im Anschluss spielen noch All the Luck in the World ein paar Hits und der frische Hip-Hop von Stockdale präsentiert ein kurzes, aufregendes Set.

Drei nicht für möglich gehaltene Tage sind vorüber.


Wer so viel Liebe, Mut und Energie in seinen Traum von einem Festival investiert, musste belohnt werden. Sehr traurig, dass diesem Traum nur so Wenige folgen durften. „Spread the word...“ und bis zum nächsten Jahr im (gallischen) Lindendorf des guten Geschmacks.

alle Fotos: Denis Schinner



 

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