Dienstag, 28. August 2018

Haldern Pop Festival, erster Festivaltag, Haldern, 09.08.18


"Always different, always the same"

Dieser Satz soll von John Peel stammen und sich auf die Kultband The Fall beziehen. Er kam mir beim diesjährigen Haldern nicht nur deshalb in den Sinn weil The Fall Chef Mark E. Smith kürzlich gestorben ist, sondern weil er irgendwie auch auf die wundervolle Veranstaltung am Niederrhein passt, die heuer ihr 35 jähriges Jubiläum beging.


Einige Dinge sind hier wirklich immer gleich, seitdem ich 2006 zum ersten Mal im Wald am alten Reitplatz aufkreuzte. Die Kühe und Pferde auf den Weiden, die wundervollen Maisfelder auf dem Weg zum Gelände, die selbstgebastelten Schilder mit persönlichen Aufschriften wie: "Welcome back, schön dass du wieder in Haldern bist", die roten Backsteinhäuser mit den schönen flaschengrünen Fensterläden, die alten Scheunen, die vielen blonden blauäugigen Mädchen im Publikum, das Bier, der matschige Boden, der holländische Ansager, die Hauptbühne, das Spiegelzelt und die langen Schlangen davor (heuer weniger lang als in den Vorjahren), das Magazin "Dat Blatt", die Gummistiefel (2018 seltener gesehen), die Steinofenpizza, Die Handbrotzeit, die Poptaler (von denen man immer aus Versehen ein paar nach Hause schleppt), die Fotografen im Graben (man kennt sich seit Jahren vom Sehen) und so viele Dinge mehr. Auch die Bands sind teilweise gleich, oft hat man sie schon ein oder mehrfach in den Vorjahren gesehen, was man positiv als Vertrauen der Bands in das Festival oder negativ als Einfallslosigkeit der Programmgestalter auslegen kann (selbstredend optiere ich für Alternative eins). 




Zu den Wiederholungstätern 2018 gehörten Lisa Hannigan, Gisbert zu Knipphausen (Foto), Philipp Poisel, Public Service Broadcasting, Someday Jacob, Villagers, Nils Frahm, White Wine, Kettcar (Foto unten) und vermutlich auch noch andere, an deren Auftritte der Vorjahre ich mich allerdings nicht mehr erinnere, ohne bei Google nachzugucken.





Neu beim Haldern 2018 aber unter anderem Protomatyr, eine Band aus Detroit, die wohl zum ersten Male überhaupt in Deutschland spielte. Ohnehin gab es wieder etliche sehr vielversprechende Newcomer, die international hoch gehandelt werden wie Jonathan Bree, Tamino, Lewsberg oder Alabaster de Plume, von denen wir alle noch viel hören werden.


In modischer Hinsicht war  Glitzer- Schminke neu, während Renner der Vorjahre wie Seifenblasen und auf dem Rücken getragene winzige Turnbeutel out zu sein scheinen. Der Spielort Jugendheim war wohl nicht ganz neu, obwohl er mir in den Vorjahren nicht aufgefallen ist. Allerdings war ich heuer kein Mal da drin, obwohl so interessante Künstler wie Seamus Fogarty oder Nilüfer Yanya dort auftraten.


Aber das ist eine Sache, die leider immer für mich zum Haldern Pop dazugehört: ich verpasse Bands, die ich liebend gerne gesehen hätte! Teilweise liegt es an zeitlichen Überschneidungen mit anderen Konzerten, teilweise an Kraftmangel, manchmal auch an Essenspausen, die auch sein müssen um durchzuhalten. Oder aber meine Anreise verspätet sich. Ein Klassiker! Wie oft stand ich Donnerstags mittags auf der Anreise im Stau und kam später als gewollt an? Zu oft! 2018 war mir der Verkehr auf der Autobahn allerdings schnuppe, denn ich fuhr von Paris aus mit dem Zug und besitze gar kein Auto mehr. Der Zug von Köln nach Haldern hatte allerdings auch eine Stunde Verspätung. Die Umsteigemöglichkeiten waren ebenfalls wenig attraktiv und so kam ich statt 17Uhr30 erst gegen 18Uhr30 am Halderner Bahnhof an. Die bezaubernde Irin Lisa Hannigan, die in der Kirche von 17h20 bis 18Uhr10 angesetzt war, verpasste ich somit schon einmal komplett. Frustriert  schleppte ich mein schweres Gepäck und meinen schweren Körper durch den kleinen Dorfkern und dann über Feldradwege zum Gelände, checkte im Kiosk ein und bekam mein Pressebändchen mit Fotopas, wie immer flott und reibungslos.



Von Big Thief (Archivbild von mir) aus Brooklyn, auf die ich mich im Vorfeld wahnsinnig gefreut hatte, bekam ich aber nur noch die letzten 2 bis 3 Lieder draussen auf der Wiese vor dem Spiegeltent mit. Unter anderem gab es die Perle Mythological Beauty zu hören, aber für eine fundierte Konzertkritik reichten meine Eindrücke natürlich nicht. Da ich die Band um Adrianne Lenker allerdings schon zwei mal live sehen konnte, weiss ich wie berührend ihre Auftritte sind. Natürlich keine grosse Show, kein Rumgehüpfe, dafür aber viel Authentizität, Intimität, Weltschmerz und Zartheit. Ihr Album Capacity war eines der besten im Jahre 2017, im Herbst 2018 wird nun aber erst einmal ein Soloalbum von Adrianne erscheinen.



Um 19 Uhr war die Zeit der Briten Public Service Broadcasting auf der Hauptbühne gekommen. Die Burschen hatten wir ja damals auf der inzwischen nicht mehr existierenden Beergarden Stage kennen-und lieben gelernt. Die drei Alben der Band hatte ich dennoch seitdem nicht gehört, weil ich einfach mit den ganzen Veröffentlichungen nicht hinterherkomme. Damals war es noch ein Duo, heuer ist es ein Trio, bestehend aus Burschen mit den Phantasienamen J. Willgoose Esq., Wrigglesworth et JF Abraham. Gerade der 2017 hinzugestossene Bassist JF Abraham machte mir unglaublich viel Spass! Er versprühte eine Spielfreude, dass ich nur noch bekifft grinsen konnte! Wahnsinn wie gut gelaunt er war, wie er das Publikum mitriss! 



Drummer Wrigglesworth war eher gewohnt stoisch, während  der Fliege tragende Soundtüftler J Willgoose oft schelmisch grinste. Das Konzept ist noch das gleiche geblieben. Propagandavideos, musikalische Collagen aus Post Punk, Krautrock, Post Rock und Elektronika, kein Gesang, (abgesehen von den gesampelten Radionsagen  passend zu den Videos). Das Ganze war meist ungemein tanzbar und hypnotisierend und auch nicht tierisch ernst zu nehmen. Das war vielmehr Unterhaltung pur, kredenzt von drei Brille tragenden Nerds, die über sich selbst lachen können. Teilweise wurden die drei auch von einem Bläser Trio begleitet, Saxofon, Trombone und Trompete und und auch diese Musiker amüsierten sich wie Bolle. 



Wenn ich es richtig in Erinnerung habe waren sie beim Weltraumstück Gagarin dabei. Abgeschlossen wurde die Show vom dem Bergsteiger Track Everest, der die Mount Everest Erstbesteigung zeigte und in einem fulminosen Finale mit einem heftigen Platzregen endete. Da waren zwar alle im Publikum in Kürze klatschnass, aber geschmunzelt wurde dennoch.



Wer freilich den jungen Briten Jake Bugg sehen wollte, der musste schon auf Public Service Broadcasting verzichtet haben und in etwa zur gleichen Zeit in der Dorfkirche gewesen sein. Da ich aber mit Bugg nicht allzuviel anzufangen weiss, war das für mich zu verschmerzen. Viel verpasst hatte man aber möglicherweise bei dem charismatischen Reverend Beat Man and The New Wave . War im Spiegeltent von 19h45-20Uhr30 angesetzt und klang aus der Ferne sehr bluesrockig und schräg. War bestimmt 'ne coole Show.



Rüber zur Hauptbühne musste ich allerdings nun für die Amerikaner Dirty Projectors. Deren Anfänge um das Jahr 2007 herum mit dem Cover Album Rise Above hatte ich mitverfolgt, aber irgendwie habe ich in den letzten Jahren den Anschluss bei der Diskografie der Band von David Longstreth verloren und die letzten drei Longplayer nicht mehr gehört. Longstreth selbst hat in dieser Zeit seine Band total ausgewechselt, selbst die charismatische Amber Coffman (seine Ex) ist heuer nicht mehr dabei und Angel Deradoorian verfolgt nun seit ein paar Jahren ihre Solokarriere. 




Weibliche Musikerinnen gab es dennoch bei den Dirty Projectors, beim Haldern sahen wir die blonde und stark tätowierte Maia Friedmann an der Gitarre, die erfrischend aufspielende Felicia Douglass mit prachtvoller Löwenmähne am Klavier und die meist im Hintergrund agierende Pianistin Kristin Slipp mit flotter Karoshort. Alle drei sangen im Laufe des Konzertes auch einmal alleine ganz vorne und in der Mitte, ansonsten hatten sie die Rolle Backvocals beizusteuern, eine Rolle, die keineswegs minderwertig war, weil die Chöre bei der Band aus New York schon immer besonders wichtig war. Unwichtiger als früher erscheint bei den Dirty Projectors allerdings das rockige Element geworden zu sein. Sie haben sich musikalisch immer weiter Richtung R'n'B und Indie Soul bewegt, ohne jedoch ihre Identität völlig aufgegeben zu haben. Eine experimentelle Band, deren Musik ständig im Fluss ist und stets überraschend bleibt. Ein guter Auftritt !



Ich musste mich nun sputen um schnell ins Zelt zu Kevin Morby zu kommen. Sein Konzert begann um 21Uhr15 und war schon im Gange als ich eintrat. Voll war es herinnen, aber nicht ganz so heiss wie in früheren Jahren, weil der Donnerstag dieses Mal relativ kühl war. Die Stimmung war durchweg klasse und sehr entspannt, alle hier schienen hier einen guten Abend mit Morby und seiner Band (darunter die talentierte Gitarristin Hand Habbits) zu haben. Mit viel Spielfeude und Nonchalance sang sich der Lockenkopf durch sein knackiges, aber leider recht kurzes Set. Den eindeutigen Schwerpunkt hatte er auf seinen letzten Output City Music gelegt, es gab aber auch 2 Songs von Singing Saw und jeweils einen von Harlem River und von Still Life. Der Abschluss ganz schmissig mit Dorothy, Retrocharme gepaart mit modernem Gitarrensound, unwiderstehlich! Die Menge johlte und ich hätte gerne noch einen Nachschlag bekommen, aber Zugaben gibt es im Spiegelzelt grundsätzlich nicht, dafür sind die Pläne zu straff gezurrt.*



Ich blieb aber im Zelt, unterhielt mich angeregt mit 2 Mitbürgern und wartet auf die folgende Band, Broen aus Norwegen. Schon als die junge Musiker ihre Bühne aufbauten, konnte man ihren eigenwilligen Kleidungsstil sehen. 80er Jahre Windjacken, Birkenstock mit Socken, Blumenaccessoires, Fummel aus dem Vintage Laden. Ich war auf die Musik gespannt. Die klang dann schliesslich nicht öko und nach alten Socken, sondern vielmehr nach modernem, tanzbaren R'n'B, Dreampop, Freejazz und Elektro. Die Lieder wahren eher experimentell gestrickt und nicht wirklich radiotauglich, aber keineswegs sperrig oder anstrengend. Ich verbrachte eine gute Zeit mit Leadsängerin Marianne, der Tubaspielerin Heida Karine, der Synthiespielerin Anja und ihren männlichen Mitstreitern Lars Ove, und Hans. 




Eine feine Entdeckung. Ich muss mir die auf dem exquisiten Bella Union Label erschienene Debüt Platte I love Art unbedingt mal anhören!


Danach war aber Schluss für mich an diesem Eröffnungstag. Als alter Mann muss ich mit meinen Kräften haushalten. Wie tot fiel ich ins Bett...





*Hier die Setlist von Kevin Morby



City Music

Crybaby
1234
Aboard My Train
Harlem River
Parade
Dry Your Eyes
I Have Been To The Mountain
Dorothy






 

Konzerttagebuch © 2010

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