Donnerstag, 20. Februar 2014

Balthazar, Stuttgart, 19.02.2014


Konzert: Balthazar
Vorband: Champs
Ort: Club Schocken, Stuttgart
Datum: 19.02.2014
Dauer: Balthazar 82 Minuten / Champs 28 Minuten
Zuschauer: vllt. 200

Alle Fotos: © David Oechsle

Die Gruppe Balthazar darf auf größere Hallen schielen. Spätestens seit der Tour mit den Editors im vergangenen Herbst sind die Belgier aus Gent in aller Munde. Nach zwei Alben und ausgiebigen Touren zahlt sich die Erfahrung aus. Live ist das Quintett in der ersten Liga melodiösen und tanzbaren Indie-Pops angekommen. Die aktuelle Tour dürfte eine der letzten Möglichkeiten sein, die Band in Deutschland in wirklich intimen Rahmen zu sehen. Am wachsenden Erfolg der Band ist kaum zu zweifeln. Viele Konzerte der Tour sind ausverkauft, auch in Deutschland. In Brüssel spielt man im Anschluss an das Stuttgarter Konzert gleich an zwei Abenden vor vollem Haus. Umso überraschender ist das Bild, das sich beim Eintreffen am Schocken bietet. Zwanzig Minuten vor dem angekündigten Beginn ist der Club in der Stuttgarter Innenstadt kaum gefüllt. Sind die beiden dominierenden Zuschauerkategorien der für diese Band wichtigsten Zielgruppen auf anderen Konzerten? Die Connaisseure gesetzteren Alters vielleicht bei Momus im Theater Rampe und die ultrahippen Indie-Girls nicht etwa doch bei den unsäglichen 30 Seconds to Mars in der Schleyer-Halle? Als sich der Saal während der Vorband doch noch füllt und sogar die Empore geöffnet wird, bin ich beruhigt.


 Die Stimmung ist entspannt aber redselig, als drei junge Männer mit Bärten und Hemden die Bühne betreten. Drei Gitarren, mehrstimmiger, versetzter Gesang, herzzerreißende Harmonien und wunderbare Melodien tragen die Songs des Trios von der Isle of Wight. Ein Abend im Zeichen des reinen Wohlklangs liegt vor mir.
Zum Glück darf englischer Folk sich mittlerweile auch wieder auf seine eigenen Wurzeln berufen. Nach Jahren, die von amerikanischen Einflüssen, von Dylan, Simon & Garfunkel oder Crosby, Stills, Nash & Young und der West-Coast-Leichtigkeit geprägt wurden, wagen britische Formationen die Rückbesinnung auf ihre Stärke. Erland & The Carnival machten es mit feinster nordenglischer Lyrik vor, während die formvollendete Inkarnation des Folks der 60er in Form des vermeindlichen Wunderkinds Jake Bugg die britischen Charts beherrschte. Es ist der Schatten des lange zu unrecht verschmähten Donovan, den man mit Ausnahme seiner Kollaboration mit den No Angels(!) wirklich nicht viel vorwerfen kann, der über den Songs einer jungen Generation englischer Troubadeure schwebt. Während die Musikpresse lieber auf Simon & Garfunkel oder irritierenderweise die epigonenhaften Fleet Foxes als Blaupausen verweist, sind Donovan und Martin Carthy und bedingt auch Fairport Convention die passenderen weil naheliegenderen Referenzen. In diesem wohligen Fährwasser schwimmen Champs und spielen ein sehr überzeugendes Support-Set. Ob man wirklich drei Gitarren braucht, darüber lässt sich freilich streiten, doch lassen bestechende Stücke wie „Down Like Gold“ oder „Pretty Much (Since Last November)“ über derartige Kritik hinwegsehen. Live ist das unheimlich melodisch und berührend.

Was schon in der Reduktion glänzt, kann sicher auch in opulent produzierten Studioversionen überzeugen. Am dritten März erscheint das Debütalbum „Down Like Gold“, das der Musikexpress als „Folkpop für die Generation WLAN“ bezeichnet. Wo dieses Label als reine Worthülse seinen Sinn verfehlt, punkten die Champs um die Brüder Michael und David Champion mit vielversprechenden Stücken in bewährter Tradition. Während auf der Insel jeder vor Verzückung über den psychedelischen Modpop der Temples jauchzt, kommen von einer kleinen Insel mit großer Musikgeschichte vor der Südküste bei Portsmouth große Folksongs. Die Rückbesinnung auf englische Tugenden ist seit langem der große Trumpf der größten Popnation. Auch wenn One Direction die Brit Awards dominieren, ist nichts verloren. Das erste Stuttgart-Konzert der aufstrebenden Folk-Band, deren Debüt, wie bekannte Studioaufnahmen belegen, mit Bass und Schlagzeug auch die Tür zum tanzbaren Indie-Pop offen hält, endet mit „Savannah“, einem gefälligen Ohrwurm und geschicktem Spiel mit Zitaten. Als sich der Sänger lächelnd für die Aufmerksamkeit bedankt und eine lange Strähne aus dem Gesicht streicht, haben sich Champs längst große Sympathien erspielt. Merkt euch den Namen. Travelling through all the inbetweens.


Setlist Champs, Stuttgart:

01: Down Like Gold
02: Sweet Marie
03: Pretty Much (Last November)
04: Rebel
05: St. Peter's
06: My Spirit Is Broken
07: Savannah



Dass großartige Vorbands für den Hauptact zu einer ärgerlichen Angelegenheit verkommen können, ist bekannt. Balthazar kennen dieses Phänomen aus eigener Erfahrung. Auf der gemeinsamen Tour mit den Editors schwärmte so mancher in weit höheren Tönen vom belgischen Support als von der einstigen Speerspitze englischer Formationen, äußerte so den Frust über das enttäuschende vierte Album der Band aus Birmingham. Auch ich war vor dem Editors-Konzert in der Berliner Columbia-Halle im Oktober gespannt, wie gut Balthazar sein würden, die ich zuvor im Keller Klub verpasst habe und von denen scheinbar jeder schwärmte. Tatsächlich war der Auftritt grundsolide, die Songs erstklassig und mitreißend. Doch als die Editors anschließend ein für alle Mal manifestierten, dass sie nach zweieinhalb starken und einem schwachen Album zumindest live noch immer großartig sind, vergaß man die Spielfreude, den gekonnten Einsatz verschiedenster Elemente und die Hits Balthazars. 

Die Klasse der belgischen Band offenbart sich mir folgerichtig erst bei ihrem ersten Headliner-Konzert, das ich besuche. Zwei Alben hat man bisher veröffentlicht, die sich mit dem alles umgreifenden Satzgesang und dem wunderbaren Einsatz der Violine über aufgetürmten Keyboard-Passagen und schnellen Indie-Gitarren ausgezeichnen. Die letzte Platte, „Rats“, ist jetzt auch schon zwei Jahre alt, das nächste Album dürfte in den Startlöchern stehen. „I just wanted you to taste the ink“, singt Maarten Devoldere in „Lion's Mouth (Daniel)“ vom 2012er Album und deutet zwischen den Zeilen mehr oder weniger an, dass es heute auch Neues zu hören gibt. So werden neben der aktuellen Single „Leipzig“ mit „No More“ und „Will My Lover Be Found“ gleich zwei weitere Stücke des kommenden Albums gespielt. Die Öffnung hin zu stadiontauglichen Klängen war immer eine Frage der Zeit, die Chöre der großen Hits der Gruppe zielten schon immer auf ein großes Publikum ab, die neuen Stücke machen diesen Weg nun gänzlich offenbar. Was man als Schwäche auslegen könnte, ist die Stärke der Band. Mögen insbesondere die populärsten Songs regelrechte Versatzstücke bekannter Indie-Klassiker aufweisen, sind sie doch so geschickt gestrickt, dass es eine wahre Freude ist. 

Jinte Deprez hält die Akustik-Gitarre wie Dylan in den 60ern, während er „The Boatman“ und vor allem „Listen Up“ zur Darstellung seiner Frontmann-Qualitäten nutzt. Vom auffälligen Spiel der beiden Sänger und Gitarristen und der Keyboarderin und Violinistin Patricia Vanneste ein wenig versteckt, erfüllen Bassist Simon Casier und Schlagzeuger Christophe Claeys, die grundlegende Aufgabe der Rhythmusfraktion tadellos, halten das Gesamtbild zurückhaltend zusammen. 
Die bebrillten Mädchen in der ersten Reihe, die vor dem Konzert Radioheads „Idioteque“ noch Justice zuschrieben, sind aus dem Häuschen. Balthazar werden wie Helden gefeiert, als „Fifteen Floor“ mit seinem eingängigen Beat erklingt. Mit „Sinking Ship“ und „Do Not Claim Them Anymore“ erreicht die Euphorie vor den Zugaben weitere, ungeahnte Höhen. Die Band improvisiert hier und da, Patricia Vanneste zupft ihre Violine, während die perkussive Komponente des Bandsounds besonders ausgereizt wird.


„Sides“, den Closer des letzten Albums, und „Blood Like Wine“ gibt es als Zugaben. Der Schluss wird herausgezögert, der Applaus ist frenetisch. Jan Georg Plavec von der Stuttgarter Zeitung bekennt anschließend, er habe das bisher beste Konzert des Jahres gesehen. So weit gehe ich nicht, aber Balthazar überzeugen mit großen Indie-Pop-Hymnen an der Grenze zum Stadionrock, die am Ende doch einen bleibenden Eindruck hinterlassen können. Wie den Editors in Berlin gelingt es dem Hauptact doch noch einmal den großartigen Support auszustechen. Zurecht. Der steile Weg, den die fünf Musiker aus Gent mit Pathos und Melodie zielstrebig beschreiten, dürfte unaufhaltsam sein. Im Sommer spielt man auf den großen Festivals. Offen bleibt lediglich die Frage, wohin sie dieser Weg führt. Von der klassischen Nachmittagsband der Hurricanes dieses Kontinents, über ein Zerbrechen nach dem dritten Album bis hin zum Platz inmitten des kollektiven Mainstream-Gedächtnis' ist alles möglich. Die Band hat es weitgehend selbst in der Hand.




Setlist Balthazar, Stuttgart:

01: Lion's Mouth (Daniel)
02: Later
03: The Boatman
04: I'll Stay Here
05: The Man Who Owns the Place
06: No More (neu)
07: The Oldest of Sisters
08: Leipzig (neu)
09: Will My Lover Be Found (neu)
10: Joker's Son
11: Listen Up
12: Fifteen Floors
13: Morning
14: Sinking Ship
15: Do Not Claim Them Anymore

16: Sides (Z)
17: Blood Like Wine (Z)


Links:
- aus unserem Archiv:
- Balthazar, Wiesbaden, 01.11.2013
- Balthazar, Wien, 08.10.2013
- Balthazar, Frankfurt, 22.04.13
- Balthazar, Paris, 20.07.12
- Balthazar, Mannheim, 18.05.12
- Champs, Paris, 12.02.2013
 

 

Konzerttagebuch © 2010

Blogger Templates by Splashy Templates