Sonntag, 20. Januar 2008

Morrissey, Lille, 19.01.08


Konzert: Morrissey

Ort: Aeronef in Lille
Datum: 19.01.2008
Zuschauer: etwa 800 (ausverkauft)


Einer der schönsten Momente des Abends war, als wieder einer von zahlreichen Fans die Bühne besteigen konnte, Morrissey ihn noch fragte "where are you going?", bevor der Besucher ihn umarmte und der Sänger dies kommentierte: "Everybody deserves a hug." Pause. "Once a year." Köstlich!

Morrissey schien gut gelaunt zu sein an diesem Abend in Lille, der vorletzten Station seiner kurzen Frankreich Tour. Vorher war er in Clermont-Ferrand und Straßburg aufgetreten, es folgt ein Konzert in Paris, bevor sechs Gigs in Folge in London stattfinden, alle natürlich ausverkauft. Das war Lille auch, der Saal im Aeronef war allerdings nicht furchtbar groß, nicht größer als das Stollwerck in Köln. Vollkommen anders als ich das erwartet hatte, liegt der Club mitten in der Stadt, gleich über einem Schopping-Center. Der Saal ist sehr schön, luftig, mit einer Galerie und vielen offenen Ein- bzw. Ausgängen. Der erste Eingang, den ich sah, mündete direkt vor der
Bühne, es war also einfach, nach vorne zu kommen, obwohl der Saal da schon ganz gut gefüllt war. Mich hat es nicht gestört.

Kurz nach acht (Oliver hatte mich vorgewarnt) begann bereits die Vorgruppe, Girl in a Coma aus San Antonio in Texas, die Morrissey ausgesucht hatte (so die Legende). Die Band gefiel mir besser als Kristeen Young bei Mozzas Konzerten in Deutschland vor gut einem Jahr. Das ist aber vermutlich auch schon alles, was von den drei Musikerinnen in meinem Gedächtnis bleiben wird, berühmt
war es nämlich nicht. Die Sängerin hatte eine aufregende Stimme, der Rest war nicht originell, klang nach irgendetwas zwischen Siouxsie und den Yeah Yeah Yeahs. Ziemlich langweilig. Vielleicht bezieht sich der Name also nicht bloß auf das Lied sondern auch auf Zuschauerreaktionen...?

45 Minuten später bedankten sich die drei, sicherten sich mit "enjoy Morrissey" Applaus und überließen dem schon bekannten Pausenfilm die Bühne, der auf den Vorhang projeziert wurde. Diese zusammengeschnippelten Film- und Musikausschnitte hatte Steven Smith schon bei seiner Deutschland-Tour dabei. Es waren allerdings einige neue Schnippsel enthalten, ein paar schwarz-weiße Filmausschnitte. Ich kannte schon den Auftritt von den New York Dolls im Musikladen mit Manfred Sexauer, der die Zuschauer vorwarnte, daß das keine Frauen seien und daß man besser die Lautstärke des Fernsehers runterdrehen sollte. Auch wieder herrlich die Kostümprobe von "Jenseits von Eden" mit einem herrlich albernen James Dean. Der
Pausenfilm endete mit einem kiffenden New York Dolls Sänger, der Vorhang fiel und Morrisseys Band erschien. Die Musiker waren wieder (recht) einheitlich gekleidet: Sie trugen schwarze Hosen, weiße Kurzarmhemden und unterschiedlich farbene Krawatten.

Morrisseys Krawatte war wohl mit James Dean Bildern bedruckt, wenn ich es richtig gesehen habe (ich habe, merke ich gerade). Er trug ansonsten wieder eines seiner zu optimistischen Hemden, anfangs ein hellblaues. Der Anfang ließ vermuten, daß das Konzert wieder hauptsächlich aus den bekanntesten
Smiths- und Solo-Liedern der letzten beiden Platten bestehen würde. Lied vier war dann bereits die neue Single "That's how people grow up", die gut ist, aber nach dem ersten Hören nicht an die großen Hits seiner letzten Alben rankommt.

Dann wurde es ganz anders. Viele Lieder aus seiner frühen Solo-Phase folgten, "The Loop", "Sister I'm a poet" oder "Billy Budd". Wäre es mein erstes Morrissey-Konzert gewesen, wäre ich vielleicht enttäuscht gewesen. Nach drei anderen Gigs konnte ich
aber richtig genießen, daß z.B. mit "Stretch out and wait" auch ein Dritte-Reihe Smiths-Lied gespielt wurde - großartig!

Das Publikum war aber auch entweder Mozza-erfahren oder vollkommen euphorisch, denn enttäuscht wirkte niemand, die Stimmung war prächtig. Absolut zu recht natürlich! Die Begeisterung zeigte sich zum Beispiel in rhythmischen "Morrissey - Morrissey - Morrissey" - Schlachtrufen, die der Sänger lächelnd mit "You're from Belgium! I know!" kommentierte. Das bringt mich jetzt noch zum Lachen!

Der Teil des Publikums, der nicht mit rhythmischem Singen beschäftigt war, schien entweder Morrisseys Hand zu schütteln (das machte er immer wieder, bis zum Ende
des Konzerts) oder die Bühne zu stürmen, um den Großmeister der britischen Musik zu umarmen. Everyone deserves a hug eben.

Zu "S
omething is squeezing my skull", einem der neuen Songs, sagte der Sänger "It's on our new - as we say in England - album. In France they say 'CD', in America they say record." Jemand aus dem Publikum rief, wie das Album denn heiße. "I'm way too hip to tell the title." Wohl wahr!

Gottseidank war "Life's a pigsty" Teil des Sets. Das sehr lange Lied ist einer meiner Lieblinge der letzten Platte und wohl gesetzt bei seinen Konzerten. Allerdings war mir
das Ende neu, zumindest erinnere ich mich nicht daran, daß es bisher in "Auld Lang Syne" ("Should old acquaintance be forgot") überging.

Und auch neu war für mich, daß Julia sprach! Die Frau, Muse oder Begleitering des Engländers, wurde von ihm gefragt, wie es ihr ergangen sei. Sie antwortete, sie sei beeindruckt von all der Kunst, die sie auf dem Weg von Straßburg gesehen hätten. Frankreich sei solch ein künstlerisches Land (und vermutlich waren sie noch nicht einmal in einem Supermarkt und in seiner gigantischen Joghurtabteilung...). Morrissey sagte: "I feel... The F word... 'fat'."

Nach knapp anderthalb Stunden sagte der Frontmann das Ende an: "For your patience you'll be rewarded: or final song." Es folgten aber mit "
Stretch out and wait" und "Irish blood, English heart" noch zwei Stücke, dann aber nur eine Zugabe, der live für mich neue Klassiker "The last of the famous international playboys". Ein grandioser Abend, daran gibt es keinen Zweifel. Morrissey kann es immer noch. Hoffentlich bringen ihn Schlagzeilen und Spekulationen um angebliche Gesinnungen nicht um die Lust daran, Konzerte zu geben. Das wäre eine Schande!

Die neuen Lieder sind gut, brillante Stücke wie "Irish blood" habe ich aber nicht gehört. Aber ich bin gespannt.

Setlist Morrissey Aeronef Lille:

01: How soon is now? (The Smiths)
02: First of the gang to die
03: I just want to see this boy happy
04: That's how people grow up
05: Stop me if you think you've heard this one before (The Smiths)
06: All you need is me
07: The National Front disco
08: Something is squeezing my skull (neu)
09: Billy Budd
10: The loop
11: Death of a disco dancer (The Smiths)
12: Life's a pigsty
13: I'm throwing my arms around Paris
14: Why don't you find out for yourself?
15: Mama lay softly on the riverbed (neu)
16: Sister I'm a poet
17: One day goodbye will be farewell
18: Stretch out and wait (The Smiths)
19: Irish blood, English heart

20: The last of the famous international playboys (Z)

Links folgen!



2 Kommentare :

Oliver Peel hat gesagt…

Sehr ordentlich, Christoph! Macht Spaß das zu lesen!

Anonym hat gesagt…

Hi!
Ein wirklich schöner Review vom Lille-Konzert. Eine Anmerkung noch von mir: "Auld Lang Syne" wurde auf der letzten Tour meiner Erinnerung nach immer direkt hinter "How soon is now" angespielt, bevor es zur Zugabe ging.
Gruß,
Sven

 

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