Konzert: Tocotronic - Let there be Tocotronic (The Hamburg years)
Ort: Arena Vorplatz, Trier
Datum: 20.08.2021
Dauer: ca. 105 min
Zuschauer: nicht ausverkauft
heute bin ich recht gut ausgeschlafen aufgestanden und nach Trier gefahren. Trier schien mir ein guter Ort für eines der Hamburg years Konzerte von Tocotronic zu sein, denn dort habe ich während des Studiums zum ersten mal Tocotronic-Lieder gehört und leise mitgesungen habe, wenn ich an den Jongleuren vor der Mensa vorbeigegangen bin.
Das ist irrsinnig lange her, damals gab es noch keine Arena, Konzerte fanden im Exhaus statt. Oder in Köln. Das größte kulturelle Spektakel in Trier seit Abzug der Römer hatte ich damals dummerweise verpasst. Prince spielte 1992 im Moselstadion, die Tickets dafür waren mir viel zu teuer gewesen (55 DM).
Als ich mein Ticket für Tocotronic (36,90 €) gekauft habe, war natürlich überhaupt nicht abzusehen, ob, wann und wie das Konzert stattfinden würde. Daran haben wir uns in den vergangenen Jahren gewöhnen müssen. Da ich zweimal geimpft bin und vor einigen Wochen meine ersten beiden Konzerte seit Corona-Beginn gesehen habe, erschien mir ein erstes großes Ding im Freien nicht verkehrt zu sein. Im Sommer letzten Jahres war das für mich vollkommen unattraktiv. Jetzt gibt es hohe Impfquoten und durchdachte Sicherheitskonzepte, warum also nicht!
Ich war früh da, mein Konzerttiming funktioniert noch nicht wieder. Weil der örtliche Veranstalter (der damals bei Prince auch schon dabei war) auf Anfragen, was man als Gast zu beachten hat, nicht reagiert hat - jedenfalls nicht vor der letzten Zugabe* - wusste ich nicht, wie lange die Überprüfung von Impfstatus oder Tests und der Austausch der Steh- in Sitzplatztickets dauern würde. Die Organisation des Kartentauschs war perfekt. Für uns Stehplatzinhaber waren die ersten Sitzreihen reserviert. Später im Vorverkauf gab es wohl nur noch Sitzplätze mit festen Nummern. Ich war als dritte Gruppe da, also saß ich in der ersten Reihe leicht links vom Sänger. Die Corona-Checks waren zwar auch pragmatisch gelöst, waren aber auch aus meiner Sicht fragwürdig. Es gab nämlich keine. Keines der Gs wurde überprüft, auf Banden stand aber, daß man mit Symptomen nicht reindürfe. Nun denn. Grund für den laxen Umgang war wohl die niedrige Inzidenz in Trier. Daß sicher ein Großteil des Publikums nicht aus Trier oder Trier-Land kam, spielt dann eben keine Rolle.
Um 19:15 Uhr ging es vorgruppenfrei los. "Wir spielen für euch Lieder aus den Jahren 1993 bis 2003 und zwar in chronologischer Reihenfolge." Also Stücke der ersten sechs Platten. "Chronologisch" war dabei als albenchronologisch zu verstehen, also in der Reihenfolge, in der sie auf den Platten sind, vom ersten Lied bis zu den Zugaben. Ich mag so etwas sehr! Nach Neues vom Trickser (letztes Lied, letzte Platte Hamburg years) kamen noch zwei Ausnahme-Zugaben, Hoffnung, die 2020er Single und Letztes Jahr im Sommer.
Natürlich war das Konzert brillant. Was könnte bei der Band und der Setlist schiefgehen? Der Klang war eine Spur breiig, aber hey, es findet wieder Livemusik statt! Auch an der Liedauswahl könnte man mäkeln, wenn man umbedingt mäkeln möchte. Die perfekte Liveshow der Hamburg years wären ohnehin drei Abende à zwei Alben gewesen (die Sparks haben das in London vor einigen Jahren gemacht und an 20+ Abenden jedes Album komplett gespielt, The Divine Comedy machen das irgendwann nach Corona auch - Tickets liegen hier). Aber als Auswahl taugten die 22 Lieder perfekt!
Dirk von Lowtzow schien gut gelaunt. Er hielt uns unterwegs immer wieder auf dem Laufenden, sagte wo wir uns gerade befanden ("wir sind jetzt im Jahr 1999" oder "wir kommen jetzt zum ersten Lied, das wir als Tocotronic geschrieben haben, glücklicherweise gleich eines der besten Stücke aller Zeiten! Die Idee ist gut, die Welt noch nicht bereit"), dirigierte viel, was ich anfangs als Aufforderung verstand, aufzustehen. Bei einem der letzten Konzerte hatte die Band aber wohl darauf hinweisen müssen, daß das Publikum sich wieder setzen müsse.
Auch wenn Konzerte im Sitzen die Pest sind (Seuchenvergleiche aber auch), haben sie einen Vorteil: das Publikum ist aufmerksamer. Das dämliche Quatschen mit dem Nachbarn, das noch dämlichere Zusammenschlagen von Flaschen vor jedem Schluck waren nicht zu hören. Wie bei Fußballgeisterspielen hört man plötzlich Dinge, die sonst untergehen. Hier waren es ein paar schöne Reaktionen des Publikums. Dirks "wir spielen jetzt einen postmodernen Song" kommentierte jemand mit "die sind doch alle postmodern!" "Ja, scheiße!" Oder - mein Liebling - nach der Ansage "es folgt ein selten gespielter Protestsong" ein von Herzen kommendes "oh!"
Mehr kann ich mir ein Konzert im Sitzen aber nicht schönreden. In einem Club oder auf einer matschigen Wiese stehend hätte ich den Auftritt geliebt. So war es ein DVD-Abend auf einem unbequemen Stuhl. Das coronabedingte Konzept Großkonzert sitzend funktioniert bei mir nicht. Oder richtiger: ich funktioniere da nicht. Band, Songs, Wetter, Bandlaune, Publikum, Organisation (von der 3G-Sache und der Kommunikation abgesehen), alles perfekt! An mir ging das aber leider komplett vorbei. Wie Prince 1992.
Setlist Tocotronic, The Hamburg years, Trier:
01: Freiburg
02: Digital ist besser
03: Drüben auf dem Hügel
04: Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit
05: Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein
06: Du bist ganz schön bedient
07: Michael Ende, du hast mein Leben zerstört
08: Die Welt kann mich nicht mehr verstehen
09: Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst
10: Nach Bahrenfeld im Bus
11: Sie wollen uns erzählen
12: Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen
13: Let there be rock
14: Die neue Seltsamkeit
15: Jackpot
16: Die Grenzen des guten Geschmacks 2
17: Jenseits des Kanals
18: Das Geschenk
19: This boy is Tocotronic (Z)
20: Hi freaks (Z)
21: Neues vom Trickser (Z)
22: Hoffnung (Z)
23: Letztes Jahr im Sommer (Z)
* Das Antwortmail kam um 21:15.