Konzert: Masha Qrella
Ort: Hafen 2, Offenbach
Datum: 18.06.2021
Dauer: Masha Qrella 80 min, Scotch & Water knapp 55 min
Zuschauer: ca. 120
Vor 468 Tagen habe ich zuletzt jemandem die Hand geschüttelt. Mein letztes Konzert war bis Freitag noch etwas länger her: 478 Tage. Als ich Ende Februar 2020 bei Ash im Gebäude 9 in Köln war, sprachen wir noch sehr abstrakt über den Corona-Ausbruch in China. Damals waren Gürteltiere als mögliche Überträger das Gesprächsthema. Die Epidemie kam erst in den Tagen nach meinem Ash-Konzert richtig in unserem Bewußtsein an. Am nächsten Tag wurde der Hotspot Heinsberg bekannt, zwei Wochen später erklärte die WHO den Pandemiefall. Bei mir begann das, was die meisten von uns vermutlich seit März 2020 erlebt haben: der Ausnahmezustand im Kopf. Wie schützt man sich und sein Umfeld vor dieser Krankheit, was passiert mit dem Job, wie schlimm wird die Wirtschaftskrise, die zwangsläufig kommen würde?
Konzerte ließ dieser Kopf keine zu. Ein Konzert macht mir nur dann Spaß - Achtung, Plattitüde! - wenn ich mich fallen lassen kann, mich auf die Musik einlassen kann und währenddessen nicht dumm rumgrübele.* Ash blieb daher mein sechstes und letztes Konzert 2020. Jedenfalls mein letztes ohne Computer zwischen mir und der Musik. Vermisst habe ich Konzerte in den vergangenen anderthalb Jahren nicht. Erstaunlich, daß ich einmal sowas schreibe. Mein Vorsatz war aber immer, fünf Konzerte in der ersten Woche zu sehen, "wenn es wieder geht."
"Wenn es wieder geht" ist komplizierter als gedacht. Indoor-Konzerte, Touren von Bands aus Übersee (und - verstärkt durch den Brexit-Irrsinn - aus Großbritannien) sind noch nicht vorstellbar, meine Lust auf Strandkorb-Konzerte auch nicht. Aber als die Frage eines Freunds kam, ob ich mit zu Masha Qrella zum Hafen 2 nach Offenbach kommen wolle, wolte ich unbedingt, es fühlte sich ok an.
Wir kamen gerade pünktlich zum geplanten Beginn der Vorgruppe an. Corona-Tests, die Luca-App oder Impfnachweise waren nicht verlangt. Da im Anschluß an das Konzert ein (ausverkaufter) Film gezeigt werden sollte und die Kino-Leute zum großen Teil schon da waren, wunderte ich mich darüber sehr.
Wir Konzert-Menschen verteilten uns unten vor der Sommerbühne und oben am Hang. Es waren bei Masha Qrella sicher 120 Leute da (meine Fähigkeit, Mengen zu schätzen, habe ich allerdings leider während Corona nicht verbessert).
Um kurz nach halb acht begann die Hamburger Band Scotch & Water ein Support-Set. Irgendwo hatte ich vorher etwas von Folk gelesen und meine Scheuklappen vorsorglich hochgefahren. Je schneller die Lieder (und die Gitarren) aber waren, umso dreampopiger war das Programm. Selbst die Mandoline (?) versaute es mir nicht. Und wenn ich einer Vorgruppe 55 Minuten lang interessiert zuhöre, liegt das nicht an meiner in den letzten Monaten gestiegenen Toleranz, die ist unverändert, fürchte ich. Die Band war also wohl unterhaltsam. Am Nachmittag hatte ich kurz Still Corners gehört (die ich auch schon im Hafen 2 gesehen hatte). Ich weiß nicht, ob mir die Assoziation auch ohne gekommen wäre, aber ab und zu erinnerten mich Scotch & Water (oder "Whiskey & Water", wie Masha sie nannte), ganz besonders ihre schnell gespielten Gitarren an die Dreampop-Band.
Als es dann fast 30 Minuten später als angekündigt mit der Hauptgruppe losging, wurden wir nervös. Nicht wegen der fehlenden Pünktlichkeit. Für 21:45 Uhr war aber vor der Bühne das Kino angekündigt, blieben also 45 Minuten incl. Leinwandumbaus für Masha. "Wann geht die Sonne heute unter? So lange spielt sie auf jeden Fall!" - "Ja, schon... aber 21:43 Uhr..."
Die Berlinerin hat bereits im Februar eines meiner liebsten Alben des Jahres veröffentlicht. Auf Woanders vertont Masha Texte des Berliner Schriftstellers und Lyrikers Thomas Brasch. Dessen Werk hatte Masha - wenn ich es richtig in Erinnerung habe - durch ein Buch von Braschs Schwester Marion über ihre Künstlerfamilie kennengelernt. Der Vater den beiden war in der DDR stellvertretender Kulturminister. Thomas Brasch stellte nach der Aussiedelung Wolf Biermanns einen Antrag auf Ausreise aus der DDR und zog nach Westberlin.
Die lyrischen Texte, die wundervollen Melodien und Mashas Stimme machen jedes der Lieder zu einem Kunstwerk. "Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber wo ich bin will ich nicht bleiben, aber die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber wo ich sterbe, da will ich nicht hin: Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin." Bei einigen der Stücke hat Masha Gastsänger. Mein Liebling ist dabei Meer mit Dirk von Lowtzow, besonders bemerkenswert ist auch Maschinen mit Andreas Spechtl von der Gruppe Ja, Panik. Bei einem einmaligen Konzert 2019 in Berlin waren die Gastsänger gemeinsam mit Masha auf der Bühne. Daß das in Offenbach nicht so wäre, wussten wir. Wie Masha Qrella mit ihren beiden Begleitern Robert Kretschmar (Schlagzeug) und Andreas Bonkowski** (Percussion und Synthesizer) die Duette vortragen würden, nicht. Sie löste es pragmatisch. Mal sangen die Männer, mal (27. September - eigentlich kein Duett) kam eine leise zweite Stimme vom Band. Meer fehlte leider im Set.
Die drei fingen mit dem wunderschönen Ticket to my heart von Mashas letzten Album vor Woanders (Keys) an. "Aber eigentlich wollen wir euch neue Lieder vorstellen!" Ich glaube, Masha wollte da noch mehr erklären, wurde aber vom Auftrittsort abgelenkt. "Die Fahrgeräte stehlen einem die Show!" Die Fahrgeräte waren allerlei Bötchen, die im Offenbacher Hafen rumschipperten. Mein Liebling war der große Pott, auf dem elegant gekleidete Menschen Geburtstag oder Hochzeit feierten. Es hätte viel zu sehen gegeben, wir wollten aber ja vor allem hören und kamen da noch deutlich mehr auf unsere Kosten.
Zwischen den Stücken von Woanders streute Masha immer wieder Stücke (vor allem) von Keys ein. Weil ich Woanders so oft gehört habe, sind die deutschsprachigen Lieder schon wie alte Bekannte. Es wechselte also bloß ab und zu die Sprache in einem sehr homogenen, vor allem homogen guten Set. Meine Lieblinge live waren etwa Pale days, Maschinen (mit wahnsinnig gutem Dancebeat) oder Geister.
Neben den Fahr- gab es auch Fluggeräte zu sehen. "Mich hat gerade eine Hornisse angegriffen!" sagte Andreas irgendwann. "Unsinn! Das sind Junikäfer!" (Robert). Das sind die, die dich preisen wollen, weil sie glauben, du seist klüger als sie, denn sie sind, glauben sie, Staub und du bist der Wind.
* außer über Sachen wie Konzertfrisuren
** ?
Setlist Masha Qrella, Hafen 2, Offenbach:
01: Ticket to my heart
02: Bleiben
03: Blaudunkel
04: Geister
05: Maschinen
06: 27. September
07: Girl
08: Keys
09: Wind
10: Haut
11: Hure
12: Woanders
13: Pale days
14: Sicily (Z)
15: Don't stop the dance (Z)
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