Konzert: Haldern Pop Festival 2022
Ort: Haldern
Datum: 11.-13.08.22
Dauer: 3 Tage
Zuschauer: fast ausverkauftDie Zeiten ändern sich. Wenn dies sogar bis zum Haldern Pop Festival durchdringt, kommt keiner mehr daran vorbei.
War das Festival zwar in Sachen Line-Up schon lange Vorreiter, dauerten Entwicklungen an der Organisation schonmal etwas länger. Schlimm war das nie, schließlich stand ja an allen Ecken und Enden immer das Persönliche beim Haldern Pop im Vordergrund.
Dieses Jahr gab es also viel Neues zu entdecken.
Durch die Corona-Pause und der letztjährigen, „kleinen“ Ausgabe war wohl Zeit und Willen genug da, die Dinge anzugehen. Der „Pop-Taler“ ist Geschichte, eine APP oder alternative Prepaidkarten erleichtern das ansonsten schwere Portmonee der Vorjahre und auch der Zeitplan und die Bandinfos sind digital verfügbar.
Auf eine Änderung hatten die Macher wohl hoffentlich keinen direkten Einfluss. Waren früher Gummistiefel und Regenjacke Pflichtausstattung und wurden aus Routine sogar an sonnigen Tagen getragen, sollte man mittlerweile dringend über den Kauf eines etwas hochpreisigeren Pavillons für den Sonnenschutz nachdenken. Er wird in den nächsten Jahren wohl immer wichtiger.
Die Sonne brannte an allen Tagen unerbittlich bis in die späten Abendstunden.
Das Festival wollte daher noch mehr als sonst „erarbeitet“ werden. Aber es sollte sich bei dieser Ausgabe besonders lohnen.
Sieht man in anderen Line-Ups fettgedruckte Namen und Bandlogos, die den Ticketpreis rechtfertigen sollen, geht das Haldern auch hier bewusst einen anderen Weg. Alle Bands sind alphabetisch auf dem Poster angeordnet. Soll doch jeder selber herausfinden, wer seine Helden sind. Und davon gibt es bei genauerem Hinsehen sehr viele.
Fast alle relevanten Newcomer Bands des letzten Jahres sind vertreten, auch wenn die kurzfristige Absage von Yard Act schmerzte.
Husten und 1000 Robota eröffnen die neue, kleine Marktplatzbühne noch etwas verhalten, zuerst wollen ja alle alten Bekannten begrüßt werden, viele trifft man schließlich nur einmal im Jahr hier. Doch spätestens mit Wu-Lu als erstem Hauptbühnenact kommt echte Freude auf. Ein wilder Mix aus Rap und Indie peitscht von der Bühne auf das heiße Gras.
Danach ein, bei der Hitze gewagter Abstecher zum Spiegelzeit, das entgegen aller Vorurteile, schon seit Jahren fast immer ohne Wartezeiten begehbar ist. Das gleißende Licht des Sonnenuntergangs strahlt durch die bunten Zierfenster und man wähnt sich eher in einem Wüstenzelt in Kairo, als am Niederrhein.
Sports Team, vor drei Jahren noch eher ein Pavement-Klon, spielen mittlerweile breitbeinigen Rock mit Indie-Attitüde. Sänger Alex Rice springt daher gerne auch schonmal mit nacktem Oberkörper in die Menge und trägt sehr zur Unterhaltung bei. In England schon eine große Nummer, bleibt hier aber noch Potential nach oben.
Danach zwei weitere Acts auf der Hauptbühne, die Viele feierten, mich aber leider nicht berührten. Sons of Kemet sind ohne Frage ein besondere Band und natürlich auch besondere Musiker, aber Emotionen kann ich hier genauso wenig empfinden, wie bei dem zwar sehr schönen, aber auch etwas dahin gehuschten Auftritt von Nilüfer Yanya.
Die Geschmäcker sind halt verschieden, und Auswahl gibt es ja vor Ort wahrlich genug.
Daher wieder der fliegende Wechsel in das Zelt, wo nach den recht überzeugenden Newcomern von Geese noch ein besonderes Highlight anstand.
Dry Cleaning, innerhalb weniger Monat vom flüsternden Geheimtipp zum „next big thing“ geworden, passen perfekt in den Nachtslot von 2.00 bis 3.00 Uhr morgens. Eine eigentlich „unmögliche“ Band, von der ich gerne wissen würde, wo die Musiker sich gefunden haben. Da ist einerseits die extrem charismatische Sängerin Florence Cleopatra Shaw, die mit „toten“ Augen, aber live auch oft lächelnd ins Publikum starrt. Ein Bassist mit wehendem Haar und Bühnenventilator, dazu ein Fäuste ballender Gitarrist mit riesigem Schnauzbart und ein unscheinbarer Indie-Drummer. Zusammen spielen sie einen betörenden Indierock, wie man ihn lange vermisst hat. Oder wie das Haldern Pop selber schrieb: „Eine skurrile Sinneserfahrung.“ Großartig.
Der Freitag beginnt für viele mit einem Sprung in den nahen Badesee. Viel bringt das nicht. Spätestens, als man zu Mittagszeit den Weg vom Zeltplatz zum Markt geschafft hat, brennt die Sonne wieder auf den schon geröteten Nacken. Passend dazu gibt es entspannten Indierock mit hawaiianischen Anleihen und passenden Hemden. Schöne, kleine Popperlen von Eli Smart sorgen für gute Stimmung. Überhaupt ist die Bühne hier ein voller Erfolg. Für viele, denen das Programm in der Kirche vielleicht zu speziell ist, ergibt sich eine sinnvolle Alternative doch ins Dorf zu schlendern.
Genau, die Kirche…natürlich findet auch hier wieder ein extrem abwechslungsreiches Programm statt. Zum Beispiel die mit dem „Montreux Jazz Talent Award“ ausgezeichnete und in Belgien schon zum Star avancierte Meskerem Mees. Sie hat keine Show oder große Bühnenansagen nötig. Wie einst Tracy Chapman weiß sie nur mit ihren Songs und ihrer Ausstrahlung jedes Publikum zu begeistern. Eine besondere Empfehlung.
Danach kann man zwischen einer italienischen Roadshow und einer Art Kraftwerk-Cover-Konzert von 1000 Robota mit stargaze wählen. Das kann wohl auch kein anderes Festival von sich behaupten.
Erst dann startet die Hauptbühne mit einem lupenreinen Klon der Killers, Mid City sind im Dorf. Als Auftakt sicherlich OK, aber auch schnell wieder vergessen. Das behaupteten viele auch von dem folgenden Auftritt von Friedberg. Natürlich wirkt das auf der Bühne schon fast zu schön um wahr zu sein. Aber die Songs sind gut und extrem poppig. Sängerin Anna Friedberg erzählte von einer Supporttour in den USA mit Hot Chip. Das passte bestimmt gut zusammen.
Das harte Doppel von Shame und Gilla Band musste dann für mich hitzebedingt leider ausfallen. Zwei Eiskaffee später wurde der Abend dann zunächst mit perfektem Soul von Curtis Harding eingeleitet, bevor es zu einem weiteren, echten Highlight kommen sollte.
Squid begeisterten mit einer Spielfreude, die auf der Hauptbühne manchmal vermisst wurde. Ein wahnsinniger Ritt aus Elektronik, harten Gitarren und dem singenden Drummer Ollie Judges. Bis zum letzten, irrsinnigen Song zieht die Band das Tempo und die Intensität immer weiter bis ins Zeltdach, bis alles in sich zusammenfällt. Magisch.
Verlassen wir nun kurz den kontinuierlichen Ablauf und schauen auf die beiden vermeintlichen Headliner. Anna Calvi und Kae Tempest sind eine sehr gute Wahl. Beide treten nicht zu häufig auf Festivals in Deutschland auf und beide haben ein gutes, neues Album im Gepäck.
Das war es aber dann auch schon an Gemeinsamkeiten. Anna Calvi macht uns den Prince, oder den Hendrix, je nach Song. Sie kniet, liegt und wälzt sich über die Bühne, alles schreit nach riesigen Emotionen und großem Drama. Alleine, es will sich nicht übertragen. So bleibt der kühle Blues, die Einsamkeit und eine Band, die nie aus dem Dauernebel tritt.
Ganz anders bei Kae Tempest. Kae schafft es, die ganze Bandbreite an Emotionen nicht durch Taten, sondern nur durch Worte und unbändige Präsenz zu vermitteln. 75 Minuten peitscht Kae ihre Reime und Songs ins Publikum. Man müsste kein Wort Englisch verstehen, um den Lippen Sekunde um Sekunde zu folgen.
Kae Tempest ist für mich die modernste und beste kunstschaffende Person der aktuellen britischen Musikszene. Das Set beginnt, wie fast immer, mit der aktuellen Platte in voller Länge, danach erst gibt es eine Art „Best of..“ mit älteren Songs.
Trotzdem gibt es gibt keine Brüche in diesem Set. Es ist eine Bestandsaufnahme unserer Zeit, untermalt von harten Bässen und glasklaren Höhen. Und ganz am Ende, kommt dieses Wunder von einem Song, der alle Dämme brechen lässt, wie es damals nur Glen Hansard schaffte: „Peoples faces“.
Die zarte Pflanze Hoffnung ist noch vorhanden, in 5 von 75 Minuten.
Der Feuerball „Sonne“ brennt auch am letzten Tag unerbittlich, doch der Gang ins tropische Spiegelzelt ist ohne Alternative. Chartreuse sind eine live überraschend Gitarren lastige Indieband, die mir letztes Jahr mit ihrem wirklich tollen Song „Woman, I´m crazy“ aufgefallen waren. Genau den spielen sie heute leider nicht. Aber Sängerin Harrriet Wilson sprach von einem baldigen Auftritt in der Pop-Bar in Haldern. Also eine neue Chance diese junge Band nochmal zu erleben.
THUMPER zerlegen im Anschluss erwartungsgemäß das Zelt zu Sperrholz und Black Country, New Road erproben ausschließlich neues Material auf der Hauptbühne.
King Hannah haben vielleicht schon jetzt mein Lieblingsalbum für dieses Jahr veröffentlicht und auch ihr Auftritt hier, ließ mich weiter schwärmen. Ja, es ist klassischer Indierock. Hier wird nichts neu erfunden, aber die Güte der Songs und die natürliche Spielfreude sind einfach beeindruckend.
Und dann war es das auch schon fast wieder, aber Haldern wäre ja nicht Haldern, wenn es nicht bis zum Finale noch spannend wäre.
DJ St. Paul übernimmt mit seinem, immer auch etwas ironischen DJ-Set (danke für den „Pass the Dutchie“-Ohrwurm) den Rausschmeißer auf der Hauptbühne, während sich Großes anbahnt.
Wer noch irgendwie stehen kann, oder wie mein Freund treffend meinte, „noch eine Stunde im Tank hat“, schleppt sich zum letzten Gefecht ins Spiegelzelt, wo unter extrem professionellen Aufbau nicht weniger als die Indie-Sensation des Jahres wartet: Wet Leg spielen zum Tanz.
Es wird ein ekstatisches Finale mit bestens aufgelegten Wet Leg. Der Gig in Köln vor ein paar Wochen konnte mich nicht wirklich begeistern, aber hier und jetzt passt einfach alles. Und so bildet „Chaise Longue“ tatsächlich den Schlusspunkt des Festivals. Was für ein Coup.
Das Haldern Pop hat nach der schon wunderschönen, kleinen Ausgabe im letzten Jahr nun auch in der „echten“ Ausgabe zu alter Form und Stärke zurückgefunden. Das Line-Up war exzellent, die Neuerungen wohl durchdacht und perfekt umgesetzt. Eine Instanz, für die Stillstand keine Option ist.